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Gemeinschaft als subversiver Akt

Ausgabe 317

Foto: Khalil Mitchell | IZ Medien

(iz). Sprechen wir über muslimische Intellektuelle in Teilen der muslimischen Community, bewegen diese sich changierend zwischen Erwartung und Randexistenz. Neben diesen Faktoren dürfte ihnen auch Misstrauen begegnen. Nicht umsonst ist der Vorwurf „pseudo-intellektuell“ in unseren Reihen nicht vollkommen unbekannt. Das ist umso bedauerlicher, als jeder Muslim, der sich mit der Offenbarung beschäftigt, den göttlichen Aufruf zum „Nachdenken“ nicht überhören kann.

Mit diesen Menschen hat sich Leonard Sezgin-Just in seinem lesenswerten Essay „Weitermachen: Fluchtpläne aus der geistigen Enklave“ auf dem Blog „Dreinblick“ beschäftigt und ihre jetzige Verfasstheit angesichts einer problematischen Öffentlichkeit in den Vordergrund gerückt. Ihm geht es um „junge, intellektuell engagierte Muslime“. Seine auch persönlichen Einblicke sind nicht darauf beschränkt, sich an einem aktuellen Vorfall abzuarbeiten. Vielmehr geht es ihm um eine Standortbestimmung.

Wer ist das Subjekt?

Sezgin-Just erkennt im Objekt seiner Beobachtungen eine tiefe Ernüchterung. Zu fragen wäre hier, ob es diese Menschen auch als überpersönliches Subjekt gibt? Das heißt, haben diese „jungen, intellektuell engagierten Muslime“ ein Bild von sich, das über das eigene Selbst hinausgeht? Einen kleinen Hinweis darauf könnte Interesse an Beiträgen sein, die künstlerisch oder intellektuell engagierte Muslime in den sozialen Netzwerken erfahren.

Auf einer ganz anderen Ebene bewegt sich die Frage, ob es – jenseits der religiösen Lebenspraxis vom gemeinsamen Gebet und Fasten sowie des Anspruches in den Quellen – derzeit so etwas wie ein muslimisches Subjekt gibt. Von außen werden „Muslime“ häufig als solche angesprochen beziehungsweise es wird über sie gesprochen. Seine Möglichkeit zur Konstituierung, Kommunikation und Mobilisierung bleiben im Vergleich hinter den Ansprüchen zurück.

Analyse und Paralyse

Leonard Sezgin-Just konstatiert (genauer genommen fühlt er), dass hinter einer „omnipräsenten Stimmung der Lähmung“ mehr steckt als „bloße Durststrecken in Einzelbiografien“. Stattdessen besteht sein wichtiges Ziel darin, ein Psychogramm „dieser steckengebliebenen Gruppe“ zu zeichnen. Damit tut er etwas Entscheidendes. „Weitermachen: Fluchtpläne aus der geistigen Enklave“ denkt über das eigene Selbst nach und versucht eine Standortbestimmung, anstatt einer bloßen Reaktion auf den Herrschaftsdiskurs, welchen der Autor im Text als Belastung ausmacht.

Ebenso wichtig und für die Schlussfolgerung relevant ist die Feststellung, dass wir es hier mit Muslimen mit „einem ungeheuren intellektuellen und künstlerischen Potenzial“ zu tun haben. Ihr Potenzial wird zu selten von außen und innen gesehen. Insbesondere gesamtgesellschaftlich gelten junge Muslime häufig als Problem, das zu behandeln wäre. Wird es wahrgenommen, wird dieses Potenzial entweder integriert oder im Sinne einer „Einhegung“ der muslimischen Community instrumentalisiert. Einige der heute einflussreichsten muslimischen Influencer:innen haben ihren Weg durch die Förderprogramme von öffentlichen Institutionen genommen.

In der muslimischen Community beziehungsweise ihren Gliedern fehlt es nicht nur im Falle der Jungen (auch Konvertiten und Frauen) an der Fähigkeit, inhärente Potenziale zu erkennen und zu entfalten. Wenn es geschieht, unterliegt dies auch dem Eigeninteresse der Nachwuchsförderung eigener Strukturen.

Fehlt es an Asabiyya?

Hier weist er auf etwas anderes hin: Trotz „aller Zersplitterungen und Verwerfungen“ sieht er bei ihnen ein „lebendiges Gruppenbewusstsein“. Ob gewollt oder nicht führt der Autor damit in einen wichtigen Aspekt ein, der im innermuslimischen Gespräch (wenn es denn ein solches jenseits der „Blasen“ gibt) leider randständig geblieben ist: Asabiyya, oder Gruppensolidarität, wie sie von Ibn Khaldun beschrieben wurde, der ihren Gesetzmäßigkeiten nachging.

