
Ender Çetin – der Berliner Imam und Erzieher über einen Aufruf zum Thema Gewalt und Debatten unter Berliner MuslimInnen.
(iz). Am 11. Oktober schalteten sich Mitglieder des Rates Berliner Imame in die Diskussion um Krieg und Terror im Nahen Osten sowie zu gewaltverherrlichenden Reaktionen bei Kundgebungen direkt nach dem Hamas-Terror in Berlin ein. Als „Vorbilder und Berliner Muslime“ sahen sie sich zur Reaktion gezwungen.
Hierzu sprachen wir mit Ender Çetin, der dem Gremium angehört. Der studierte Theologe gehört zum ersten Jahrgang, der ein Folgestudium zum Imam am Osnabrücker Islamkolleg (S. 15) erfolgreich absolvierte. Cetin ist als Imam in der Hauptstadt unter anderem in der Gefängnisseelsorge aktiv. Außerdem engagiert er sich in der Deutschen Islam Akademie e.V.
Foto: Muslimische DiaLogen
Ender Çetin: Wir mussten reagieren
Islamische Zeitung: Lieber Ender Çetin, Sie gehören zu den 19 Unterzeichnern des Aufrufes Berliner Imame „zu gewaltverherrlichenden Reaktionen in Berlin“. Darin verurteilen Sie nicht nur den jüngsten Terror im Nahen Osten, sondern auch sympathisierende Äußerungen und Gesten in Berlin. Was sind die Motive und Hintergründe dieser Stellungnahme?
Ender Çetin: In unserer Rolle als Seelsorger, religiöse Führungspersonen von Gemeinden, als Vorbilder und Berliner Muslime mussten wir reagieren. Mit Entsetzen haben wir die Sympathiebekundungen für diesen schrecklichen terroristischen Anschlag mitbekommen – insbesondere unter Jugendlichen in den sozialen Netzwerken und auf unseren Straßen.
Uns wurde schnell klar: Das darf nicht geschehen und wir sind als Berliner aufgerufen uns zu Wort zu melden. Wenn auch nur eine dieser Personen, die da den Tod von unschuldigen Menschen feiert, durch die Botschaft der Religion erreicht werden kann, so müssen wir diese Botschaft klar verbreiten.
Unabhängig von den ganzen Diskussionen um den gesamten Nahost-Konflikt, zu der sowohl Muslime als auch Nichtmuslime sich stetig äußern und ihre Sichtweisen auf unterschiedlichsten Plattformen zum Ausdruck bringen, ist es wichtig, dass die Menschen unserer Stadt lesen und hören, was wir von dieser Zurschaustellung von Respektlosigkeit gegenüber der grausamen Ermordung unschuldiger Menschen denken.
„Wer einen Menschen tötet ist gleich dem, der die gesamte Menschheit tötet…“, ist der Vers, der uns als Muslime, wenn wir von einer solchen Gräueltat hören, sofort einfallen sollte.
In unserer Erklärung taucht das Wort Pietätlosigkeit auf, welches das achtungslose und moralisch verwerfliche Verhalten beim Namen nennt, wobei jegliche moralische Grundsätze über Bord geworfen und Opfer skrupellos belächelt werden. Diese Stimmung konnte bei einigen nach dem Anschlag verzeichnet werden.
Diese Haltung prägte kurz nach dem Anschlag die Stimmung bei einigen und sie verhielten sich entsprechend. Dies hat wiederum bei Menschen, die ohnehin eine negative Einstellung zu muslimisch gelesenen Personen hatten, Ressentiments hervorgebracht, die Muslime in Berlin als Ganzes spüren.
Auch deshalb mussten wir schnell als Imame handeln. Es ist eine Stimmung entstanden, die vergleichbar ist mit den Ereignissen kurz nach dem Anschlag am 11. September 2001 in New York.
Als Imame wollten wir nicht nur unsere religiösen und menschlichen Gefühle zum Ausdruck bringen, sondern auch der muslimischen Community, der gesamten Zivilbevölkerung und den Menschen, die nun Muslimen und muslimisch gelesenen Personen einen religiösen Beweggrund unterstellen, ganz klar zeigen, dass wir nicht hinter einem solchen Anschlag stehen können und dürfen.
Mit großer Sorge schauen wir auf den nun wachsenden Hass gegen Muslime sowie muslimisch gelesene Menschen und gleichzeitig auf die Neigung zur Radikalität bei Jugendlichen. Dies sind Zeiten in denen Populisten und radikale Prediger den größten Zulauf bekommen. Volksverhetzer gibt es leider auf allen Seiten und es ist an uns allen, ihnen etwas entgegenzusetzen.
Demonstranten in Berlin am 28. Oktober. Screenshot: X/Twitter
„Stehen wir nicht als Gemeinschaft der Mite da?“
Islamische Zeitung: Von verschiedenen Individuen und Gruppen wurde der Terror von Seiten der Hamas in Deutschland begrüßt. Wie sieht eine „islamische Antwort“ darauf aus? Wie lässt sich eine solche Rhetorik zurückweisen?
