Ein Buch über Syrien, wie wir es jetzt brauchen: Rupert Neudeck bespricht das neue Buch von Kristin Helberg

(iz). Das ist das Buch über Syrien, das wir jetzt brauchen. Es ist nicht das Buch einer wissenschaftlichen Expertin. Die sagen uns ja voraus, wie Syrien aussehen wird, wenn Diktator Bashar Al Assad gestürzt wird. Es ist auch nicht das Buch eines Aktualitäts-Journalisten, der sich für ein paar Tage auf dem Weg nach Aleppo oder Damaskus in den Schutz der FSA, der Freien Syrischen Armee, begeben hat.

Es ist das Buch einer Frau, die als freie Journalistin sieben Jahre in diesem Syrien gelebt hat – als erste und lange Zeit einzige akkreditierte westliche Korrespondentin überhaupt. Sie beschreibt farbig, aber nie wehleidig die nicht immer einfachen Arbeitsbedingungen. Sie hat sich als Journalistin, als westliche Ausländerin und als Frau durchsetzen müssen in dem – neben der DDR und Nordkorea – wohl Geheimdienst-verseuchtesten Land der Welt.

Ihr Urteil ist nie ideologisch. Sie bleibt auf dem Boden der syrischen Realität. Sie wird den Menschen in Syrien gerecht, die sie auch ins Herz geschlossen hat. Der Leser spürt das von Seite zu Seite. Sie lebt in Empathie mit dem Volk, das sie jetzt seit dem 17. März 2011 auf so offene Weise leiden sieht.

Kristin Helberg nennt die fünf Chancen, die Bashar Al Assad gehabt hätte, um sich an die Spitze einer demokratischen Reformbewegung zu stellen. Sie beschreibt den syrischen Präsidenten als einen, der sich „nicht für die erste Reihe eignet. Im Vergleich zu anderen Ex-Potentaten der arabischen Welt wirkt sein Auftreten zurückhaltend, fast schüchtern und unsicher.“ Ihm seien selbstgefällige Gesten ebenso fremd wie die inszenierte Selbstverherrlichung eines Muammar Gaddafi. Die Fußstapfen, die ihm sein Vater Hafiz Al Assad hinterließ, erwiesen sich als zu groß. Helberg berichtet über die Dynastie der Assads, der Macht-geniale Vater hatte seinen ältesten Sohn Basel zum Nachfolger ausgeguckt. Basel starb jedoch 1994 bei einem Verkehrsunfall, so dass Bashar Al Assad, damals gerade zur Spezialisierung als Augenarzt in London, in eine Rolle schlüpfen musste, die ihm nicht lag.

„Ich muss gestehen, dass ich Bashar einen solch blutigen Machtkampf nicht zugetraut hätte“, schreibt Helberg. Sie fragt sich: Weiß der 47-jährige, was in seinem Land geschieht? Weiß er, dass die Shabiha Milizionäre Frauen vergewaltigen, Kleinkinder erstechen und ihre Gefangenen so lange foltern, bis sie Bashar als ihren GOTT anerkennen? Und, fragt die Autorin sich, hat Assad sich in seinem Kartenhaus aus Propaganda, Lüge und Panikmache so eingeschlossen, dass er sich nicht mehr klarmacht, dass er für sein Volk eine Verantwortung trägt, für die er auch mal zur Rechenschaft gezogen werden kann?

Die Autorin hat die Fähigkeit, uns Rituale und Lebensformen der syrischen Gesellschaft zu übersetzen. Diese Menschen leben ihren Islam, sie halten sich nicht nur steuer- bzw. Zakat-zahlend ‚irgendwie’ für Muslime. „Der Islam ist für Syrien selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens“, formuliert Helberg und fügt hinzu „wie das Christentum für die Christen“. Für westliche Ohren mag jedes „Allahu akbar“ bedrohlich klingen. Aber, fügt sie hinzu und trifft damit den Nagel auf den Kopf, sie wisse, dass „Allahu akbar – Gott ist größer“ alles Mögliche ausdrücken kann: „Angesichts von Gewalt und Zerstörung lässt es sich mit „Oh mein Gott“ (in Bayern) oder „Ach du Schreck“ (in Berlin) übersetzen. Bei Demonstrationen und im Kampf bedeutet es: „‘Wir schaffen das schon’, ‘Keine Angst, wir sind nicht allein‘. In den allermeisten Fällen bedeutet es jedenfalls nicht das, was Europäer heraushören, nämlich dass hier jemand einen Gottesstaat errichten und Andersgläubige verfolgen will.“

Kristin Helberg schildert uns die Opposition oder die revolutionäre Bewegung gut und ist dabei gerecht. Wir haben ja vergessen, dass sich in einem von 15 Geheimdiensten durchwirkten Land eine Opposition nur schlecht aufbauen kann. Angst herrscht überall, bis hier ins deutsche Exil, wo ebenfalls Assads Geheimagenten vermutet werden. Das Regime ist unglaublich brutal mit den Oppositionellen umgesprungen. Die Autorin stellt uns den Kommunisten Fariz Murad vor, der 29 Jahre in syrischen Gefängnissen verlor, zwei Jahre mehr als Nelson Mandela. 16 Jahre davon im Gefängnis von Palmyra, einem berüchtigten Foltergefängnis im der syrischen Wüste. Über Jahre war Murad dort in einer dunklen Kammer eingesperrt, 24 Stunden Dauerfolter. Er wird den Sieg der Revolution nicht mehr erleben, er starb am 9. März 2009 an den gesundheitlichen Folgen der Folter. Deshalb muss der Westen anerkennen, wenn es jetzt überhaupt eine Opposition gibt, die die ersten Monate versuchte, den Sturz des Regimes ohne Waffen heroisch herbeizuführen.

