Ein ­Prozess der ­Revision

Ausgabe 288

Foto: CM Dixon | Heritage Images

(iz). Wie wir unsere Vergangenheit sehen, hängt auch von unserer Einschätzung der Gegenwart ab. Jede neue Generation unterwirft Geschichte einem Revisionsprozess. „Natürlich kann die Geschichte den politischen Akteuren keine Anweisungen geben, aber sie kann Bedingungen und Auswirkungen des Handelns bewusst machen“, meint die angehende Historikerin und Publizistin Ismahane Bessi. Mit ihr sprachen wir über Geschichte, ihr Studium und das Verhältnis von Muslimen zur Geschichte.

Islamische Zeitung: Liebe Ismahane Bessi, Sie studieren Geschichte und schreiben gerade an Ihrer Bachelorarbeit. Was fasziniert Sie an Geschichte?

Ismahane Bessi: Im Grunde bein­haltet Geschichte alles, was wir haben, was wir sind und was wir sein werden. Geschichte ist ein Spektrum vieler Wissenschaften. Jeder einzelne Punkt in der Geschichte kann mit anderen Punkten der Geschichte verbunden werden. Die Anknüpfungspunkte müssen nicht unmittelbar 500 Jahre und länger in der Vergangenheit liegen. Nehmen wir das Attentat von Sarajevo 1914, das die Julikrise ausgelöst hat und anschließend den ersten Weltkrieg, der Millionen von Menschen forderte. Die Großmächte wollten Krieg führen, hatten aber keinen Anlass dazu. Dann wurde der österreichische Thronfolger von einem Serben getötet und alles nahm in nullkommanichts seinen Lauf.

Genau dasselbe haben wir mit dem 11. September 2001. Man hat Irak beschuldigt Massenvernichtungswaffen zu besitzen, obwohl keine Beweise vorlagen und die, die es gab, wurden vernichtet. Der damals geplante Irakkrieg war und ist völkerrechtswidrig. Allerdings besitzt der Irak einen der größten Erdölvorräte überhaupt. Wenn man mal bedenkt, dass die USA über 25 Prozent sämtlicher fossilen Brennstoffe weltweit verbrauchen und die Amerikaner gerade mal knapp 4 Prozent der Erdbevölkerung ausmachen. Sie tragen nichts zur Klimaschutzpolitik bei. Seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 ist der Erdölverbrauch Amerikas um mehr als 17 Prozent gewachsen. Das heißt, dass Amerika am meisten von Erdölknappheit betroffen ist.

Diese Situation haben wir auch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Deutsche Reich wollte seit der Reichsgründung seine Machtstellung festigen und Ansprüche als Weltmacht sichern. Anhand dieses Beispiels lässt sich erschließen, dass Politiker voneinander lernen. Ich bekomme jetzt meinen Willen nicht durch, also warte ich auf ein Attentat, das mir die Berechtigung gibt, die Welt zu retten, in dem ich in ein Land einmarschiere, um meine Macht zu stärken. Wieso handeln Menschen so? Gibt es Möglichkeiten Kriege zu verhindern? Wieso können Politiker ihre Arme so weit ausstrecken und die Welt zerstören? Geschichte ist nicht nur unsere Vergangenheit, sondern unsere Gegenwart und Zukunft. Das ist die Faszination an der Geschichtswissenschaft.

Islamische Zeitung: Im Herbst beginnen Sie ein Masterstudium zu den Themen Krieg und Konflikt. In Deutschland wird Militärgeschichte nicht selten gemieden, beziehungsweise den Militärwissenschaftlern überlassen, während sie im angelsächsischen Raum einen anderen Stellenwert hat. Welche Relevanz haben diese Themen für Sie?

Ismahane Bessi: Meinen Kenntnissen nach ist die Militärgeschichte in Großbritannien – vor allem was die Frühe Neuzeit betrifft – sehr weit fortgeschritten. Allerdings sehe ich auch, dass die Briten sich mehr auf vergangene Ereignisse fokussieren, statt gegenwärtige Militärgeschichte zu betreiben. Ein großer Nutzen würde es sein, den künftigen Generationen das Wissen darüber mitzugeben, wie Kriege verhindert werden können. Es wurden tausende von Schlachten und Kriege geführt, die viel zu viele Opfer gekostet haben.

