
Hintergründe und Herausforderungen: Für viele WählerInnen ist unklar, wen sie bei den Bundestagswahlen wählen sollen.
(iz). In Wahlkampfzeiten ist die Neigung der Politik unübersehbar, komplizierte Problemlagen in möglichst simple Lösungsansätze zu übersetzen. Vor den Bundestagswahlen spürt man in der Bevölkerung eine gewisse Verunsicherung über die Frage, welche Partei das überzeugendste Programm anzubieten hat.
Hinzukommt die Zunahme der Geschwindigkeit notwendiger politischer Entscheidungen, angesichts des modernen Taktes der Krisen, drohender Kriege und technologischen Innovationen, sodass die Versprechen der Parteien über ihren langfristigen Kurs im Grunde vage bleiben.
Damit wird die Persönlichkeit der zu wählenden PolitikerInnen scheinbar immer wichtiger, da der Wähler hofft, dass die angepriesenen Charaktere in Notlagen – mit Hilfe ihrer nicht zur Disposition stehenden Experten – schon die richtigen Entscheidungen treffen werden. Nicht zufällig sind große Teile der Wählerschaft unentschieden oder erwägen, gar nicht zu wählen. Vermutlich werden Millionen von ratlosen BürgerInnen ihrem Gefühl folgen und eher spontan ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen.
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Bundestagswahl 2025: nicht nur auf rationaler Grundlage
Dass Wahlen nicht nur auf rationaler Grundlage entschieden werden, ist eine alte Tatsache. Die Dominanz von Parteien in der politischen Entscheidungsfindung ist eine relativ neue Erfindung. In der griechischen Antike, besonders in Athen, war das Losverfahren ein zentrales Element der Demokratie. Es wurde genutzt, um Ämter oder Aufgaben zu vergeben, um zunächst sicherzustellen, dass die Macht nicht in den Händen einer kleinen Elite blieb.
Zum Beispiel wurden viele der Magistrate in Athen durch das Los bestimmt, statt durch Wahl. Das Verfahren sollte gewährleisten, dass alle Bürger die gleiche Chance hatten, öffentliche Ämter zu bekleiden – unabhängig von ihrem sozialen Status oder Einfluss. Das Vertrauen auf den Zufall erklärt sich im Kontext metaphysischer Gewissheiten der Antike.
Tausende Jahre später brüten Hundertschaften von Technikern in aller Welt über die ultimative Vision einer absoluten Vernunft, die dem Menschen mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz ermöglicht seinen Entscheidungen eine berechenbare Grundlage zu geben. Das Problem der Macht einer allwissenden Technik, die dem Wähler in den nächsten Jahren die Qual der Wahl abnehmen könnte, spielt im aktuellen Wahlkampf bezeichnenderweise keine Rolle.
Dabei ist der Kampf zwischen chinesischen und amerikanischen Hightech-Giganten um die effektivsten Angebote der Künstlichen Intelligenz wohl eine der spannendsten Auseinandersetzungen der Menschheitsgeschichte. Wie wir Europäer die gewohnten moralischen und ethischen Standards inmitten der technologischen Revolution bewahren, beantwortet bislang keine Partei überzeugend. Die ungeheure Bedeutung dieser Innovationen in unserer Zeit besteht darin, dass sie – so die allgemeine Einsicht – unabänderliche Fakten schafft, und auf Dauer keine Wahl mehr lässt.
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Grundfragen: Was ist Zivilisation?
Fest steht: Das antike Griechenland ist die Wiege der europäischen Kultur und der Anfang der Geschichte demokratischer Institutionen. Das Phänomen der Zivilgesellschaft, die unser Gemeinwesen entscheidend prägt, hat ebenso alte Wurzeln. David Wengrow erinnert in seinem Buch „Was ist Zivilisation?“, wie sich ursprüngliche Gesellschaften durch Prozesse der freiwilligen Koalition organisieren:
„Zivilisation von unten nach oben und nicht von oben nach unten. (…) Der Begriff bezieht sich auf die Fähigkeit von Gesellschaften, eine moralische Gemeinschaft zu bilden – ein ausgedehntes Feld des Austausches und der Interaktion – trotz Unterschiede in der ethnischen Zuordnung, der Sprache, der Glaubenssysteme oder der territorialen Zugehörigkeit.“ In diesem Sinne lässt sich die politische Frage unserer Zeit gut zusammenfassen: In welcher Art von Zivilisation wollen wir eigentlich leben?
Die Europäische Union ist das Symbol der Überwindung der Nationalismen und Ideologien des 20. Jahrhunderts. Europa sieht sich als vorläufiger Höhepunkt einer politischen Metamorphose, die die Monarchie und Diktatur überwunden hat, stattdessen offene Grenzen, Rechtsstaatlichkeit und die Idee der Menschenwürde manifestiert. Über Jahrzehnte war dieses Europa bei aller Kritik selbstbewusst und ökonomisch erfolgreich, lebte von dem Vertrauen, dass ihr Exporterfolg nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch ideeller Natur ist.