Die Autorin unterscheidet drei oppositionelle Strömungen. Die von jungen Aktivisten getragene Protestbewegung, die links-säkularen Kritiker innerhalb Syriens und die langjährigen Exil-Syrer plus denen, die in den letzten Monaten fliehen mussten. Am 18. September 2011 wird das links-säkular-nationalistische „Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel“ gegründet. Seine Mitglieder lehnen jede Intervention aus dem Ausland ab, sie wollen den Wechsel von innen schaffen. Auch in Verhandlungen mit Assad. Sie verlangen ein Ende der irrsinnigen Gewalt der Armee und der Polizei gegen die Bevölkerung. Darunter auch der Alawit und Wirtschaftsexperte Aref Dalila. Dalila spielte im Damaszener Frühling eine führende Rolle und wurde zu zehn Jahren Gefängnishaft verurteilt. Doch macht Bashar Al Assad diese Opposition unmöglich: Die Brutalität, mit der das Regime verhaftet, verfolgt und tötet, lässt das Koordinierungskomitee zum Papiertiger werden.

Es gibt die Exil-Opposition, die sich erstmals Anfang Juni 2011 im Urlaubsort deutscher Touristen trifft, Antalya. Helberg: „Viele haben sich noch nie gesehen. Kommunisten diskutieren mit Muslimbrüdern, Kurden mit arabischen Nationalisten, 20-jährige Aktivisten mit 70-jährigen Politikern.“ Wie soll sich bei der permanenten Anwesenheit der gut bezahlten Agenten von Assad der Aufstand organisieren? Die Türkei bietet kein gutes Feld, aber im Vergleich zu Jordanien, Irak und Libanon bleibt es das beste. Alle haben Angst, dass sich die Gruppen nach dem Sturz gegeneinander bekämpfen. Die Sunniten mit Unterstützung aus Saudi Arabien gegen die Alawiten, die die letzte Prätorianergarde des Regimes sind. Die Kurden, die zu Zehntausenden ihre Autonomie wollen, die Christen, die zu Recht Angst haben, weil sie sich zum Teil zu eng mit Bashar Al Assad liiert haben.

Ein besonderes Kapitel bilden die Besuche der Autorin auf der syrischen Seite der Golan-Höhen. Helberg erlebt dort das, was wir bei dem schwärenden Problem Palästina auch immer wieder mit Bewunderung feststellen. Eigentlich, bei rational-ökonomischem Kalkül, müssten die Palästinenser und die Syrer schon längst aufgegeben haben, dort leben zu wollen. Dass Menschen in den besetzten Gebieten noch überleben, verdankt sich ihrem Patriotismus, den wir als Deutsche auch mal anerkennen sollten. Sie schildert, wie Israel Syrer aus den besetzten Gebieten zwar jahrelang nach Damaskus zum Studium reisen lässt – sie aber nach dem Universitätsabschluss nur einmal, und zwar auf „ewig“, zurückkommen lässt. Dabei erlebt die Autorin erschütternde Szenen, wenn sie dann diesen endgültigen Schritt tun. Aber so sind die Palästinenser und die Araber, da bringen sie dann einen unbändigen Willen auf. Es gibt auf dem Golan seit 1967 eine nichtsnutzige UNO-Mission, die UNDOF, die sich selbst als Militär-Ohnmacht mit den beiden Worten „looking and cooking“ beschreibt. Sie kann nichts tun, sie darf den festbetonierten Status nicht in Frage stellen. Israel hat, wie uns die Memoiren von Madeleine Albright belehren, nichts von der Ehre und Würde arabischer Ländern und Narrative verstanden. Man gibt etwas ganz zurück, was einem nicht gehört und feilscht nicht daran herum. Das war es, was in den Verhandlungen mit dem Vater Hafiz Al Assad geschah, woraufhin der den Bettel hinschmiss, und sich nach Damaskus zurückzog.

Die so genannten „student crossings“ finden zweimal im Jahr statt, sie werden vom IKRK organisiert und von der UNDOF überwacht. Der 28jährige Ahmad hat während seines Studiums einmal im Jahr die Grenzkontrollen zum Besuch seiner Familie im Sommer erlebt, jetzt nach dem Studium ist es ein Weg ohne jede weitere Rückkehr nach Syrien, schreibt Helberg. „Sein Studium ist abgeschlossen, er hat aus Sicht der israelischen Behörden keinen ausreichenden Grund mehr, in Zukunft nach Syrien zu kommen.“

Bei dieser menschlichen, allzu menschlichen Szene wird immer deutlich, wie Israel den Frieden und seine Zukunft verspielt, die man nur m i t den Nachbarn gewinnen kann. Bei dem Grenzcrossing im Frühjahr 2004 klammert sich Feisa, eine junge schlanke Frau, an ihre Freundin Salam. Die beiden haben jahrelang in Damaskus zusammen gewohnt, ihre Gesichter sind tränenüberströmt. Ahmad löst seine Kommilitonin behutsam aus der Umarmung und zieht sie mit sich in Richtung des gelben Eisentors. „Nach etwa 50 Metern dreht sich Feisa plötzlich um und kommt zurückgerannt. Bitterlich weinend fällt sie Salam um den Hals. Die Körper der beiden zucken unter Tränen, zwischen ihnen der rot-weiße Schlagbaum. Seit Jahrzehnten spielen sich hier die gleichen Szenen ab, so lange der Krieg nicht endet, gehen auch die menschlichen Tragödien weiter.“

Das Buch vermittelt einen umfassenden Einblick in die Strukturen eines Landes, das nur noch – so die aktuelle Überzeugung der Autorin – ohne die Geheimdienstdiktatur und Bashar Al Assad eine große Zukunft haben wird.

Kristin Helberg: Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land. Herder Verlag Freiburg 2012