Ich bin immer wieder erstaunt wie Kommilitonen über Krieg reden und ihn rechtfertigen, obwohl sie noch nie in einem Krieg waren. Wir kennen den Frieden, also sollten wir mit dem Frieden arbeiten und verhindern, dass wir der Waffenlobby und  den Politikern mehr Input geben, um Instrumente für den Krieg zu bauen und einzusetzen. Im Geschichtsstudium wird mehr über ausgebrochene Kriege diskutiert als über gelungene Präventionen – das ist ein großes Defizit.

Islamische Zeitung: Es ist kein unbekanntes Phänomen, dass die Einschätzung von Geschichte auch davon abhängen, wie wir unsere Gegenwart sehen.  Ist „Geschichte“ einem ständigen Revisionsprozess unterworfen? Welchen Stellenwert nimmt „Objektivität“ beim Thema ein?

Ismahane Bessi: Natürlich ist die Geschichte einem ständigen Revisionsprozess unterworfen. Als Historiker können wir uns nur auf die Quellen und Hilfsmittel beziehen, die uns zur Verfügung stehen. Ein ganz prominentes Beispiel ist die Todesursache von Tut-Anch-Amun. Bis vor kurzem sind Historiker und Archäologen davon ausgegangen, dass der ägyptische Kindskönig ermordet wurde. Durch neue Methoden konnte festgestellt werden, dass der junge Pharao einer Kriegsverletzung erlag.

Als gegenwärtige Historiker liegt die Aufgabe darin, diverse bezeugte historische Tatbestände präzise und vollständig festzustellen, wie die Zusammenhänge eines Ereignisses, die Bedingungen und die Wirkung. Natürlich kann die Geschichte den politischen Akteuren keine Anweisungen geben, aber sie kann Bedingungen und Auswirkungen des Handelns bewusst machen, um gegenwärtige Situationen besser einschätzen zu können. Deshalb kann der Forderung nach Objektivität in der Geschichte nicht zu 100 Prozent möglich sein, weil der Historiker keine vollständige und abgesicherte Erkenntnis eines historischen Ereignisses besitzt.

Islamische Zeitung: Bei aktivistischen MuslimInnen sind die klassischen Geisteswissenschaften westlicher/europäischer Prägung immer häufiger negativ konnotiert. Lassen sich diese – wie die Geschichtswissenschaft – einfach so in Bausch und Bogen von der Hand weisen?

Ismahane Bessi: In der Tat stehen viele Muslime den Geisteswissenschaften kritisch gegenüber. Aber das hat die unterschiedlichsten Faktoren. Ersten – ganz banal – der Druck der Eltern, dass sich mit einer Geisteswissenschaft kein Geld verdienen lässt. Zweitens: sehen Muslime in jedem Aspekt der Geschichte einen ­Islamfeind. In der Geschichte beziehungsweise. in sämtlichen Geisteswissenschaften sollte die Subjektivität in den Hintergrund gedrängt werden.

Islamische Zeitung: Welche Funktion hat Geschichte – als ideologisches Moment – in den muslimischen Nationalstaaten?

Ismahane Bessi: Die Funktionalität der Geschichte muss auf jedes einzelne islamische Land betrachtet werden, da jeder eine andere Auffassung von Geschichte hat. Schauen wir einmal auf Algeriens Geschichte, den algerischen Bürgerkrieg und die 130-jährige Kolonisation Frankreichs – wir finden heute einen sehr stark ausgeprägten nationalistischen Stolz unter den Algeriern, weil sie es am Ende geschafft haben ihren Kolonisten aus ihrem Land zu vertreiben, was bis heute sehr groß zelebriert und in Schulen und intern in den Familien gelernt wird. Geschichte prägt ein Land und dessen Bevölkerung, vor allem wenn Jahre lang um die eigene Freiheit gekämpft wurde. Beziehen wir diese Frage auf die konfessionelle Ebene, ist jeder Algerier Stolz darauf, dass Uqba Ibn Nafi, dem Statthalter Ifriqias im 7. Jahrhundert und der Mann, der den Maghreb unterwarf, in Algerien sein Grab hat.

