, ,

Eine Kraft zur ­Gestaltung

Ausgabe 276

Foto: Jacob A. Lund, iStockphoto

(iz). Ein Blick auf den muslimischen Diskurs oder auch ein Querschnitt ausgewählter Freitagspredigten würde dem Unbedarften ein verkürztes Bild vermitteln. Hier erhielte unser hypothetischer Zeuge den nicht ganz stimmigen Eindruck, bei der islamischen Lebensweise ginge es – neben dem rituellen Kernbestand und einigen Ernährungsregeln etc. – vor allem um politische und aktuelle gesellschaftliche Fragen.
Dieser traurige Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass ein großes Feld der menschlichen Aktivität im hiesigen muslimischen Denken scheinbar nicht vorkommt: der ökonomische Alltag. Ökonomie wird in Moscheen oder Akademien überhaupt nur dann bemüht, wenn es darum geht, Spender von wohltätigen Zwecken zu überzeugen. Im sonstigen Fall tritt das Thema an den Tag, wenn es um die Behandlung „islamischer Banken“ geht. Das ist umso irritierender, da das das klassische Denken des Islam sozio-ökonomischen Transaktionen (arab. mu’amalat) einen enormen Platz einräumt.
Zu den Praktikern, die hier Abhilfe schaffen wollen, gehört die neuseeländische Forscherin, Autorin und Beraterin Dr. Thamina Anwar. In ihrem 2017 erschienenen Buch über das muslimische Stiftungswesen (arab. auqaf) als Mittel hin zu einem sozialen Unternehmertum von muslimischer Seite (Waqf: A Vehicle for Islamic Social Entrepreneurship) behandelt sie das Thema erschöpfend. Ihr geht es nicht nur um die Aufbereitung eines tradierten Modells. Sie möchte es auch für eine Anwendung in der heutigen Zeit erschließen.
Entscheidendes Werkzeug
In der Geschichte spielten die Institutionen der Stiftungen (arab. auqaf) eine entscheidende Schlüsselrolle. Sie finanzierten einen Großteil der Wohlfahrt zur Verbesserung von Gemeinschaften. Heute jedoch wird der Hauptanteil des bestehenden Auqaf-Vermögens in Banken und in unproduktivem Land zwischengelagert. Das behindert den Geldfluss von den Reichen zu den Armen. Im Gegenzug dazu bestand die geschichtliche Funktion eines Waqf darin, eine Plattform zur Umverteilung von Besitz zu sein.
Da sich die Ungleichheit der Besitzverhältnisse zwischen Arm und Reich weiter vergrößert, gibt es eine beträchtliche Zunahme von Armut – in der westlichen Welt sowie in Entwicklungsländern. Es gibt Bedarf zur Wiederbelebung der Auqaf, um ausgegrenzte Gemeinschaften zu ermächtigen und den Graben der Besitzverhältnisse zu verkleinern.
Das Buch von Dr. Thamina Anwar will eine Bilanz des Stiftungswesens ziehen und Einblicke in seine Grundlagen geben. Damit sollen nach Absicht der Autorin Lösungen aus einer muslimischen Perspektive entwickelt werden. „Waqf: A Vehicle for Islamic Social Entrepeneurship“ beschreibt eine andere Dimension der Investition von Stiftungsvermögen in die Praxis des sozialen Unternehmertums. Anwar will eine Methodik beschreiben, wie beide Modell zusammen funktionieren können. Ihr Ziel ist der Aufbau von Stiftungen als soziale Unternehmen.
Die Neuseeländerin ist Gründerin von tradenotriba.com. Sie ist Autorin, Forscherin, Dozentin und Beraterin verschiedener internationaler Einrichtungen, NGOs und muslimischer Stiftungen. Ihr 2017 bei einer malaysischen Einrichtung erschienene Titel ist die aufgearbeitete Version ihrer Doktorarbeit. Anwar erhielt mehrere Abschlüsse in Malaysia, Südafrika und Großbritannien. In den letzten Jahren arbeitete sie in verschiedenen Sektoren – von Forschung, über Lehre und Bildungsmanagement bis zu externer Beratung, Förderung von Jungunternehmern sowie verschiedenen Tätigkeitsbereichen, die das Thema berühren.
Globale Fragen
Herausforderungen wie Armut und Ungleichheit sind globale Fragen, wenn die finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung nicht das Wohlergehen der Armen reflektieren. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat nicht genug Arbeitsplätze, keinen angemessenen Lebensstandard, Gesundheitsvorsorge oder Bildung. Global bleibt Armut eine der größten Aufgaben der Entwicklung von Schwellenländern.
