,

Gemeinschaft, Lehrer und Charakter

Ausgabe 249

Foto: MCB

(iz). Ich möchte keine pädagogische Theorie präsentieren. Vielmehr spreche ich aufgrund jahrzehntelanger Beobachtungen als Mitglied einer Gemeinschaft, als Lehrer, als Ehemann und als Elternteil. In all dem geht es um die Erfüllung der sozialen Verpflich­tungen des Dins, soweit dies möglich ist. Das beinhaltet selbstverständlich auch die Vermittlung von Prioritäten an unsere Kinder und die folgenden Generationen. An diesem Berührungspunkt ereignet sich die Begegnung von musli­mischer Erziehung und der Kunst der Eheanbahnung.

Das Heranwachsen der Kinder in konsumierenden und isolierten Familien macht es, von Ausnahmen abgesehen, unmöglich, dass junge, freie und dynamische Wesen entstehen. Sie sind aber für die Wiederaneignung des Dins nötig. Vielmehr entstehen emotional und sozial gehemmte Individuen. Sie sind der Reife, Verantwortlichkeit oder spontaner Handlung unfähig.

Der Lehrer und Aktivist John Taylor Gatto definierte den Sinn eines zwangsweisen Bildungswesens: „Einübung von Gewohnheiten, Ängsten, Verlangen und Einstellungen, die der Handhabung nützlich sind. Geschulte Menschen sind reflexartig geübt, den Anweisungen eines Fremden zu folgen und ihr Urteil zu suchen. Sie langweilen sich leicht und brauchen ständig Neues, um sich lebendig zu fühlen. Mit nur einem geringen Innenleben ausgestattet, müssen sie mit künstlichen Dingen in Kontakt stehen – Radio, Internet, Handys und andere kommerzielle Unterhaltung.“

Erziehung muss einen Weg zum Erwachsensein weisen. Ganzheitlich entwickelte Erwachsene haben folgende Eigenschaften: Erstens, sie sind entweder männlich oder weiblich und zeigen Anzeichen von Reife. Zweitens, bestätigen sie das Unsichtbare und halten an der Anbetung Allahs fest. Drittens, sind sie sich ihrer Sterblichkeit bewusst. Viertens, suchen und hoffen sie auf die Versorgung durch Allah. Fünftens, schützen und erziehen sie ihre Kinder. Sechstens, fühlen sie sich verantwortlich für Ordnung in der Gesellschaft und kümmern sich um die Wohlfahrt anderer. Siebtens, nehmen sie die Verantwortung für ihre Handlungen freiwillig wahr. Achtens, haben sie die Fähigkeit für die Anerkennung rechtmäßiger Autorität. Neuntens, verfügen sie über einen unterscheidenden Verstand, der in Einklang mit ihrem Verhalten steht.

Imam Al-Ghazali sagt: „Die Annahme effektiver Methoden der Ausbildung für Kinder ist extrem wichtig und notwendig. Denn das Kind ist ein von Allah anvertrautes Gut, das in die Hände von Eltern gegeben wurde. Das kindliche Herz ist wie ein schöner, reiner und klarer Spiegel. Während es frei ist von bleibenden Eindrücken und Formen, kann es Eindrücke und Einflüsse aller Art aufnehmen. Es kann jeglichen Dingen zugeneigt werden, welche man wünscht. Werden dem Kind nützliche Gewohnheiten nahegebracht, wird es im Wissen unterrichtet. Nachdem das Kind solch exzellente Nahrung erhalten hat, sieht es den wahren Erfolg dieses Lebens und des jenseitigen. Seine Eltern und Lehrer haben Anspruch auf einen Teil von Allahs Belohnung für das gute Aufwachsen des Kindes. Das Gleiche gilt für das Gegenteil.“ (Ihja ‘Ulum Ad-Din)

Und es gibt ein bekanntes Hadith: „Jedes Kind wird in der Fitra [der natürlichen Daseinsweise des Menschen] geboren. Es sind seine Eltern, die es zu einem Christen, Juden oder Feueranbeter machen.“

Erziehung bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes Hervorbringung. Sie hat ihre Wurzeln in der Familie. In dieser Hinsicht ist sie das Produkt des familiären Erfolgs oder Scheiterns. In westlichen Gesellschaften wird diese Aufgabe staatlichen Erziehern aber in einem zunehmend beunruhigend frühen Alter übertragen.