Islamische Zeitung: Gibt es für Sie eine eigenständige Geschichtsschreibung und Methodologie des Islam?

Ismahane Bessi: Das kommt darauf an von welchem Islam gesprochen wird. Es gibt den Islam ab der Herabsendung des Korans sowie den Islam, den Adam (a.s.) und all die anderen Propheten herabgesandt bekommen haben. Alle Botschaften Allahs von Adam (a.s.) bis Muhammad (s.a.s.) stellen die Botschaft des Islams und somit auch den Islam dar. Jede Botschaft, die von einem Propheten kam, ist ein „Upgrade“ des Islams gewesen. Betrachten wir es ganz objektiv, gab es vor der Entsendung des Korans und dem Propheten Muhammed (s.a.s.) Glaubensansätze, die im Koran wiederzufinden sind, wie das syrisch-persische Christentum, die das christliche Glaubensbekenntnis, das erst 325 auf dem Konzil von Nicäa beschlossen wurde, abgelehnt haben, und sich somit auch gegen die Trinität gestellt haben. Das ist meiner Ansicht ein Vorreiter der Koranüberlieferung und des „eigentlichen“ Islam von dem heute die Rede ist. Der Islam ab 610 hat definitiv eine eigenständige Methodologie, während die komplette Entstehung des Islams ab Adam (a.s.) im Grunde genommen keine hat.

Islamische Zeitung: Häufig trifft man in muslimischen Publikationen zum Thema Geschichte auf Idealisierung und/oder Verteufelung real existierender Geschichte. Warum ist das so?

Ismahane Bessi: Hier kommen wir wieder auf das Thema Objektivität und Subjektivität. Viele Muslime beziehen Geschichte auf sich selbst. Ich habe schon oft genug gehört bekommen, wieso ich mich zum Beispiel mit griechischer und römischer Mythologie auseinandersetze, schließlich haben diese Menschen Götter angebet und das sei Blasphemie und Blasphemie führe ins Höllenfeuer. Ich glaube, viele Muslime denken, es sei verboten (haram) sich mit einer Sache auseinanderzusetzen, die im ersten Augenblick perfide erscheint, aber im Endeffekt ein Teil unserer Geschichte ist, auch ein Teil der islamischen Geschichte. Schließlich hat Allah seine Propheten in chaotischen Zeiten berufen, um den Menschen wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Allah ist bei der Verkündigung Seiner Botschaft nicht willkürlich vorgegangen. Es steckt ein hoher Sinn dahinter, weshalb die Menschen Wandel durchleben. Aber das tritt bei vielen Muslimen in den Hintergrund, weil leider vergessen wird, dass Allah uns den Auftrag gegeben hat nach Wissen zu suchen.

Islamische Zeitung: Die Geschichte muslimischer Regionen der letzten 200 Jahre war teils sehr tiefgreifend. Ein Beispiel dafür war das Jahr 1979. Sind sich Muslime Ihrer Meinung nach bewusst, in welchem Maße ihr eigenes Religionsverständnis dadurch formatiert wurde und wird?

Ismahane Bessi: Die islamische Revolution im Iran ist ein Tiefschlag für den globalen Islam gewesen und somit auch vieler Muslime. Der Iran trägt eine große Schuld, weshalb das Bild des Islams massiv zerstört wurde. Die Formatierung des Religionsverständnisses der Muslime in den letzten 200 Jahren spiegelt sich heute in dem sogenannten „westlichen“ Islam wieder, der durch die oberflächliche Vermischung des weltlichen Traditionalismus und des kanonischen Islams zustande gekommen ist und weiter fortschreitet.

Islamische Zeitung: Liebe Ismahane Bessi, Danke für das Gespräch.