Nach Ansicht von Anwar verursacht ein nicht-nachhaltiges Wachstum Welleneffekte. Viele Länder müssten mit den Folgen eines unhaltbar gewordenen Wirtschaftswachstums fertig werden. Für sie gehören hierzu Schäden am Klima, an Gemeinschaften sowie an den natürlichen Ressourcen. Insbesondere eine Schädigung der Umwelt sowie der Raubbau an ihr werde durch übermäßigen Ressourcenverbrauch bewirkt. „Die Zerstörung der Ökosysteme und das Aussterben ganzer Arten beeinträchtigt die Nachhaltigkeit der weltweiten Ressourcen für die künftigen Generationen“, schreibt sie in ihrem Vorwort.
Bisherige Entwicklungen seien den versprochenen Erwartungen in der Lösung sozio-ökonomischer Fragen nicht gerecht geworden. Die erste Ursache dafür stellt für Dr. Thamina Anwar der unausgeglichene Fokus auf das Wirtschaftswachstum dar. Ihm werde zuviel Einfluss gegenüber der Entwicklung von Gemeinschaften und ihrer Ermächtigung eingeräumt. Zweitens übersehe man Faktoren, welche die Nachhaltigkeit und moralische Integrität von Wirtschaftssystemen beeinflussen würden. Drittens seien bisherige Systeme an individualistischen Interessen orientiert. „Finanzgewinne erhalten den Vorzug vor sozialen Zielen.“ Obwohl viele muslimische Länder über reichhaltiges Kapital bei natürlichen, wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen verfügten und obwohl Muslime zur Zirkulation von Wohlstand angehalten seien, sei „Massenarmut bekannt und weitverbreitet“.
Welche Instrumente haben wir?
Möglicherweise gehen die Wurzeln des Stiftungswesens, das von Muslimen entwickelt wurde, auf die Araber vor dem Islam zurück. Hier sind Beeinflussungen möglich. Aber es sind das islamische Recht sowie die von Muslimen entwickelten Institutionen, welche Werkzeuge und Mechanismen für eine gerechte Zirkulation von Wohlstand boten. Ein kurzer Blick auf die muslimische Geschichte zeigt, dass beispielsweise die Periode unter dem Kalifen ‘Umar ibn ‘Abd Al-‘Aziz (717-720 n.chr.Z.) Ein goldenes Zeitalter der Ökonomie war. Damals war die Einsammlung der Zakat so effektiv und effizient, dass die Leute auf den Markt zur Suche nach Bedürftigen gingen, und niemanden finden konnten.
Dr. Thamina Anwar stellt sozio-ökonomische Modelle wie Zakat, das Stiftungswesen sowie andere Einrichtungen und Mechanismen dar, um eine ausgeglichene Wirtschaft zu schaffen, die sozial gerecht ist. Diese Instrumente und Ansätze dienten dem Zweck, die Gesellschaft nachhaltig zu befördern. „Das betrifft die Vergabe, Produktion, Zirkulation und Rezirkulation von Ressourcen.“ Diese Behandlung des Themas zeige, dass ein Studium der Lösung sozialer Herausforderungen wesentlich für den gesellschaftlichen Fortschritt sei.
Anwar folgt in ihrer Behandlung dem Ökonomen Bakar, wonach die globale Finanzkrise viele Muslime zur Suche nach alternativen Wirtschafts- und Finanzsystemen veranlasst habe. Die von den sogenannten islamischen Finanzeinrichtungen gemachten Angebote sprächen bloß Symptome an, anstatt sich mit den grundlegenden Ursachen zu beschäftigen. Sie seien Kopien der kapitalistischen Einstellung des Westens und basierten auf den Bausteinen des konventionellen Systems. „Dann stellt sich die Frage, ob Muslime ihre eigenen ökonomischen Modelle und Lösungen für sozio-ökonomische Gegenwartsthemen brauchen. Oder reicht es aus, wenn sie bestehende, konventionelle Modelle des Westens übernehmen und sie auf eine muslimische Bevölkerung anpassen?“
Dr. Thamina Anwar geht von der Notwendigkeit eines eigenständigen Modells aus. Der Islam habe eine Ökonomie hervorgebracht. Hier fänden sich Instrumente und unkonventionelle Ansätze, die zur Verringerung von Armut und Ungleichheit führten. Auf Grundlage des Qur’an, den Aussagen des Propheten sowie seiner Lebensweise, sei ein Pfad und ein Fundament für eine faire und gerechte ökonomische Infrastruktur gelegt. Der Autorin geht es um nichts weniger als „die Formulierung von Lösungsansätzen für soziale Herausforderungen und sozio-ökonomische Probleme aus einer islamischen Perspektive – insbesondere auf Basis der islamischen Quellen“.
