(gm) – Medina Al-Munawwara – die erleuchtete Stadt Medina – war der Ort, an dem der Din und eine erleuchtete Gemeinschaft nach der Hidschra [die Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina] eingerichtet wurden. Imam Malik (Imam der Heimstatt der Hidschra) hinterließ uns eine Blaupause dieser Stadt. Wollen wir verstehen, was Islam ist, müssen wir zu dieser reinen Quelle zurückkehren.
Der ‘Amal von Medina – Lebenspraxis der Leute von Medina – als legitime Quelle des Dins wurde von den Rechtsgelehrten niemals in Frage gestellt. Sie ist die Quelle für den Din par excellence, weil es in Medina (der Heimstätte der Hidschra) war, an welcher der Islam etabliert wurde – nachdem dies in Mekka unmöglich war. Wollen wir beispielsweise echtes Verständnis vom Christentum, müssen wir verstehen, dass es nicht in Europa entstand. Sondern vielmehr mit einem Propheten, der an einem spezifischen Ort am Ostrand des Mittelmeeres lebte – mit spezifischen Gefährten und unter spezifischen Bedingungen. Und wenn wir verstehen wollen, wie der Islam begann, müssen wir auf die Quelle blicken. Und den Ort, an dem der Din praktiziert wurde – namentlich Medina und die großen Männer und Frauen, die dort lebten.
Einer der größten von ihnen war Imam Malik Abu ‘Abdallah Malik ibn Anas Al-Asbahi, der 179 nach der Hidschra in Media starb und auf dem Friedhof Baqi’ beerdigt wurde. Er gehörte zu den Tab’i At-Tabi’in, das heißt, der dritten Generation nach dem Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Der berühmte Spruch, wonach „niemand [anderes] eine Fatwa gibt, wenn Malik in Medina ist“, ist ein Hinweis auf seine Bedeutung. Warum ist diese Stadt so wichtig? ‘Ubaidullah ibn ‘Abdalkarim Ar-Razi sagte: „Der Gesandte Allahs starb inmitten von 20.000 weinenden Augen.“ Dies bedeutet, dass der Din in seiner Vollkommenheit perfektioniert wurde, als 10.000 Gefährten wegen des Todes unseres Propheten weinten. Kurz zuvor offenbarte Allah den folgenden Vers: „Heute habe Ich euch euren Din vervollkommnet und Meine Gunst an euch vollendet, und Ich bin mit dem Islam als Din für euch zufrieden.“ (Al-Ma’ida, 3) Diese Übermittlung des Dins von so vielen und von einer solchen reinen Quelle ist die Grundlage für die Madhhab von Imam Malik.
Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Medina scheidet die Unreinheiten [seiner Einwohner] aus und reinigt das gute [seiner Einwohner] wie der Blasebalg eines Schmelzofens [die Unreinheiten des Eisens ausscheidet].“ (Muwatta, Kap. 45). Rabi’a sagte: „Ein tausend, die von ein tausend überliefern, sind mir lieber als einer, der von einem überliefert.“ Dies ist die Überlieferung der Praxis und nicht die Transmission von etwas theoretischem. Maliks Buch Muwatta bedeutet wörtlich „der oft beschrittene Pfad“; das heißt, der Pfad, der von tausenden Prophetengefährten in Medina genommen wurde. Es ist ein breiter Pfad. Imam Maliks Absicht war es, den Leuten eine allgemeine Richtschnur zu geben. Seine Methode systematisierte das Fiqh in Kapitel, aber rationalisierte den Islam nicht in einer erschöpfenden und detaillierten Methodologie. Die Einzelheiten finden sich in „Al-Mudawwana Al-Kubra“, den Aufzeichnungen seiner Schüler.
Asch-Schafi’is Abweichung von seinem Lehrer Malik bestand in dem Versuch, die ganze Angelegenheit vernunftmäßig erklären zu wollen. Er war getrieben vom Verlangen nach einer konzeptionellen und theoretischen Übersicht über den Islam und der Urteile der Rechtsgelehrten [Fuqaha]. Imam Malik war mittendrin, im Auge des Sturms, ein aktiver Richter, die Reinheit des Dins aufrecht erhaltend, Urteile fällend und er widerstand allen Versuchen einer Rationalisierung. Er weigerte sich, dass die Lehre des ‘Amals von Medina zu einer Staatsreligion wurde – rigide und exklusiv. Vielmehr verlangte er von den Khalifen, die die unterschiedlichen Traditionen zu respektieren.