Bedauerlicherweise wurde und wird Asabiyya von vielen Muslim:innen als kleingeistiger Tribalismus falsch- und damit missverstanden. Das behinderte bisher das ohnehin schon schwierige Wachstum eines muslimischen Subjekts. Ohne ein Mindestmaß ist die vom Autor beschriebene Lage kaum aufzulösen. Ironischerweise ist gelegentlich bei intellektuellen und/oder kreativen Muslim:innen eine seltsame Dissonanz, wenn nicht Aversion gegen Gemeinschaft zu finden. Manche haben das in ihr Sprechen integriert, wenn sie betonen, „kein Teil einer Gemeinschaft“ zu sein.

Resignation

Trotz ihres Potenzials und des Wunsches, „auf Augenhöhe“ an der Umgebung teilzuhaben, sei „stille Resignation eingekehrt“, wo vor wenigen Jahren „verheißungsvolle geistige Regsamkeit“ geherrscht habe. Muslimische Medien (denen der „organisierte Islam“ nie echte Aufmerksamkeit schenkte) würden „sich nur schleppend“ halten und litten an karger Resonanz. Und jene, hier verweist Sezgin-Just auf die Causa El-Hassan, die in die etablierten Medien gehen, würden teils Opfer gezielter Kampagnen.

Alle „geistig, künstlerisch und medial Aktiven“ (oder der muslimische Intellektuelle) fühlten sich demnach einer erdrückenden Diskurslast ausgesetzt, welche den Kern des bestehenden Potenzials zu ersticken drohe. Signifikant ist der folgende Satz: „Der Diskurs, jenes gesellschaftliche Außen, drängt ihn dazu, sich anzupassen, anzudienen, sympathisch zu machen, ja keinen Fehltritt zu begehen, da sonst stets die Vernichtung seiner öffentlichen Person droht.“ Wenn die Dichter, Maler und Denker die Seismografen unserer Welt sind, die Stimmungen und Trends vor allen anderen wahrnehmen oder bewusster erfahren, und wenn Sezgin-Justs Einschätzung stimmt, spricht er einen essenziellen Punkt für die Community insgesamt an.

Mit 9/11 kam es nicht nur zu einer Zeitenwende in den staatlich-muslimischen Beziehungen. Es entfaltete sich ein Paradigmenwechsel in den Führungs- und Diskurseliten der Community selbst. Das Projekt „Anerkennung“, das damit einherging, die sukzessive Säkularisierung des muslimischen Denkens sowie ein politisierter Aktivismus haben in dieser Hinsicht alle eines bewirkt: Muslimische Existenz und unser Handeln wurden und werden verstärkt in Relation zum Anderen und dem Herrschaftsdiskurs verstanden beziehungsweise daran ausgerichtet.

Das, was Leonard Sezgin-Just hier in Hinblick auf junge, muslimische Intellektuelle beschreibt, ist zur Conditio unseres Verhältnisses zur sozialen Welt geworden. Unsere Gestimmtheit, Orientierung bis hin zu den Zuständen selbst wurden – unter unserem Zutun – von der inneren Essenz entkoppelt und von Stürmen der Außenwelt abhängig gemacht. Da hier in kollektiver Hinsicht keine „Brandmauern“ errichtet wurden, ist es leider eine logische Schlussfolgerung, dass all dies auf geistige und kreativ interessierte Muslim:innen zurückschlägt und sie lähmen kann. 

Sezgin-Just beschreibt die Konsequenzen nachvollziehbar wie einfühlsam. Für ihn verebbe so das „muslimische, geistige Potenzial“. Und das, obwohl viele große Lust und das entsprechende Talent hätten, „etwas Bedeutsames zu schaffen“. Sie hätten jedoch keine sonderliche Neigung, „dauerhaft mit dem Gesicht gegen den Wind zu stehen, stets in der Gefahr, dass früher oder später ein Schlammsturm sie erfasst“. Und die Konsequenzen sind ernsthaft: ein strukturelles Verstummen der muslimischen Intellektuellen in der Öffentlichkeit.

Es steht mir nicht zu, die vom Autor diagnostizierte als so resultierende Desillusionierung, Dürre und Sprach- und Ausdruckslosigkeit bewerten oder kommentieren zu können. Weder gehöre ich dem Alter noch den Fähigkeiten nach der beschriebenen Gruppe an. Allerdings deckt sich das mit Erfahrungen vieler Muslime und Musliminnen aus den letzten zehn Jahren, die nach dem Beginn des Projekts „Anerkennung“ auf eine offenere Gesellschaft hofften. Keine Frage, vielen kreativen Einzelpersonen gelang der Einstieg in die mediale Welt. Und ein beachtlicher Anteil konnte sich dort einen bleibenden Namen machen – wenn auch nie ganz frei von gesellschaftlichen Anfeindungen.