Ender Çetin: Bevor unser gemeinsamer Menschheitsvater und der erste Gesandte Allahs Adam (Friede auf Ihm) erschaffen wurde, haben die Engel Allah gefragt, warum er ein Wesen erschafft, das nur Unordnung bringen und Blut vergießen wird: Da erschuf Allah Adam und brachte ihm die Namen bei. (Vgl. Al-Baqara, Sure 2, 32) Nach mancher theologischen Meinung sind hierbei die Namen Allahs gemeint, wie Barmherzigkeit, Frieden, Liebe…
Die Engel nehmen dies wahr und lobpreisen den Schöpfer. Hier können wir verstehen, dass nicht der Kriegszustand, sondern der Friedenszustand die Grundlage ist, auf der wir aufbauen müssen. Auch der Begriff „‘amilu as-Salih“ (die rechtschaffene Tat) meint eigentlich die friedfertige Tat (Sulh ist ebenfalls ein Begriff für Frieden).
Deshalb sollte ein Muslim nicht Öl ins Feuer kippen, sondern den Schaden versuchen, so gut es geht, einzudämmen.
Jetzt sagen uns manche ganz oft: „Es reicht mit der Ungerechtigkeit, sie machen viel schlimmere Dinge mit uns.“ Aber stehen wir nicht als Gemeinschaft der Mitte da und behaupten wir nicht die Gemeinschaft unseres geliebten Propheten Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, der als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt wurde, zu sein?
Selbst nach den Mongolenstürmen und Kreuzzügen haben viele Muslime in Anatolien bei Mawlana Dschelaleddin Rumi, bei Yunus Emre, bei Hadschi Bektaschi Weli nach Trost und Hoffnung gesucht. Denn diese Personen standen für Menschlichkeit und reichten selbst ihren Feinden die Hand aus.
Über sie werden immer noch die schönsten Geschichten erzählt, während Leute, die Öl ins Feuer gekippt haben, in der Geschichte kaum Erwähnung finden.
Wasser ist stärker als Feuer. Hass kann nur durch Liebe erlöschen. Es heißt in der Sure 41, Vers 34-36: „Und nimmer sind das Gute und das Böse gleich. Wehre (das Böse) in bester Art ab, und siehe da, der, zwischen dem und dir Feindschaft herrschte, wird wie ein treuer Freund sein, Aber dies wird nur denen gewährt, die geduldig sind; und dies wird nur denen gewährt, die großes Glück haben, Und wenn du von Seiten des Satans zu einer Untat aufgestachelt wirst, dann nimm deine Zuflucht bei Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“
Wenn manche behaupten, dass das nicht die richtige Zeit für diese Verse ist, dann frage ich mich wann denn dann, wenn nicht jetzt? Aber es ist schwierig, in dieser politischen Situation die richtigen Worte zu finden. Das Leid des palästinensischen Volkes in Gaza ist groß. Ich würde mir stille Proteste wünschen. Imame und Rabbiner, die für die Menschlichkeit auf die Straße gehen und nebeneinander beten.
Die Erfahrung einer friedlichen Koexistenz haben wir in der Geschichte in Andalusien, auf dem Balkan, im Osmanischen Reich, in Nordafrika, im Nahen Osten und im Iran. Wir brauchen die positiven Erfahrungen aus der Geschichte.
Foto: Muslimische DiaLogen | Rat Berliner Imame
„Selbstverständlich gibt es Debatten in unseren Gemeinden“
Islamische Zeitung: Wie hat die muslimische Community in Berlin auf Ihren Aufruf reagiert? Gibt es Debatten innerhalb und außerhalb der Gemeinden?
Ender Çetin: Selbstverständlich gibt es Debatten in unseren Gemeinden. Es sind viele auch persönlich von dem Konflikt betroffen. Viele haben Verwandte im Gaza-Streifen oder kennen Menschen in der Region. Die Emotionen kochen hoch und die Nerven sind angespannt. Es stellt sie vor eine Zerreißprobe.
Der öffentliche und politische Diskurs ist vielen nicht verständlich. Sie trauern und bangen um ihre Lieben und Bekannten und verstehen nicht, weshalb wir hier in Deutschland anders über den Konflikt sprechen als vielleicht in Großbritannien oder den USA.
Es ist auch gerade an uns, unserer Gemeinde, dies zu erklären und sie in ihrer Trauer zu begleiten und ihnen Trost zu spenden. Aber nicht alle können verstehen, warum wir uns so äußerten und unsere Rolle als Berliner Imame so betrachten, wie wir sie betrachten.
Nämlich als religiöse Führungspersönlichkeiten dieser Stadt und nicht als Sprachrohr von politischen Gruppierungen oder Parteien.