Imam Malik erkannte den Din als das Leben an sich. Als solches geht es über absolute Konzeptualisierung und Rationalisierung weit hinaus. Der ‘Amal von Medina muss als Vorlage für die Unmenge der Lebensvorgänge benutzt werden. Dies war der reine Abdruck, der von einem Augenblick der Perfektion hinterlassen wurde. Allah, der Erhabene, spricht in Seinem Edlen Buch über Sich Selbst: „Jeden Tag befasst Er sich mit einer Angelegenheit.“ (Ar-Rahman, 29)
Der Din kann nicht durch eine endliche Menge Regeln beschränkt werden. Er muss vielmehr als ein breiter Weg verstanden werden, der – wenn man sich an ihm ausrichtet – ein Mittel zu Reinigung sämtlicher menschlicher Handlungen wird. Als solcher ist er unbegrenzt in der Art und Weise seiner Anwendung für jeden individuellen Akt – unendlich in den Schattierungen seiner Deutungsweisen. Das soll nicht heißen, dass es keine Rahmenbedingungen gibt: Der Din ist eine Schari’a, was wörtlich „Pfad“ bedeutet – mit erkennbaren Grenzen. Der Unterschied zischen dem ‘Amal, dem Din von Medina, und der Vorstellung, das eigene Leben an Hadithen auszurichten, besteht darin, dass der ‘Amal von Medina eine Blaupause für ein ausgeglichenes islamisches Leben als Ganzes ist. Erhält man ein Hadith von einem Gefährten in Kufa und handelt ihm entsprechend im Augenblick der Zeit vor dem Tod des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen oder ihm Frieden geben, muss man sicherstellen, dass dieses Hadith nicht von einer anderen Handlung oder einem Ausspruches des Propheten zu einem späteren Augenblick seines Lebens aufgehoben wurde. Oder sogar durch einen Vers des Qur’ans. Außerdem: Wenn man ein Hadith von einem einzelnen Prophetengefährten nimmt, kann es passieren, dass man nicht den Kontext des Hadithes versteht, in dem es überliefert wurde. Galt es einer bestimmten Person? War es für einen spezifischen Umstand bestimmt? Handelt es sich hier um etwas, dass als Befehl oder als Empfehlung zu verstehen ist?
Nimmt man seinen Din vom letzten Lebensabschnitt des Propheten, kann man sicher sein, dass er in seiner Vollkommenheit eine ausgeglichene „Einschätzung“ der unzähligen überlieferten Hadithe und Handlungen enthält. So erlangt man ein Gefühl für die Prioritäten, die Hadithe betreffend – was weniger wichtig ist und was eine bestimmte Person oder eine bestimmte Situation betrifft. Alles muss im Kontext der Lebensmuster Medinas verstanden werden. Und daher kann es auch sein, dass der ‘Amal stärker als ein Hadith sein mag. Wie ein Gelehrter anmerkte: „Imam Malik bekämpfte die erschütternd simplizistische Sicht, die darauf besteht, dass, sollte es ein Sahih-Hadith geben, man an dieses gebunden ist.“
Wie der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Nein, bei Allah! Nicht, bis er die Wahrheit erreicht hat! Und es kann nur eine Wahrheit geben. Zwei widersprüchliche Aussagen können nicht korrekt sein.“ So wichtig ist der ‘Amal, dass Malik an einem bestimmten Zeitpunkt Al-Laith ibn Sa’d den Rat gab, sich niemals dagegen zu wenden, wenn „es etwas gibt, nach dem eindeutig in Medina gehandelt wird“. Mit anderen Worten, wenn der Präzedenzfall klar und eindeutig ist.
Die Gelehrten der anderen Madhhabs erkennen den Platz und den Rang dieses ‘Amals an, selbst wenn sie die Instrumente des Qijas (des Analogieschlusses) vorziehen mögen oder Überlieferungen „einer von einem“ folgen. Man könnte den hanbalitischen Gelehrten Ibn Taimija zitieren, dessen Werk „Sihha Usul Madhhab Ahl Al-Madina“ (Teil seines „Madschmu Al-Fatawa“) die Korrektheit des ‘Amals der Leute von Medina pries. Das gleiche gilt für den hanafitischen Schaikh Schah Waliullah, der in seinem letzten Testament festlegte, dass „sobald ein Student ausreichend Arabisch spricht, muss er in der Muwatta’ von Imam Malik unterwiesen werden“.
Die größte Lektion, die in dieser dürftigen Zeit aus dem ‘Amal von Medina gezogen werden kann, liegt in ihrem eigentlichen Namen, der „Praxis“ bedeutet. Wie oben angerissen wurde, ist der ‘Amal von Medina die Aufzeichnung der alltäglichen Praxis – der Mu’amalat – der Muslime zum Zeitpunkt, als der Gesandte Allahs verstarb.
Man könnte sagen, dass Mekka der Ort des ersten Teils der Schahada („Es gibt keinen Gott, außer Allah“) ist, der Ort der ‘Aqida (Glaubenslehre) und der Ort, an dem die Furcht vor dem Feuer und die Verheißung des Garten erstmals in den Herzen der neuen Muslime etabliert wurde.
Aber Medina ist der Ort der zweiten Hälfte der Schahada („Muhammad ist der Gesandte Allahs“). Der Ort dieser äußeren Mu’amalat, an dem die alltäglichen Transaktionen des Lebens verwirklicht wurden.