(iz). Vor mehr als 26 Jahren beendete das Abkommen von Dayton den genozidalen Krieg in Bosnien, in dem unzählige bosniakische Muslime von serbischen (und in geringerem Maße auch kroatischen) Soldaten ermordet, verstümmelt und vertrieben wurden.
Jetzt, nach mehr als einem Vierteljahrhundert, ist der blutige Nationalismus erneut gefährlich laut. Ein erster Schritt ist der faktische Rückzug der Entität „Serbische Republik“ aus dem Staatsgefüge des Landes. Hilfe fand Serbenführer Dodik nicht nur in Belgrad, sondern auch in Ungarn und vor allem in Moskau. Bisher gab es kaum nennenswerte Reaktion der USA oder der EU.
Wir sprachen darüber mit dem bosnischen Journalisten und Beobachter Dr. Harun Karčić. Er sieht den Westen schlecht vorbereitet und macht sich von Ländern wie der Türkei oder der „muslimischen Welt“ nicht viel Hoffnung. Der Journalist und Fachmann ist Redakteur und Moderator einer außenpolitischen Sendung auf dem Balkan-Kanal von Al Jazeera. In den letzten zehn Jahren hat er zahlreiche Artikel über den Islam im postkommunistischen Bosnien und Herzegowina und die Rolle ausländischer Mächte in der Region, darunter Saudi-Arabien, Iran, die Türkei und in jüngster Zeit China und Russland, verfasst.
Islamische Zeitung: Lieber Harun Karčić, Milorad Dodik, politischer Führer der Republika Srpska, kündigte vor Kurzem den Rückzug seiner Entität aus der verfassungsmäßigen Ordnung von Bosnien und Herzegowina an. Neue, proserbische Gesetze sollen binnen von sechs Monaten beschlossen werden. Was war der weitere Hintergrund für diesen Schritt?
Harun Karčić: Milorad Dodik sprach seit Jahren von seinem Verlangen, dieses serbische Gebilde aus Bosnien und Herzegowina herauszulösen und dem benachbarten Serbien anzuschließen. Tatsächlich ist das ein alter Plan, den Radovan Karadžić und Ratko Mladić zuerst in den frühen 1990ern formulierten. Für was er sich hier ausspricht, ist also im Wesentlichen eine Fortsetzung dieses Vorhabens.
Die Idee ist simpel: Alle Nicht-Serben, die im östlichen und nördlichen Bosnien leben, sollen getötet oder vertrieben werden, um dann die Unabhängigkeit und einen Anschluss an Serbien zu verkünden. Der erste Schritt wurde erreicht, jetzt sollen die nächsten folgen. All das geschieht zu einem sehr schwierigen Zeitpunkt: EU und USA sind mit Russlands möglichem Einmarsch in die Ukraine beschäftigt, in Europa nimmt Islamfeindlichkeit zu, rechtsextreme Parteien finden mehr Zulauf, die muslimische Welt ist in Unordnung und die Türkei – die einzige wirkliche Regionalmacht – steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Im Inneren sind die bosniakischen Muslime gespaltener wie nie zuvor.
Islamische Zeitung: Den allermeisten außerhalb Bosniens dürfte nicht bewusst sein, was diese „Entität“ ist. Worum geht es hier eigentlich?
Harun Karčić: Damals, im Jahre 1991, beschlossen die bosnischen Serben, dass sie nicht mit ihren bosniakisch-muslimischen und kroatisch-katholischen Nachbarn zusammenleben wollen. Also bildeten sie eigene serbisch-autonome Regionen, die sich 1992 zur Republika Srpska vereinten.
Sie töteten und vertrieben beinahe alle Bosniaken und Kroaten auf ihrem Gebiet, das im Rahmen des Dayton-Vertrags 49 Prozent der Gesamtfläche erhielt. Die andere Entität heißt Föderation Bosnien und Herzegowina, wo Bosniaken und Kroaten konzentriert sind und 51 Prozent stellen. Die bosnischen Serben haben ein hohes Maß an Autonomie – ein eigenes Parlament und Regierung, Rechtssprechung und Polizeikräfte.
Die Föderation ihrerseits ist in zehn Kantone nach Schweizer Vorbild zersplittert – jedes mit eigenem, hohen Grad an Autonomie. Es gibt eine Zentralregierung, die ist jedoch schwach und durch die Vetos aller drei ethnischen Gruppen gelähmt. Das war gleichwohl die einzige Kompromisslösung, die sich in Dayton finden ließ.
Islamische Zeitung: Lieber Harun Karčić, also ist die gegenwärtige Ordnung das Ergebnis dieses Vertrages von 1995. Ist die erneute Eskalation der serbischen Seite innewohnender Bestandteil im Aufbau des jetzigen Staates selbst?
Harun Karčić: Bosniakische Muslime oder die auf dem Balkan insgesamt werden von ihren christlichen Nachbarn als die sichtbaren Überreste der stark verhassten Osmanen gesehen. Was 1992 bis 1995 in Bosnien geschah, unterschied sich nicht von vorherigen Verbrechen und Vertreibungen von Muslimen in Serbien, Montenegro, Bulgarien oder Griechenland im Laufe der letzten 150 Jahre. Jede politische Unordnung oder Sicherheitskrise im Europa der letzten 150-200 Jahre wurde als Vorwand zur Lösung der „östlichen Frage“ genutzt; mit anderen Worten, ein Vorwand, um die Reste der Muslime auf dem Balkan zu vertreiben.