Ihr Buch solle zum wachsenden Wissen über die Auqaf und dem sozialen Unternehmertum von einer muslimischen Warte aus beitragen. In ihren Augen kann das muslim-eigene Stiftungswesen ein Mittel für eine nachhaltige und verantwortungsbewusste Ökonomie sein. Insbesondere dann, wenn die Stiftungsmittel zur Ermächtigung von Gemeinschaften, sozialer Gerechtigkeit, dem Ende der Armut sowie für die Nachhaltigkeit eingesetzt würden. Angesichts der mehrheitlichen Leere zu diesen Themen zumindest im deutschsprachigen Raum ist es keine Anmaßung, wenn Dr. Thamina Anwar davon ausgeht, hier einen eigenständigen Beitrag leisten zu wollen.
Zurück zum Anfang der Zukunft
Um Lösungen für die gegenwärtigen ökonomischen, finanziellen und sozialen Probleme aus muslimischer Perspektive zu finden, sei es „von überragender Bedeutung“ zum Anfang zurückzugehen und die grundlegenden Lehren zu betrachten. Immerhin sei soziales Unternehmertum im Islam keine neue Sache, wenn man sich die Quellen genauer anschaue. Seit den frühesten Anfängen breitete sich das wohltätige Verhalten parallel mit dem Islam selbst aus. Eine dieser Einrichtungen ist der Waqf. „Er ist entscheidend für die Finanzierung einer verfeinerten Gemeinschaft und hat Potenzial, viele heutige Fragen wie Armut, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu lösen“, schreibt Anwar.
Diese Institution spielte eine Schlüsselrolle bei der Erfüllung der meisten gemeinschaftlichen und sozialen Bedürfnisse. Jahrhundertelang waren die Auqaf starke finanzielle und sich selbst erhaltende Einrichtungen. Sie konnten rechtlich nicht aufgelöst werden und waren autonom in ihrer Verwaltungsstruktur. Diese Stiftungen boten eine Plattform, über die verschiedene Dienstleistungen für die Allgemeinheit angeboten wurden. Sie sorgten sich ausschließlich um das Allgemeinwohl.
In ihrer Arbeit widerspricht Dr. Anwar auch der Ansicht, der auf Dauerhaftigkeit angelegte Charakter des Stiftungswesens hätte zu mangelhafter Beweglichkeit und zu einem ineffektiven Gebrauch von Ressourcen geführt. Sie führt Wissenschaftler wie Y. Lev an, die darin gerade einen unschätzbaren Vorteil sähen. Die permanente Natur der Auqaf in Verbindung mit ihrer dauerhaften rechtlichen Privilegierung führe zu einer Permanenz des nützlichen Charakters. Das mache den Waqf zu einer höherwertigen Form der Wohltätigkeit.
Im zweiten Kapitel ihres Buches geht die neuseeländische Forscherin und Beraterin auf die grundlegende Natur des Stiftungswesens ein sowie auf das islamische Verständnis von Wohltätigkeit und Menschenfreundlichkeit. Sie beschreibt darin die historische Reise des Stiftungswesens und zeigt, wie es insbesondere unter den Osmanen zur Blüte gelangte. Erwähnenswert sie hier insbesondere den weiblichen Beitrag. Hier geht Dr. Anwar auch auf die Abweichungen von der Lehre und Fehlentwicklungen der Stiftungen in der heutigen Zeit ein. Das ist auch deshalb von Belang, weil sie in den mehrheitlichen muslimischen Ländern sowie in Staaten mit einer muslimischen Minderheit eine Wiederbelebung des Stiftungswesens diagnostiziert.
Es geht der Autorin aber auch darum, die positiven Erfahrungen anderer nutzbar zu machen. So sei im Westen das soziale Unternehmertum als eine wichtige ökonomische Plattform erkannt worden, die zur Lösung der globalen sozio-ökonomischen Probleme beitragen könne. Sie spiele in zunehmendem Maße eine entscheidende Rolle in der Verbesserung von Wohlfahrt sowie bei der Förderung der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. In vielen Gegenden seien das Dienstleistungen, bei deren Bereitstellungen Regierungen häufig scheiterten. Schwellenländer hätten viele Innovationen aus diesem Bereich angenommen – wie preisgünstige Augenoperationen, sanitäre Einrichtungen in ländlichen Gebieten, Mikrokredite, Hausprojekte usw.
