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Gewalt: Der Fluch der Grenzen

Ausgabe 333

Grenze
Foto: Sergey Chayko, Shutterstock

Spannungen brodeln ständig entlang den Grenzen zwischen Indien und Pakistan, Israel und Palästina, Äthiopien und Eritrea, um nur einige zu nennen.

(IPS). Im November letzten Jahres näherten sich Soldaten der Bewegung 23. März (M23) Goma im östlichen Gebiet der Demokratischen Republik Kongo (DRC) nahe der ruandischen Grenzen. 180.000 Menschen verließen die Stadt, in der außerhalb von Konflikten rund eine Million Einwohner leben. Von Jan Lundius

An dem Konflikt haben viele teil. Es droht die Gefahr, dass das Gemetzel, das vor 15 Jahren entlang der kongolesischen Grenzziehung herrschte, wieder aufgenommen wird. Zeitgleich wütet ein Krieg in der Ukraine. Ihr Name leitet sich vom alten slawischen Wort für Grenze ab.

Grenzen aus Brandherd für Kriege und Konflikte

Umstrittene Grenzgebiete waren häufig Brandherd für schreckliche und umfangreiche Kriege. Der Erste Weltkrieg begann mit einem Streit zwischen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und Serbien, während der Zweite Weltkrieg durch Nazivorwürfe an die Tschechoslowakei und Polen wegen der Misshandlung deutscher Minderheiten in beiden Ländern ausgelöst wurden.

Spannungen brodeln ständig entlang den Grenzen zwischen Indien und Pakistan, Israel und Palästina, Äthiopien und Eritrea, Armenien und Aserbaidschan, um nur einige Konflikte aus aller Welt zu nennen.

Foto: MONUSCO/Sylvain Liechti

Im Laufe der Geschichte haben diese Zonen unter Plünderungen, Massakern und ethnischer Gewalt gelitten. Häufig wurden sie durch Einfälle von Nachbarländern ausgelöst und verursachten Chaos sowie Zerstörung. Grenzgebiete sind generell das Ergebnis klar definierter Grenzen zwischen europäischen Nationen, die nach dem Westfälischen Frieden von 1648 festgelegt wurden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, einen Flächenbrand unter religiösen Gruppierungen, der Deutschland verwüstete und 30 Prozent seiner Bevölkerung tötete.

In der Vormoderne waren Grenzlinien diffus

Vor Mitte des 17. Jahrhunderts waren Europas Grenzlinien recht diffus. Ein königliches Gebiet hatte sein Kernland; ein Zentrum, von dem es sich durch Kriege, Verträge und Verhandlungen ausbreiten konnte. Im Mittelalter gab es dort etliche unklare Zonen zwischen den Herrschaftsgebieten: die Marken. Das Wort leitet sich aus einem indoeuropäischen Stammwort für Ecke ab. Sie dienten häufig als Pufferzonen, die teils unabhängig von einem Markgraf regiert wurden.

Als Ergebnis des Westfälischen Friedens wurden nationale Trennungen durch Markierungen und Linien gekennzeichnet, die man auf Karten zog. Diese Demarkationen fanden Einzug im Rest der Welt. In Afrika wurden sie nach dem Berliner Kongress 1884-5 Realität, als Führer von 14 europäischen Nationen und die Vereinigten Staaten sich auf eine Aufteilung des Kontinents einigten. Sie schufen Regeln für die konfliktfreie Teilung von Ressourcen unter den westlichen Mächten. Daran nahm kein einziger afrikanischer Vertreter teil.

Foto: Wikimedia Commons

Angebliche „Zivilisierung“ führte zu Barbarei

Eines der behaupteten Ziele der Berliner Konferenz war die „Zivilisierung“ Afrikas – in Form von Freihandel und Christentum. Dementsprechend konnte König Leopold II. von Belgien – in dem er sich als wohltätiger Monarch ausgab – seine Verhandlungspartner davon überzeugen, dass er persönlich Ordnung, Glauben und Wohlfahrt ins Herz von Afrika bringen werde. In Folge wurde der Kongo als sein Privatbesitz anerkannt.

Das außerordentlich reiche Gebiet mit Elfenbein, Mineralien, Palmöl, Holz und Gummi wurde von ihm zur Anhäufung von privatem Reichtum genutzt. Man schuf Missionen und Handelsrouten, während Rohstoffe durch Sklavenarbeit gefördert wurden. Verpasste man Produktionspläne, riskierte die einheimische Bevölkerung schwerwiegende Strafen – von Festnahme der Familien in Konzentrationslagern, über Folter, dem Amputieren einer Hand bis zur Hinrichtung.

