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Die Rechtsschulen in der Moderne (4)

Ausgabe 320

Foto: Library of Congress | Lizenz: Public Domain

(iz). Wir kommen jetzt zum letzten der vier Imame, nach denen die gleichnamigen Maddhahib benannt wurden: Imam Ahmad ibn Hanbal. Es gibt eine erkennbare Differenz zwischen ihm und den anderen. Die drei vorherigen standen alle für eine jeweilige Methodenlehre. Von diesem Lehrer kann nicht gesagt werden, er habe im Fiqh eine spezifische Methodologie entwickelt.

Der große Historiker des Islam, At-Tabari, bezog seine Madhhab nicht einmal ein, als er die frühen Juristen behandelte. Er sagte: „Er war ein Mann der Hadithe, nicht des Fiqh.“ In seinem großen Buch „Tartib Al-Madarik“ schrieb Qadi ‘Ijad: „Er war weniger ein Mann des Fiqh, obwohl er brillant in der Untersuchung seiner Quellen war.“ Es gab weitere bekannte ‘Ulama, die Imam Ahmad nicht als Begründer einer Rechtsschule betrachteten.

Tatsächlich wurde Ibn Hanbal nach seinem Tod zu einem Imam im Recht. Das lag an seinen Schülern, die Aussagen, Fatwas und Meinungen von ihm sammelten und daraus einen rechtlichen Korpus bildeten, der ihm posthum zugeschrieben wurde. Manchmal unterschieden sich die Überlieferungen von Imam Ahmed erheblich und gelegentlich stimmten sie überein. Wir werden diese Ambivalenz seines Status als Jurist besser begreifen, wenn wir auf sein Leben schauen und darauf, wie er im Verlauf studierte und lehrte.

Ibn Hanbal wurde 164 nach der Hidschra (n. H.) in Bagdad während des Monats Rabi’ Al-Awwal geboren. Er kam eine halbe Generation nach Asch-Schafi’i zur Welt, was ihn chronologisch zum letzten der vier Imame macht. Dieser Zeitpunkt und sein Geburtsort haben eine erhebliche Auswirkung auf den Verlauf seines Lebens und seiner Studien. Im Augenblick seiner Geburt und seines Aufwachsens war das ‚abbasidische Kalifat fest konstituiert. Die Stadt war damals eine wirklich imperiale Hauptstadt.

Diese Welt war weit entfernt vom Umfeld Medinas, wo Islam ursprünglich etabliert war. In seiner Zeit dominierten persische Elemente die arabischen. Die Verfeinerung dieser Zivilisation stieg allgemein in weiten Teilen der muslimischen Welt auf. Die Städte des Islam waren angefüllt mit verschiedenen Völkern und Ethnien. Unzählige Texte wurden aus dem Persischen, Syrischen, Griechischen und weiteren Sprachen ins Arabische übersetzt.

Dies hatte zur Folge, dass das überwiegend homogene kulturelle Umfeld des frühen Islam zersplittert war, da all diese unterschiedlichen Einflüsse Teil der muslimischen Welt wurden. Hinzukommen die Widersprüche der früheren religiösen Traditionen zusammen mit ihren Anhängern, Islam in Hinblick auf ihre eigenen Weltanschauungen zu prägen. Die Folge war eine religiöse und materielle Umwelt, die für die ersten Generationen der Muslime nicht wiederzuerkennen war.

All das begegnete dem Imam, als er in der ‘abbasidischen Hauptstadt aufwuchs. Als reinherziger, kluger und tief religiöser Jugendlicher stand er vor der Herausforderung, wie er in dieser verfeinerten Abweichung etwas von dem Licht, der Reinheit und Einfachheit der formativen Jahre des frühen Islam bewahren konnte.

Die Art und Weise, wie er dieses Ziel erreichen konnte, wurde bereits im Zitat von At-Tabari angedeutet: Ibn Hanbal wurde ein Hadithgelehrter (arab. muhaddith). Um ein möglichst vollständiges und detailgetreues Bild vom Leben der ersten Gemeinschaft zu bekommen, widmete sich der Imam der Sammlung einer größtmöglichen Anzahl an Berichten aus dieser Zeit. Hier ging es nicht nur um jene vom Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sondern auch um die von seinen Gefährten.

Vom frühesten Anfang seines Lebens suchte Imam Ahmad die Männer der Hadithe sowie ihre Methode. Diesen widmete er sich in einem Ausmaß, dass es so aussah, als hätte er ihren Pfad gewählt und nicht den jener, die Überlieferungen mit Fiqh kombinierten. Auf seiner Suche nach Hadithen reiste Ibn Hanbal extensiv durch das Herzland des Islam. Er könnte derjenige Muhaddith gewesen sein, der Überlieferungen aus jeder Ecke der muslimischen Welt sammelte und aufzeichnete.