Viele andere mussten ihre Bemühungen nach erfolglosen Versuchen wieder einstellen. Und das lag nur selten an innerpersönlichen Gründen oder fehlenden Talenten. Sie, sowie nicht wenige Projekte und Gemeinschaften, machten in den letzten Jahren ernüchternde, wenn nicht entmutigende Erfahrungen. Einige von ihnen reagierten mit der Hinwendung zu kleinteiligen Lösungen ohne Einbindung in größere soziale Zusammenhänge. Andere zogen sich in die Sicherheit der Privatheit zurück oder orientierten sich zu Projekten hin, bei denen die öffentliche Reflexion schlicht egal war.

„Was tun?“

„Macht entsteht da, wo Menschen zusammen handeln“, lautet eine eher optimistischere Prämisse der deutsch-jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Nach genauerer Reflexion lässt sich das gemeinsam mit dem Anspruch an uns Muslime denken, in Gemeinschaft zu sein. Nicht umsonst spricht uns der Schöpfer in Seinem Buch regelmäßig als solche an. Wenn wir den Ursprung von Macht als göttliche Eigenschaft verstehen, die Er verleiht, wem Er will, so lässt sich das kollektive Leben und Handeln als mögliche Voraussetzung verstehen, dass sich dieser Akt der Verleihung von Macht entfalten kann.

Ich denke – nein, ich weiß –, dass sie eine der Antworten auf die Schlussfolgerung von Leonard Sezgin-Just ist, wenn er von der „Pflicht zur kritischen Zeitgenossenschaft“ spricht. Seine Quintessenz ist weder der Elfenbeinturm noch das individualisierte Glasperlenspiel. Und er sagt, warum das so ist: „Niemand, der nicht ernstlich den Weg eines Asketen geht, steht der intellektuelle Eremos gut zu Gesicht.“ Darin hallt auch eine Aussage unseres geliebten Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden, wider, wonach uns der mönchische Weg versperrt ist. Um es mit Rumi zu sagen: „Der Weg Muhammads ist, die Tyrannei von Männern und Frauen zu ertragen.“

Damit „Anzeichen der geistigen Entfremdung aktiv“ entgegen gearbeitet werden kann, braucht es eben jene Gruppensolidarität. Sie schafft die Möglichkeit für einen nötigen Resonanzraum, in dem sich dieses ereignen kann. Nur dann können wir „allen Irritationen und Verprellungen zum Trotz weiterhin selbstbewusst diese Gesellschaft mit unserer Existenz behelligen“. Eltern kennen das von ihren Kindern. Diese entwickeln dann die nötige Resilienz, um mit der „Hitze in der Küche“ fertigzuwerden, wenn wir zu ihnen eine ausreichend große emotionale Bindung aufbauen und bewahren können. Dass der Prophet, Friede und Heil auf ihm, und die Lehrer nach ihm den Wert von Gemeinschaft betonten, ist kein Frömmlertum oder eine idealisierte, rosa Brille. Es ist eine Überlebensfibel zum Bestehen in einer Welt, deren Zumutungen uns nie verlassen werden.

Alexis de Tocqueville sah voraus, wie diese im demokratischen Zeitalter aussehen können: „Der Wille der Menschen wird nicht gebrochen, aber aufgeweicht, verbogen und geführt. Sie werden selten von dieser zum Handeln gezwungen, sondern vielmehr im Handeln zurückgehalten. Eine solche Macht zerstört nicht, sondern sie verhindert Existenz. Sie tyrannisiert nicht, sondern komprimiert, entnervt, erlöscht und verblödet so lange, bis jedes Volk zu einer Herde ängstlicher und fleißiger Tiere reduziert wird, deren Hirte die Regierung ist.“

Damit wir uns diesem Maelstrom entziehen und diese Zeit als „entscheidende Umbruchphase“ betrachten können, braucht es Gegengewichte. Eines davon ist Gebet – als Handlung an sich sowie als Symbol für die Bindung zur Göttlichkeit. Das andere sind „die Leute“, die als Gemeinschaft den zweiten Teil unseres Glaubensbekenntnisses verkörpern. Und mit der nötigen Hoffnung (auf Allah und unser Schicksal) zum gleichen Ende kommen wie Leonard Sezgin-Just: „Aus unserer begrenzten Perspektive auf die gegenwärtige Durststrecke können wir dies nur noch nicht sehen. Die Kunst ist das Weitermachen.“