Familie beginnt mit Heirat. Wegen der entscheidenden Rolle von Eltern und Verwandten in ihrer Herausbildung kann auch gesagt werden, dass sie mit den Eltern anfängt. Die soziale und psychologische Umgebung der Familie, in der Kinder aufgezogen werden, wirkt auf zukünftige Erwartungen, Entscheidungen und Haltungen in Sachen Ehe. Wie wir alle wissen, gibt es genug Hinweise darauf, dass negative Familienhinterlassenschaften in jeder Generation wiederholt werden. Es gibt einen monumentalen Unterschied zwischen Partnerschaft und gemeinsamer Inspirationen und einer Ehe, in der sich das Paar auf die konventionell anerkannte Falle einigt, in der unterdrückte emotionale Frustrationen, Spannungen, Ressentiments und Unzufriedenheit unter der Oberfläche lauern.

Die simple Wahrheit ist, dass die Funktion muslimischer Gemeinschaften in der Realisierung der Absichten der Schari’a besteht. Daher müssen Form und Handlung der muslimischen Familie mit der Erreichung dieser Ziele übereinstimmen. Das heißt, dass unter heutigen Zuständen Ehen mit der formulierten Absicht angebahnt werden müssen, die höchsten Kriterien zu erfüllen. Die Gemeinschaft als Ganzes, wenn sie überleben will, um ihre höchste Funktion zu erfüllen, hat keine andere Wahl, als diese Form der Erziehung zur Norm zu machen.

Von D.H. Lawrence stammt diese kraftvolle Aussage: „Kein Mann hatte jemals eine Frau, es sei denn, er diente einem großen, überwältigenden Zweck. Andernfalls hat er eine Geliebte. Ganz egal, wie diese mit ihm verheiratet ist, solange er nicht diese Ziele hat und seine Seele ihnen nicht verpflichtet ist, wird sie keine Ehefrau sein. Sie wird nur seine Geliebte sein und er ihr Liebhaber.“ Mit dem Erscheinen dieser Art des Mannes, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu sagen, dessen äußeres Projekt Gerechtigkeit und dessen inneres Wesen Erleuchtung ist, wird die Frau erscheinen, die ihn begehrt.

Zusammen sind sie das, was Schaikh Dr. Abdulqadir As-Sufi als das „gemeinschaftliche Paar“ identifizierte. Hier besteht ein essentieller Aspekt der Eheanbahnung. Bei der Auswahl potenzieller Ehepartner ist unsere elterliche Verantwortung für unsere Kinder berührt. In ihrer Essenz ist es nichts Geringeres als das, was Allah in Seinem Edlen Buch beschreibt.

„Oh ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen schuf, und aus ihm schuf Er seine Gattin und ließ aus beiden viele Männer und Frauen sich ausbreiten. Und fürchtet Allah, in Dessen (Namen) ihr einander bittet, und die Verwandtschaftsbande. Gewiss, Allah ist Wächter über euch.“ (An-Nisa, 1)

„Und es gehört zu Seinen Zeichen, dass Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen Ruhe findet; und Er hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken.“ (Ar-Rum, 21)

„Oh, ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und Allkundig.“ (Al-Hudschurat, 13)

Ein weiteres Element unserer Verantwortung als Eltern besteht darin, unsere Kinder mit den Lehrern und Vorbildern zusammenzubringen. Wir müssen sie in die bestmögliche Gesellschaft von Leuten mit gutem Charakter einführen. Es ist nicht gut genug, dass Kinder einfach in das Schulsystem – staatlich oder nicht – abgeladen werden oder den nächstgelegenen Einrichtungen überlassen werden, die behaupten, „islamische Schulen“ zu sein. Bei jenen Kindern, die noch nicht komplett von der Familie zerstört wurden, übernehmen diese Einrichtungen den Rest. Es sind die Eltern, nicht die Institution, die im Wesentlichen rechenschaftspflichtig sind. Als nächstes stehen die Verantwortungsträger in der jeweiligen muslimischen Gemeinschaft in der Pflicht.

