Ein Jahr nach Halle

Ausgabe 305

(ndo/KNA). Am 9. Oktober 2019 verhinderte nur eine massive Holztür das schlimmste antisemitische Massaker in Deutschland seit der Shoa. Nachdem der schwer bewaffnete, rechtsextreme Täter nicht in die Synagoge in Halle eindringen konnte, tötete er eine Passantin und einen Mann in einem Imbiss.

Seit der Kritik, dass die Synagoge in Halle selbst am höchsten jüdischen ­Feiertag nicht unter Polizeischutz stand, haben nach dem Mediendienst Integration fast alle Bundesländer jüdischen Einrichtungen zusätzliche Gelder zur besseren Sicherung ihrer Gebäude bereitgestellt. Parallel dazu wurden in fast allen Bundesländern jüdische Einrichtungen von der Polizei stärker bewacht. Terroranschläge wie der in Halle haben eine fatale Signalwirkung für Jüd*innen: „Die Mitglieder unserer Gemeinde ­hatten nach dem Anschlag in Halle ­monatelang Angst, in die Synagoge zu kommen. (…) Mittlerweile haben wir Polizeischutz bekommen, seitdem fühlen sich die Menschen wieder sicherer“, erzählt Alexander Wassermann, der seit 2001 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dessau ist.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte davor, zur Tagesordnung überzugehen. Es reiche nicht, die Tat zu verurteilen: „Wir alle müssen Haltung zeigen“, mahnte Steinmeier bei der zentralen Gedenkfeier in Halle. „Wir ­müssen zeigen, dass wir keine Form von Antisemitismus, ob alten oder neuen, linken oder rechten, tolerieren – mehr noch, dass wir ihn aktiv bekämpfen. Dieser Kampf geht uns alle an.“ Er selbst empfinde ein Jahr nach der „monströsen Tat“ weiterhin Scham und Zorn. Es sei eine Verpflichtung für Staat und Sicherheitskräfte, alle Menschen zu schützen.

Zum Jahrestag der Bluttat ist der Prozess gegen den 28 Jahre alten Angeklagten voll im Gange. In den 15 Verhandlungstagen seit Beginn im Juli sind zahlreiche neue Details ans Licht gekommen, haben Opfer, Angehörige, Beteiligte und Fachleute ausgesagt – nicht zuletzt auch der Angeklagte, geständige Stephan B., der seine Taten live streamte. Seine Aussagen und Schilderungen empfanden die Opfer oft als unerträglich. Reue lässt er nicht erkennen, dafür seine ausgeprägte antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Gesinnung.

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Überlebende haben vor Gericht ihr psychisches Leid im Zuge der Tat geschildert und von Depressionen, Schlafstörungen, Angstattacken berichtet. Eine Zeugin aus der Synagoge sprach rückblickend von einer Nahtoder­fahrung. Eine 30 Jahre alte Rabbinerin berichtete im Prozess, wie die Tat das familiäre Trauma des Holocausts reaktiviert habe.

Gleichwohl gilt es im Prozess auch aufzuarbeiten, ob B. sich tatsächlich weitgehend unbemerkt radikalisieren konnte und welche politisch-gesellschaftliche Dimension mit der Tat verbunden ist. „Halle sollte ein Weckruf für die gesamte Gesellschaft sein“, ­formulierte es die Berliner Sozialwissenschaftlerin Anastassia Pletoukhina, die sich während des Anschlags in der Synagoge aufhielt. „Besonders verstörend ist es, wenn wir sehen, wie in Zeiten von Corona abstruse Verschwörungsmythen immer mehr in unsere Gesellschaft eindringen, die antisemitische Hetze sich ungehindert verbreitet – und eine ­Kontinuität des rechtsextremen Terrors immer deutlicher wird.“