Zwischen 1900 und 1930 führten die europäischen Kolonialmächte kartografische Vermessungen von Afrika durch. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf die Landkontrolle und ließen die Konsequenzen neuer Grenzen auf die ursprüngliche Bevölkerung außer Acht. Lokalen Gemeinschaften schränkte man in ihren täglichen Aktivitäten und nomadischen Praktiken ein.

Traditionelles Leben, Verwaltungsstrukturen und wirtschaftliche Sicherheit wurden negativ beeinflusst. Darüber hinaus neigte die Kolonialherrschaft dazu, Konflikte zu schüren. Die aufgezwungenen Grenzen führten immer mehr zu feindseligen Beziehungen zwischen Grenzbewohnern. Das ermöglichte es Regierungen und politischen Eliten nach der Unabhängigkeit, diese Spaltungen auszunutzen.

Die schiere Größe des Gebiets, das zur DRC wurde, machte die Verwaltung zu einer enormen Herausforderung. Das Riesenland ist etwa so umfangreich wie Westeuropa und hat 10.500 Kilometer Außengrenzen. In der Mitte befindet sich ein fast undurchdringliches Dschungelgebiet. Grenzkontrollen gibt es kaum, sodass die Nachbarn die Möglichkeit haben, in abgelegenen Randgebieten Einfluss zu nehmen. Für viele Kongolesen ist es leichter, die Hauptstadt eines Nachbarstaates zu erreichen, als in die eigene Kinshasa zu reisen.

Wie in anderen Regionen der Welt tauschen die Menschen auf beiden Seiten der Grenzlinien Waren, Ehepartner, Sprachen und Bräuche aus. Trotz aller Vermischung und des Austauschs sind sich die meisten, die entlang der Grenze leben, im Allgemeinen weiterhin ihrer Wurzeln in verschiedenen Kulturen bewusst.

Foto: NATO

Schwärende Wunde

Auch wenn sie eine gemeinsame Verkehrssprache haben, neigen einige dazu, ihre ursprüngliche Sprache und ihre spezifischen Bräuche beizubehalten. Grenzgemeinschaften befinden sich daher in einem prekären Gleichgewicht, das zwar über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten werden kann, aber Gefahr läuft, durch bewaffnete Angriffe nationaler Armeen, Warlords oder Banditenhorden sowie entwurzelter ehemaliger Soldaten schnell zu kippen.

Während des so genannten Ersten und Zweiten Kongo-Krieges und folgenden Konflikten starben zwischen 1994 und 2008 etwa 5,4 Millionen Menschen. Vor allem durch Krankheiten und Unterernährung, aber auch durch Massaker aller Kriegsparteien, denen eine große Zahl von Zivilisten zum Opfer fiel.

Neun afrikanische Staaten und etwa 25 bewaffnete Gruppen waren daran beteiligt. Das kongolesische Chaos ist nur ein Beispiel dafür, was in Grenzgebieten geschehen kann, wenn Kontrolle und friedliche Interaktion zwischen Nachbarn unter dem Druck von ausländischen Eingriffen zusammenbrechen und zu blutiger Anarchie werden.

Foto: Tomas Ragina, Shutterstock

Ukraine: Auch Europa kennt historische Grenzkonflikte

Wie in Zentralafrika haben auch in der Ukraine Grenzkonflikte mehrfach zu Massakern und blutigem Chaos geführt. Mehr als 500 Jahre lang war die Ukraine geteilt und wurde von verschiedenen externen Mächten beherrscht, darunter die Polnisch-Litauische Föderation, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, das Kosaken-Hetmanat, Polen, das Zarenreich, die Sowjetunion und Nazi-Deutschland.

Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1921 flohen unzählige Menschen aus der Ukraine, darunter zwei Millionen Juden. Ukrainer wurden in Massen von Österreichern, Polen und Konfliktparteien getötet. Währenddessen wurden ca. 110.000 Juden Opfer der sogenannten Pogrome. Aber es sollte noch Schlimmeres kommen, als die Nazi-Besatzer in den gleichen Gebieten mindestens 1,7 Millionen Juden ermordeten.

In der von den Nazis besetzten Ukraine starben zwischen 1941 und 1945 5,7 Millionen Einwohner. Und jetzt wurde das Leiden und Abschlachten der Unschuldigen nach dem russischen Überfall wieder aufgegriffen.

Der Fluch der Grenzen zwischen Nationen und Völkern sucht uns weiterhin heim. Um die Zukunft für unsere Kinder und die Erde zu sichern, müssen wir lernen, dass das allgemeine Wohlergehen von der Zusammenarbeit abhängt – unabhängig von Ethnie, Geschlecht und Ideologie.

Kriege wie der rücksichtslose Angriff Russlands auf eine souveräne Nation sowie das Chaos in Zentralafrika sind Verbrechen gegen die Menschheit und müssen durch friedliche Lösungen beendet werden.