Der spanische Lehrer und Erzieher Muhammad Mujtar Medinilla aus Granada beschrieb dies so: „Wir müssen die Bindungen der sozialen Kohäsion stärken, die im Westen scheinbar nicht wiederherzustellen ist. (…) Unser Modell beruht auf den frühen Traditionen des Islam. Es besteht aus dem Zusammenkommen von Erziehung und Kultur; eine gemeinschaftliche Bildung.“ Es sei wichtig zu verstehen, so Medinilla, dass ein gesellschaftliches Wiedererstarken mit jungen Kindern beginnt. Dafür braucht es das volle Engagement auf Seiten derjenigen, die in Wort und Vorbild die Fähigkeit zur Übermittlung von Erziehung haben.

Das Ziel der Übung muss im größtmöglichen Zusammenhalt aus drei Strängen bestehen: Erziehung, gelehrte Unterweisung und Aneignung praktischer Fertigkeiten. Es ist notwendig, dass die Umfelder, in denen sie stattfinden, das Streben nach gutem Charakter bestätigen, belohnen und anregen. Wir müssen anerkennen, dass die höchsten Standards der Lehre von Seiten derjenigen Erwachsenen kommen können, die ihrerseits gut gebildet und technisch versiert sind.

Lehrer- und Schülerschaft beschreibt die Situation, in der die organisierte (wie organische) Dynamik aus Übertragung, Inspiration und Anleitung zwischen Lehrern und Schülern blühen kann. Schulen, wie wir sie kennen, stellen das eigentliche Gegenstück von dem dar, was benötigt ist. Das gelehrte Umfeld, das als solches keine eigene Gemeinschaft ist, muss im Herzen einer erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Umwelt liegen, ohne dass es von ihren wichtigsten Rhythmen und Realitäten getrennt wäre.

Beim Lehrer dürften wir nicht ängstlich sein, über Berufserfahrung und akademische Qualifikationen hinaus, auf Anzeichen eines praktischen Geistes zu schauen sowie auf die Präsenz eines Umwandlung ermöglichenden Charakters und dessen persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten zur Inspiration. Sie sollten das Potenzial haben, den Schüler zu neuen Entdeckungen zu veranlassen; nicht nur in einem vorgegebenem Thema, sondern auch über sich selbst und die Existenz.

Gerade wegen ihrer Natur ist Futuwwa eine Sache, die die gesamte Realität von Erziehung, das Leben zu Hause sowie das in der Welt als Ganzes mit einschließt. Daher muss sie als bestimmende Eigenschaft wirken, die in jedem Aspekt des Austausches zwischen Lehrern und Schülern wirkt. Das heißt, die Lehrenden nutzen jede Möglichkeit, die sich für die direkte Übermittlung von Futuwwa bietet. Bei ihr handelt es sich um die traditionelle islamische Praxis der Erweckung von Höflichkeit, Dienen, Bescheidenheit, Geduld, Selbstlosigkeit, Mut, physischer Kraft, Empfindsamkeit für Schönheit, Treue, Kameradschaft sowie Sorge für die Schwachen und Großzügigkeit bei der Jugend.

