
(iz). Aus der anfänglichen Verwunderung über das Urteil der Richter am Kölner Landgericht [über einen Beschneidungsfall] wurde im Laufe von Wochen Entsetzen, weil sich eine Diskussion entwickelte, in der die Beziehungen der einzelnen Grund- und Menschenrechte einseitig interpretiert wurden. Der Tenor war und ist: Religionsfreiheit ist zu befürworten, wenn sie nicht anderen Freiheiten im Wege steht. Dabei verstand und versteht man unter Religion nur die Form, die sich im Verlauf der europäischen Geschichte herausgebildet hat, ohne auf die Zweifel am Begriff der „Religion“, wie sie schon in den Religionswissenschaften seit vielen Jahren diskutiert werden, einzugehen.
Für zumindest Westeuropäer war Religion stets mit der Kirche und ihrer Theologie verbunden. Im Zuge der Vervielfältigung der Kirchen seit der Reformation stand der so genannte Wahrheitsanspruch dieser Kirchen gegeneinander, so dass nach blutigen Religionskriegen der Kompromiss lautete: „Cuius regio ejus religio.“ Der Bürger hatte sich nach dem Bekenntnis des jeweils Herrschenden zu richten; ansonsten musste er „auswandern“, was zum Beispiel Hugenotten, Salzburger und andere taten.
Aufklärerisch hieß es, dass jedem Individuum die Gewissensfreiheit zustände. So konnte man, wenn auch mit manchmal erheblichen Schwierigkeiten vom römischen Katholizismus zur Lutherischen Kirche wechseln. Das nannte man Konversion. Die ersten Untersuchungen am Ende des 19. Jahrhunderts zu diesem Phänomen galten daher auch dem Wechsel innerhalb des Christentums. Der nicht wahrgenommene Wechsel einzelner zu einer wirklich anderen Glaubensart kam nicht vor den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den (systematischen) Blick der Forscher.
Die wechselseitigen Vorurteile unter den Angehörigen verschiedener Kirchen führten nach der Gründung des deutschen Reiches und der notwendigen Integration der Katholiken zu einem über Jahre andauernden politischen Kulturkampf, der nur mühselig beendet werden konnte. Damit waren die wechselseitigen Vorbehalte nicht überwunden, wie man nach 1945 bei dem Bemühen die gewaltige Flüchtlingswelle zu integrieren feststellen musste.
Im Angesicht dieser Katastrophen entwickelten die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Artikel 4 des zu erarbeitenden Grundgesetzes folgende Form:
„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Und man meinte etwas hinzufügen zu müssen: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Damit sollten zum Beispiel die Messe ebenso wie der sonntägliche Gottesdienst, Taufe und Beerdigungen garantiert werden. Hier steht nicht, dass die religiöse Orthopraxie geschützt sei. Die Religion war theologisch definiert.
Im Zuge der nach 1945 einsetzenden christlichen Säkularisation und der im ihrem Rahmen zunehmenden Verdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Raum der deutschen Gesellschaft, meinten die Antiklerikalen, dass „die“ Religion in die Kirche eingesperrt sei, wo sie langsam der Vergessenheit anheim gestellt wäre. Die Gläubigkeit der wenigen Juden wurde mit dem Mantel der historischen Toleranz zugedeckt.
Daher sah man indigniert auf die Glaubenspraxis der muslimischen Gastarbeiter; und viele (linke) Intellektuelle unterstützten daher gerne die Asyl suchenden Orientalen, die „dem“ Islam alles politische Versagen in orientalischen Gesellschaften zuschrieben. Verärgert beobachtete man, dass Muslime unter dem Schutz des Artikels 4 des GG ihren Glauben nicht nur zu sichern vermochten, sondern auch organisatorisch ausbauten. So erwuchsen aus den Selbsthilfeverbänden der einstigen Gastarbeiter im Laufe von vier Jahrzehnten Religionsgemeinschaften, die das einforderten, was sich auch unter Religionsfreiheit verstehen lässt: die im Glauben begründete Orthopraxie.
Danach ist der Glaube an die Praxis im Alltag gebunden, was nichts mit der christlichen Werkgerechtigkeit zu tun hat. So ist das muslimische Gebet zutiefst an den Zakat gebunden, zudem ist das Gebet stets sichtbar. Das dreißigtägige Fasten verlangt nach dem Iftar. All dies ist öffentlich. Zwangsläufig ist die Orthopraxie des Muslim nicht im Hinterhof zu verstecken oder in „die“ Moschee einzusperren, sondern ist ein Phänomen des öffentlichen Raumes und als solches ein Teil von ihm.
Die Mehrheit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat den sich aufbauenden Konflikt zwischen der sich entfaltenden Säkularisierung und den Muslimen nicht bemerkt. Der Schwerpunkt in der öffentlichen Diskussion wurde durch das Minarett, die Zwangsheirat etc. bestimmt. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, in denen die Religionsfreiheit anderen Grundrechten gleich der Meinungsfreiheit nachgeordnet wurde, nahm kaum jemand zur Kenntnis.
Für die Feuilletons der großen Zeitungen war es nur einen Kommentar wert. Die grundsätzliche Verschiebung der Säkularität hin zur negativen Neutralität des Staates gegenüber der Gläubigkeit seiner Bürger geriet zur Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig entwickelte sich in intellektuellen Zirkeln der Universitäten beziehungsweise politischer Gruppen eine Tendenz zum „Aufklärungsfundamentalismus“, der in der so genannten „Rückkehr der Religion“ in die Öffentlichkeit die Wiederkehr eines historischen Gespenstes sah.
In diese Entwicklung griff das Kölner Urteil in der Weise, dass es ein wesentliches Element der Orthopraxie kriminalisierte. Plötzlich beanspruchte die (christliche) Geistesgeschichte Europas Allgemeingültigkeit. Mit Schrecken erinnerten sich einige Muslime eins Satzes Ignaz Bubis’, der in einem Gespräch fast wie im Nebenbei gesagt hatte: „Ihr seid möglicher Weise die ersten, danach sind wir dran.“
Es war daher notwendig, dass der askenasische Oberrabbiner Berlin besuchte, um die Verantwortung des Landes einzufordern. Schließlich schienen die muslimischen Verbände an das Ende ihres Lateins angekommen zu sein. Ihre notwendige Konzentration auf den Religionsunterricht hatte den aufkommenden Grundsatzkonflikt überschattet: Unterricht ja, Beschneidung nein. Die Konsequenz könnte lauten: Die Muslime müssen ihre Bindung an die Orthografie, wenn nicht aufgeben, so doch einschränken. Mit Blick die Geschichte ließe sich fragen, ob man auf dem Wege zu einer Variation der andalusischen „Mozaraber“ ist, was Muslime in den Kölner Dialogen einst vermuteten. Also doch ein neuer Kulturkampf?
Wer ihn vermeiden will, muss sich an die begriffliche Arbeit machen und die lutherische Bindung der Religions- beziehungsweise Gewissensfreiheit um die Komponente der Orthopraxie erweitern. Gleichzeitig sollten die Areligiösen anerkennen, dass auch ihre Axiome ihre Grenzen haben. Schließlich ist der Non-Klerikalismus beziehungsweise Atheismus kein Freibrief die Würde des Menschen beliebig definieren zu dürfen.