Im 21. Jahrhundert erleben wir eine Wende und begreifen, dass die Idee der Entwicklung der Zivilisation zu einer demokratischen Weltgemeinschaft in weite Ferne gerückt ist. Die neue multipolare Weltordnung, die sich abzeichnet, wird von autoritär geführten Staaten und nicht nur durch Demokratien geprägt.
Zahlreiche Staaten bekennen sich nur noch begrenzt zu universalen Prinzipien, betreiben die Entmachtung des Völkerrechts und berufen sich verstärkt auf das Phantasma ihrer nationalstaatlichen Identität. Damit ist der eigentliche, visionäre Lösungsansatz, der sich in der europäischen Idee verbirgt, in Gefahr: eine Welt der Städte und Regionen, die die Vielfalt der Menschen in ihrer Zeit wieder spiegelt.
Das Bekenntnis der neuen amerikanischen Administration, sich zuerst um ihre eigenen Angelegenheiten und Interessen zu kümmern, findet längst den entsprechenden Widerhall in den europäischen Hauptstädten. Dabei gerät die Idee eines politisch vereinten Europas nicht nur wegen unterschiedlicher Bewertungen des russischen Angriffskrieges im Osten des Kontinents immer mehr unter Druck. Die anstehenden Wahlen sind in dieser Lage von einer grundlegenden Polarisierung geprägt. Zur Wahl steht eine Rückkehr zu nationalen Strategien, statt dem weiteren Ausbau der Europäischen Union.
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Explosives Thema Migration
Unter dem Eindruck der Massenimmigration ist eine Renaissance der Grenzzäune denkbar. Wie sich die Losung „Deutschland zuerst“ mit dem Schicksal einer Exportnation verträgt, deren Geschäftsmodell in einer von Nationalismen geprägten Welt bedroht ist, bleibt eine offene Frage. Absurd ist der Trend, derartige Schicksalsfragen unter dem Eindruck der furchtbaren Verbrechen psychopathischer Einzelgänger zu fällen.
Das Sicherheitsproblem Europas ist weitaus komplexer. Nach Untersuchungen der europäischen Polizeibehörde Europol sind in der EU 821 schwerkriminelle Netzwerke aktiv. Diese Banden mit mehr als 25.000 Mitgliedern sind hochprofessionell und skrupellos. Das Hauptgeschäft ist der Analyse zufolge der Drogenhandel. Wer glaubt schon, dass diese Probleme, Händler und Konsumenten, einfach abgeschoben werden können?
Hinzukommen die bekannten demographischen Tatsachen: Wer heute extrem rechts wählt oder von „Remigration“ träumt, dem bleibt nur ein Leben in Widersprüchen, politische Romantik ohne kulturelle Substanz und die Hoffnung auf eine Roboterwelt, die künftig die Pflege der geburtenstarken Jahrgänge in den Altersheimen übernimmt. Man muss schon ideologisch verwirrt sein, wen man hier Maschinen gegenüber Menschen bevorzugt oder überhaupt die folgenreiche Alterungsprozesse westlicher Gesellschaften ignoriert.
Die innere Zerrissenheit des Wählers und die Unsicherheit über seine Wahlentscheidung erklärt sich aus einer weiteren Konstellation der Moderne: Wie verhält sich das Versprechen der Freiheit mit dem Bedürfnis nach Sicherheit? Fakt ist, dass in den Reaktionsmustern auf die diversen Krisen der letzten Jahrzehnte eine Konstante unübersehbar ist. Wir scheinen gezwungen, die Herausforderungen unserer Zeit mit immer mehr Gesetzen, mehr Kontrolle und mehr Geld zu beantworten.
Was sind die Grenzen des Staates?
Schon Alexander von Humboldt beschäftigte sich im 19, Jahrhundert mit der philosophischen Frage nach den „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“. Der Gelehrte war damals überzeugt, dass der Staat sich möglichst wenig in die Belange der Zivilgesellschaft, zu der insbesondere die sittliche Bildung der Bevölkerung gehörte, einmischen sollte.
In der modernen Bundesrepublik weitet sich der staatliche Einfluss auf die Meinungsbildung, Kultur, Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften oder die Familienpolitik dynamisch aus. Für die Wähler stellt sich hier eine wichtige Frage: Vertrauen sie auf Parteien, die mehr oder weniger Staat propagieren? Diese Diskussion wurde vor einigen Jahrzehnten mit populistischen Schlagworten begleitet, die aber bis heute nachklingen: Freiheit oder Sozialismus, Markt- oder Planwirtschaft.