Eine andere Sache, die ihn auszeichnete, war sein Gebrauch der Feder zur Kompilation von Hadithen. Trotz seines bekanntermaßen gewaltigen Gedächtnisses schrieb Imam Ahmad jeden Bericht auf. Das Endergebnis seiner Aufzeichnungen, die er 16-jährig begann und durch den Großteil seines Lebens anhielt, was sein großartiges „Musnad“, in dem beinahe 30.000 Hadithe festgehalten sind.

Ein weiterer Grund, warum Imam Ahmad ibn Hanbal zum Begründer einer neuen juristischen Schule gemacht wurde, war möglicherweise sein absolut vorbildlicher Charakter, der viele inspirierte, ihn schon zu Lebzeiten als Vorbild zu nehmen. Es besteht kein Zweifel, dass alle vier in ihrem persönlichen Verhalten tadellos waren und sie überragende Eigenschaften hatten, die sie unter ihren Zeitgenossen auszeichneten.

Imam Ahmad jedoch hatte einen Ruf der Heiligkeit, die alle überragte. Von frühester Jugend an war er bekannt für seine unbestechliche Ernsthaftigkeit. Später wurde sie auf schwerwiegende Prüfungen gestellt, als er – im Gegensatz zur Mehrheit seiner Zeitgenossen – mehr als zwei Jahren der Einkerkerung und anhaltender schwerer Schläge unterzogen wurde. Ibn Hanbal weigerte sich, die rationalistischen mu’tazilitischen Doktrin von der Erschaffenheit zu übernehmen, die zur offiziellen ‘abbasidischen Regierungspolitik gemacht wurde und die eindeutig im Widerspruch zur Position der frühen Muslime stand. Dieses Ereignis dokumentiert seine Standhaftigkeit und Geduld, die ihn durch weitere schwierige, sein Leben begleitende Momente führte. All dies sowie sein Status als ein Mann des Wissens bedeutete, dass bei seinem Tode am 12. Rabi’ Al-Awwal 241 n.H. mehr als 300.000 Menschen an seinem Begräbniszug teilnahmen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass es seit der frühen Zeit nach seinem Tode Diskussionen darüber gab, ob Imam Ahmad wirklich als ein Begründer einer separaten Madhhab gelten kann. Es ist sicher klar, dass er sich von den anderen drei unterschied, die alle recht spezifische Methoden bei der Umsetzung vom Buch und der Sunna vertraten.

Ibn Hanbal war definitiv einzigartig in Hinblick auf Zeit und Ort, wo er lebte und entschlossen seiner Wege zog, die so eng wir möglich an jenen angelehnt waren, die von der ersten Gemeinschaft in Medina beschritten wurden. Der Imam blieb in seinen Ansichten durchgehend traditionell, während er gleichzeitig in gewisser Weise im Widerspruch zu dem ihn umgebenden Ethos stand. Dies ist bedeutsam, wenn man bedenkt, dass einige derjenigen, die ihn später als Imam im Fiqh annahmen, Menschen waren, die mit den Autoritäten ihrer eigenen Zeit im Streit lagen. Sie fanden in ihm einen Weg, fest innerhalb der Grenzen des traditionellen muslimischen Glaubens und der Praxis zu bleiben und sich gleichzeitig von der Machtstruktur ihrer Zeit abzugrenzen.

Er selbst sagte: „Ein Mann sollte niemals ein unabhängiges Urteil über den Din fällen, bis er fünf Eigenschaften besitzt: Er muss eine klare Absicht haben, ohne wird er kein Licht haben. Er braucht Wissen, Nachsicht, Schwere und Ruhe. Er muss fest in seinen Kenntnissen wurzeln. Er muss unabhängig sein und darf nicht von anderen Leuten abhängen. Und er muss unter den Leuten bekannt sein.“ Es gibt wenige Leute in der Geschichte des Islam, welche diese Kriterien in dem Ausmaße erfüllte, wie es Imam Ahmad tat.

Was also mit Sicherheit gesagt werden kann: Ibn Hanbal war ein Mudschtahid des allerhöchsten Ranges. Absolut in der Lage, unabhängige Urteile in Sachen des Dins zu fällen. Das alleine macht ihn nicht automatisch zum Gründer einer unabhängigen Rechtsschule. Wenn er einer war, dann gewiss auf sehr andere Weise als seine drei herausragenden Vorläufer.

Wenn wir Imam Ahmads Werk in diesem Licht betrachten – als einen heroischen Versuch, sowohl für sich selbst als auch für seine Zeitgenossen das Ethos eines zu seiner Zeit vergangenen Zeitalters wiederzuerlangen –, bleiben uns drei verschiedene Methoden, die alle auf ihre Weise abzielen, das Buch und die Sunna zu erfassen, zu definieren und an die folgenden Generationen weiterzugeben.