Daher ist es auch nur folgerichtig, dass Dr. Thamina Anwar sich in ihrem relevanten Buch mit einem Überblick über die westlichen Erfahrungen des sozialen Unternehmertums befasst. Sie konzentriert sich dabei auf dessen Ursprünge, bestehende Sektoren und seine vielfältigen Eigenschaften. Hierbei geht sie auch auf dessen praktische Möglichkeiten bei der nachhaltigen Gemeinschaftsentwicklung, der Armutsbekämpfung, der sozialen Gerechtigkeit sowie weiteren globalen Trends ein.
Von einem islamischen Standpunkt aus betrachtet sei das soziale Unternehmertum „keine neue Sache“. Es habe starke Fundamente in der muslimischen Lehre. So gebe es eine reichhaltige Kultur und Tradition des Gebens. Dieses war hauptsächlich freiwillig, hatte spirituellen Charakter und richtete sich auf das unmittelbare Umfeld. „Das lässt sich von der Geschichte des islamischen Wirtschaftens ableiten“, schreibt Dr. Anwar. Beispiele dafür finden sich in den Konzepten des Stiftungswesens, der Vermächtnisse, der freiwilligen Spenden, des Schenkens, der Zakat, der ideellen Privatdarlehen sowie der Erbteilung.
Hier sieht sie verschiedene theoretische und praktische Wissensbereiche betroffen. Ihr zufolge gehörten dazu: die Ziele der Schari’a (arab. maqasid al-schari’a), die rechtlichen Grundlagen der Anbetung (arab. fiqh al-’ibada), das Recht der sozialen Transaktionen (arab. fiqh al-mu’amalat) aber auch das Einheitsverständnis (arab. tauhid) sowie die islamischen Vorstellungen zum Thema Geld (arab. mal). Zusätzlich führt sie in das Thema der Ökonomie des Schenkens und der Struktur des freien Marktes (arab. suq) zur Zeit des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, ein. Gerade die Kategorie des Schenkens verändert die Maßstäbe des menschlichen Verhaltens sowie die Einstellung zu den Werten, Normen und Glaubensinhalten in Sachen Geld. So stelle dieses Konzept die essenzielle Basis für ein Rahmenwerk des sozialen Unternehmertums dar.
Dieser wichtige Abschnitt geht in den folgenden über, in dem sich Anwar auf Ibn Khalduns Vorstellungen von gemeinschaftlichem Zusammenhalt (arab. ‘asabijja) fokussiert. Ihr Argument für dessen Anwendung auf das soziale Unternehmertum besteht darin, dass beide positive Werte und Normen förderten. Dazu zählten Zugehörigkeitsgefühl, Zusammenarbeit und Vertrauen. „Sie alle sind in den religiösen Lehren des Islam geborgen“ und stünden demnach auch im Kern des vorliegenden Themas. Für sie ist das Hauptwerk des großen nordafrikanischen Denkers eine Grundlage für eine islamische Perspektive auf das soziale Unternehmertum. Denn ‘Asabijja stehe im Kern von gemeinschaftlichem Empowerment, sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit sowie Armutsbekämpfung. Sie könne einen effizienten und wirksamen Mechanismus zur Schaffung von sozialem Einfluss und Profit bereitstellen. Um diese Gruppensolidarität bei Ibn Khaldun zu verstehen, sei es wichtig, ihre Grundlagen zu begreifen. Das gelte auch insbesondere in Hinblick auf die Anwendung der ‘Asabijja für soziale Entwicklung und deren Rolle in der Schaffung eines förderlichen Umfelds. Mit diesem ließen sich starke Bindungen zwischen den Gruppenmitgliedern verbessern.
Trotz des leicht sperrigen Titels füllt Dr. Thamina Anwars Buch – gerade im deutschsprachigen Raum – eine wichtige Lücke. Sie erklärt nicht nur das enorm wichtige Stiftungswesen sowie verwandte ökonomische Konzepte und Modelle. Anwar legt auch dar, an welcher Stelle der heutige Umgang mit den Auqaf – insbesondere bei einer Zentralisierung der Stiftungen sowie einer stellenweisen Passivität – unproduktiv geworden ist. Und sie formuliert faszinierende Überschneidungen zu grundlegenden Konzepten wie Ibn Khalduns ‘Asabijja sowie dem immer wichtiger werdenden sozialen Unternehmertum. Das ist gerade für Muslime wie jene in Deutschland von erheblichem Interesse. Fand doch das spannende Genossenschaftswesen hier eine erste Heimat. Wie besser ließen sich, jenseits der Negativschlagzeilen, Anknüpfungspunkte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen finden?