Hier schließt sich die andere fundamentale Frage an. Welches Parteiprogramm sichert unseren Wohlstand und etabliert gleichzeitig ökonomische Gerechtigkeit? Es ist interessant, dass keine Partei es für nötig hält, eine der wichtigsten Herausforderungen der Zukunft klar zu beantworten: Wie bewältigen wir die gigantischen Schuldenberge und die daraus folgenden Zinsbelastungen? Naiv klingen heute Slogans wie „die Rente ist sicher“ oder die romantische Vorstellung einer „harten Währung“.
Das Problem rund um die wundersame Geldvermehrung in der Moderne wird eher durch Philosophen wie Peter Sloterdijk benannt. In einem Interview mit FR-Online beschreibt er das Phänomen: „Durch den Zins wurde es mit der Zukunft ernst. Früher glaubte man an das Jüngste Gericht, jetzt haben wir die Zahlungsfrist. Wenn das moderne Leben so stark auf Zukunft hin akzentuiert wird, hat das vor allem damit zu tun, dass der Zinsdruck direkt und indirekt die Lebensgefühle der modernen Welt verändert.“
Unterhalb der philosophischen Abstraktion, die das Wesen unserer Geldwirtschaft benennt, finden sich in den Wahlprogrammen unter den Stichworten Schuldenbremse und Steuerpolitik programmatische Unterschiede. Der Bürger kann sich hier zum Beispiel entscheiden, ob er politische Strategien unterstützt, die Steuern entweder senken oder erhöhen wollen. Verführerisch ist der Gedanke von Parteien, die Staatsausgaben auszuweiten und ihre Wähler auf Kosten von neuen Schulden zum Preis der indirekten Besteuerung durch die Geldentwertung zu beglücken.
Relevant ist die Sorge um die Motivation der Stützen der Gesellschaft, dem Mittelstand, den Erfindern, den Leistungsträgern, die durch Inflation und steigende Steuerlasten immer stärker belastet werden. Die höhere Abgabenlast für Milliardenvermögen, die sich – im Gegensatz zu den Flüchtlingsströmen, recht frei in der modernen Welt bewegen – ist ein anderes Anliegen, das dem Wähler in diesem Fall linke Parteien wählbar erscheinen lassen.
Zweifellos stehen wir als Gesellschaft vor ökonomischen Verteilungskämpfen, die die Politik mit unterschiedlichen Schwerpunkten begegnen. Die Folgen der Klimakrise, die langfristige Finanzierung der Ukraine, der Ausbau der Bundeswehr, die sozialen Kosten der Immigration sind nur einige Posten der offenen Rechnungen der Zukunft. Die Folgen, die anstehenden Umverteilungen, die eventuell auch eine Verarmung von Bevölkerungsteilen in Deutschland mit einschließt, verläuft parallel zu der Entscheidung über die zivilisatorische Idee des Gemeinwesens.
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Wie eine gespaltene Gesellschaft zusammenhalten?
Wie unsere gespaltene Gesellschaft, die von staatlichen Leistungen zusammengehalten wird, sich in einer ernsten ökonomischen Krise weiter entwickelt, ist ein Grund tiefer Sorgen. Hier bewegen wir uns im Dualismus von Angst und Zuversicht. „Es gibt Hoffnungen, die erscheinen verrückt; aber sie sind es nicht. Diese verrückten Hoffnungen sind nämlich oft gerade diejenigen Hoffnungen, die helfen, nicht verrückt zu werden“, schreibt Heribert Prantl in einem aktuellen Buch. Was hier gemeint ist: Für eine Zukunft in unserem Land braucht es nicht nur ein materielles, sondern ebenso ein geistiges Konzept.
Wenn wir in Deutschland dieser Wahl eher ratlos gegenüber stehen, ist dies keine große Überraschung. In allen Parteiprogrammen finden sich durchaus Aspekte, die wir mit Überzeugung unterstützen. Eine konstruktive Beschreibung der Rolle von Muslimen in der Gesellschaft sucht man dagegen vergeblich.
Es gibt keine ideale politische Repräsentation, die unsere liberal-konservativen, freiheitlichen und solidarischen Erwartungen vollständig erfüllt. Idealismus darf nicht, so groß die Unzufriedenheit sein mag, den Blick auf die realen Gefahren verstellen.
Wie viele MitbürgerInnen wollen wir mit unserer Wahl im Februar vor allem das Schlimmste verhindern: den Erfolg einer Ideologie, die auf die Einheit von Volk, Territorium und Ethnie setzt. Minderheiten in der Republik sind gut beraten, nur auf Parteien zu setzen, die – in von Hysterie befallenen Zeiten – die Grenzen der Verfassung klar akzeptieren.
Seneca formuliert in seinen moralischen Briefen einen zeitlosen Rat: „Gelassenheit können nur jene erreichen, die ein unerschütterliches und klares Urteilsvermögen haben – der Rest hadert ständig mit seinen Entscheidungen, schwankt hin und her zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Woher kommt dieses Für und Wider? Es rührt daher, dass nichts klar ist und sie sich auf den unsichersten Ratgeber verlassen: die öffentliche Meinung.“