Interessant war es, zu spüren, dass insbesondere diejenigen, die tatsächlich Krieg und Leid erfahren haben, unseren Aufruf eher positiv aufnahmen, als Menschen, die in Deutschland keine positiven Erfahrungen gemacht haben, kaum Zukunftsaussichten haben und eher bildungsfern sind. Es gibt unter ihnen einige, die sich über Gewaltausbrüche auch in Berlin freuen.
Foto: Achim Wagner, Shutterstock
Berichterstattung deckt sich nicht mit Realität
Islamische Zeitung: Stimmt die derzeitige Berichterstattung über die Stimmungslage in der Hauptstadt? Manchmal wird einem der Eindruck vermittelt, Stadtteile wie Neukölln seien Stützpunkt von Terrorunterstützern. Stimmt das überhaupt?
Ender Çetin: Der durch die aktuelle Berichterstattung gewonnene Eindruck von einem Stützpunkt von Sympathisanten des Terrors stimmt aus meiner Sicht keineswegs mit der Realität überein.
Natürlich haben wir in Neukölln mehr Menschen mit Migrationsgeschichte aus dem Nahen Osten als vielleicht in Pankow oder Wilmersdorf. Da spielt sich vieles im Leben der arabischsprachigen Community ab.
Die Sonnenallee und andere Orte im Bezirk sind schon seit vielen Jahren nicht zuletzt auch wegen ihrer vielen orientalischen Geschäfte, Kaffees und Restaurants sowohl ein Touristenmagnet als auch der Ort, an dem die arabischsprachige Community gerne zusammenkommt.
Da finden sich alle: ob Hipster oder der Palästinenser, der lediglich gegen die politische Haltung Deutschlands zu seinem Land demonstrieren möchte, der Familienvater, der überhaupt keinen Bezug mehr zu dem Land seines Vaters hat und damit nichts zu tun haben möchte, der radikaldenkende Krawallmacher oder der von Wut geleitete verwirrte Jugendliche auf der Suche nach seinen Wurzeln.
Wie so häufig ist aber der Laute, der Gewalttätige und der Schwarzweißdenkende derjenige, der das Bild prägt. Das wirft ein Schatten auf alle anderen.
Es gibt viele andere Probleme in Neukölln. Ich selbst bin dort aufgewachsen. Vieles an Integrationspolitik ist dort gescheitert. Die Orte, in denen Integration und Dialog stattfinden kann, wie unter anderem in Moscheen, erfahren gerade dort, wo viele Menschen muslimischen Glaubens leben, immer wieder Ablehnung von Seiten der Politik und der Medien.
Die Wertschätzung und Anerkennung gegenüber Muslimen sind meiner Meinung nach leider sehr oft halbherzig und das spüren insbesondere die jungen Menschen. In vielen Projekten, bei der muslimische Gemeinden Teil einer Lösung sein könnten, werden sie als problematisch angesehen.
Das verstehen besonders Jugendliche nicht. Für Extremisten ist dies der perfekte Nährboden. Sie greifen die enttäuschten und oft wütenden jungen Menschen ab und kanalisieren ihre Enttäuschung in die falsche Richtung.
Nun wird der Antimuslimische Rassismus noch drastischer zunehmen. Der pauschale Vorwurf gegen Muslime, sie seien per se antisemitisch ist nun deutlich vernehmbar. Das macht mir Sorgen.
Ich selbst habe mit Rabbinern viele Schulbesuche in Neukölln absolviert. 99% der Jugendlichen, die ich da traf, waren friedlich und tolerant. Wobei ich dennoch weiß, dass es nicht immer einfach ist, mit einer Kippa in Neukölln zu spazieren.
Ich habe den Eindruck, es wird ein Bild vermittelt, wie schon häufig zuvor, bei dem Krawallmacher und Terrorbefürworter automatisch zu Muslimen gemacht werden. Die Mehrheit der Muslime empfand die Terrorattacken auf Unschuldige als grausam und unmenschlich. Sie lehnen klar die Gewaltaktionen der Hamas und anderer Gruppen ab.
Doch das ist nicht das Bild, das mehrheitlich verbreitet wird. Erneut werden an vielen Stellen Muslime unter Generalverdacht gestellt. Selbst vielen Nichtmuslimen fällt diese einseitig gefärbte und vereinfachte Berichterstattung auf.
Ich weiß von einigen, die inzwischen auch Journalisten und Medienhäuser angeschrieben haben und um eine differenziertere Berichterstattung gebeten haben.
Es gibt auch Lichtblicke. Einige Medienmacher haben sich mit Projekten beschäftigt, die schon seit längerem an den Schrauben drehen und positiv über diese berichtet. So zum Beispiel über die Arbeit von Meet2Respect an Berliner Schulen.
Islamische Zeitung: Lieber Ender Çetin, wir bedanken uns für das Gespräch.