Islamische Zeitung: Lieber Harun Karčić, die Menschen in Bosnien und Herzegowina sind als erste durch eine solche nationalistische Radikalisierung betroffen. Wie nehmen sie das Säbelrasseln der Serben wahr?
Harun Karčić: Selbst nach dem letzten Krieg gab es bei bosnischen Muslimen keine Racheakte gegen ihre serbischen Nachbarn. Dieser Punkt ist bemerkenswert. Ihr ganzes Vertrauen galt der internationalen Gemeinschaft und dem Strafgerichtshof für Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien (Den Haag). Dieser verurteilte eine Reihe hochprofilierter serbischer Politiker und Kommandeure zu langen Gefängnisstrafen für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Serbische und kroatische Nationalisten sowie böswillige Journalisten im Westen haben oft den Schluss gezogen, dass die relativ kleine Anzahl bosnischer Muslime, welche sich dem Salafismus angeschlossen haben, ein Zeichen von Radikalisierung sei. Das ist nicht wahr. Religiöse Wiedererweckung im ehemals kommunistischen Balkan sowie transnationale religiöse Trends sind verbunden mit den neu erfahrenen religiösen Freiheiten und nicht mit dem Krieg. Eine kleine Zahl mag radikalisiert sein. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass viele Genozidüberlebende aus Srebrenica, von denen ich einige kenne, Trost im Alkohol gefunden haben.
Islamische Zeitung: Es gab vereinzelte Reaktion von individuellen Politikern in den USA und der EU. Tun das Ausland und multinationale Organisationen genug, um ein Ansteigen von Spannungen zu unterbinden?
Harun Karčić: Nein, wir sind im Wesentlichen auf uns gestellt. Für die EU sind wir zu muslimisch und für die muslimische Welt zu europäisch. Die Welt befindet sich in einer sehr angespannten Situation. Die EU und die USA machen sich mehr Sorgen über die Haltung Russlands gegenüber der Ukraine und darüber, wie sie das breitere NATO-Bündnis bedrohen könnte. Die EU hatte noch nie die Kraft, mit einer Stimme zu sprechen. Also können sie höchstens Erklärungen abgeben, die niemand liest. Hinzu kommt, dass der rechtsextreme Nationalismus in der EU zunimmt, sodass es sogar Länder wie Ungarn gibt, die serbische Sezessionisten unterstützen.
Das einzige Medium, dass bosniakische Muslime hörbar unterstützt und das die Lage gründlich versteht, ist die israelische „Haaretz“. Die Türkei befindet sich in einer ökonomischen Krise und ist nicht sonderlich an Bosnien interessiert. Die arabischen Staaten befinden sich im Chaos des arabischen Nach-Frühlings, Asiens mehrheitlich muslimische Länder verfolgen die Lage nicht. Wahrscheinlich werden sie Spenden für bosnische Muslime sammeln, wenn sie im Fernsehen sehen, wie wir abgeschlachtet werden.
Islamische Zeitung: Nachbarländer wie Ungarn – und allen voran Russland – unterstützen die serbischen Aktionen oder helfen mit. Was sind die Interessen solcher Akteure?
Harun Karčić: Russland will nicht, dass Bosnien NATO-Mitglied wird. Deshalb wäre es ihnen lieber, wenn Bosnien zerfiele oder ein eingefrorener Konflikt bliebe. Die dortigen Muslime sind im Vergleich zu Serben und Kroaten am eifrigsten bemüht, der NATO und der EU beizutreten. Moskau hat ebenso traditionell orthodox-christliche Bindungen mit Serben. Ungarn ist ebenfalls ein – neues – Bündnis mit ihnen eingegangen: Beide sind islamfeindlich und rechtsextrem. Sie sehen sich auf Augenhöhe, wenn es um europäische Muslime geht. Es ist ein großer Erfolg für Milorad Dodik, wenn er einen Verbündeten in der EU und der NATO hat.
Islamische Zeitung: Einer unserer bosniakischen AutorInnen sagte kürzlich, dass junge Bosniaken, Kroaten und auch Serben vor denselben Herausforderungen und Problemen wie Jugendarbeitslosigkeit oder Chancenlosigkeit stehen. Kann sich die neue Generation noch für die national-rassistische Rhetorik eines Milorad Dodik begeistern?
Harun Karčić: Arbeitslosigkeit und Korruption sind Probleme, vor denen alle drei ethnischen Gruppen stehen. Jedoch sind serbischer und kroatischer Nationalismus sowie ihr Hass auf bosniakische Muslime ein übergeordneter Aspekt. Die jüngere Generation der serbischen und kroatischen Nationalisten unterscheiden sich nicht von den alten; vielleicht sind sie sogar schlimmer. Sie wuchsen mit parallelen Erzählungen über den Krieg 1992-95 auf und hassen Muslime mehr als ihre Eltern. Sie sind Genozidleugner und sehr islamfeindlich. Ausnahmen sind selten. Ich kenne nur eine Handvoll, die offen zugeben, dass bosnisch-serbische Kräfte Völkermord an bosniakischen Muslimen begannen.
In Sachen der Muslime auf dem Balkan bin ich alles andere als optimistisch. Das erinnert alles sehr an die letzten Jahre von Granada.
Islamische Zeitung: Lieber Harun Karčić, wir bedanken uns recht herzlich für das Interview.