Dieses Beispiel illustriert die allgemeine Anerkennung und den hohen Wert, der den persönlichen Eigenschaften zugeschrieben wurde. Sir Wilfried Thesiger, der als der letzte der großen, unerschütterlichen britischen Entdecker galt, schrieb in seinen Erinnerungen: „Als ich mich ihnen anschloss [den Wüstenarabern], wollte ich keine Zugeständnisse. Ich wollte leben wie sie, mich der Härte der Wüste im gleichen Maße wie sie aussetzen. Ich wusste, ich war ihnen in körperlichem Durchhaltevermögen nicht ebenbürtig. Aber ich dachte, dass ich dank meines familiären Hintergrunds, Eton, Oxford und dem politischen Dienst im Sudan ihnen vielleicht in zivilisiertem Verhalten gleichkam. Als die Prüfung kam – mit beinahe Verhungern, Durst, der die Kehle verstopfte, Müdigkeit und Enttäuschung – war es demütigend, dieses Ziel zu verfehlen. Zu oft verkroch ich mich oder wurde ärgerlich, als sie unerwartete Fremde mit unseren schwindenden Vorräten versorgten. (…) Sie bestanden darauf, dass diese unsere Gäste seien, und dass es in der Tat ein ‘gesegneter Tag’ für uns sei.“

Hier ist es wichtig zu betonen, dass es sich bei ihnen nicht bloß um eine Liste von „Themen“ handelt, die mit den herkömmlichen zu vergleichen wären. Es ist grundlegend zu verstehen, dass die entscheidenden Unterschiede in der Absicht bestehen, die das gesamte Unterrichtsprogramm antreiben, sowie in der grundlegenden Logik jedes Studienganges, der Wahl von Lehrmethoden und Materialien, dem zu erwartenden Charakter des Lehrpersonals sowie des Respekts, den es von Schülern, Eltern und den Leuten insgesamt erhält.

Ich möchte gerne durch ein Beispiel illustrieren, welchen wichtigen Rang wir der Sprache in jedem Lehrplan beimessen, den wir für die Erziehung von Muslimen entwerfen. Im Abschnitt seines Buches „Asch-Schifa“, der die vollkommenen Charaktereigenschaften des Propheten behandelt, überlieferte Qadi ‘Ijad: „Der Vorrang des Propheten in Eloquenz und flüssiger Rede ist allgemein bekannt. Er sprach flüssig, war geschickt in der Debatte, prägnant, klar im Ausdruck, erhellend, benutzte korrekte Bedeutungen und war frei von jedem gekünstelten Verhalten. Ihm wurde Meisterschaft über die Diktion gegeben und zeichnete sich durch die Hervorbringung wunderbarer Weisheiten aus. Er lernte die Mundarten der Araber und sprach zu jeder Gemeinschaft in ihrem Dialekt und verwendete die jeweilige Ausdrucksweise. Er entgegnete ihren Argumenten, indem er ihren Rhetorikstil so sehr benutzte, dass eine große Zahl seiner Gefährten ihn mehr als einmal bitten musste, ihnen zu erklären, was er gesagt hatte.“

Beherrschung des gesprochenen und geschriebenen Wortes ist eines der gravierendsten Opfer der Prioritäten in moderner Bildung. Sprache ist das wichtigste Mittel, durch das wir interagieren und unsere Gedanken, Gefühle und Ideen vermitteln. Es gibt unzählige Arten und Weisen, in denen wir von ihr abhängig sind. Daher kann es schwerlich überraschend sein, dass Beredsamkeit in der gesamten Geschichte eine allgemein anerkannte Leistung war. Dabei wurde höchster Wert auf Präzision, Klarheit, Schönheit im Ausdruck sowie Überzeugungskraft gelegt.

Viele der beschriebenen Aspekte sind immer noch in den traditionellen Lehrmethoden der islamischen Wissenschaften angelegt. Das ist in meinen Augen eines der besten Beispiele dafür, wie gut wir Muslime geeignet sind, das Beste dessen zu identifizieren und wiederzuerlangen, was verloren ging oder im Marsch des „Fortschrittes“ vernachlässigt wurde. Wir brauchen das Vertrauen in unser muslimisches Erbe, um diese Aufgabe zu unserem Nutzen und Segen der Gesellschaft als Ganzes aufzunehmen.