,

Glasgow: Ist Berlin Vorreiter beim Klimaschutz?

Foto: ukcop26.org

Berlin sucht sich auf der UN-Klimakonferenz als Vorreiter beim Klimaschutz zu präsentieren. Kritiker weisen auf deutsche Klimaschutzblockaden und gebrochene Finanzzusagen hin.

GLASGOW/BERLIN (GFP.com). Auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow sucht sich die Bundesregierung zum wiederholten Mal als Vorreiterin beim globalen Klimaschutz zu präsentieren. Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt zu Beginn der Konferenz mit gleich zwei Reden auf; die geschäftsführende Umweltministerin Svenja Schulze erklärt, die Bundesrepublik sei bestrebt, bereits bis 2045 klimaneutral zu werden – „fünf Jahre früher als auf EU-Ebene“. 

Beobachter geben sich skeptisch: Berlin hat in der Vergangenheit im Interesse der deutschen Kfz-Industrie jahrzehntelang eine Verschärfung der CO2-Normen in der EU blockiert; bei den Berliner Koalitionsverhandlungen sind einfache Maßnahmen wie ein verbindliches allgemeines Tempolimit schon jetzt vom Tisch.

Haben zahlreiche Schwellenländer ihre Reduktionsziele nicht ausreichend konkretisiert oder unzulängliche Pläne vorgelegt, so haben die reichen Industrieländer Finanzzusagen gebrochen, die Klimaschutzprogramme in Entwicklungsländern ermöglichen sollen. Abgesehen davon nimmt die Stromerzeugung aus der besonders klimaschädlichen Kohle zu – in China, in den USA und vor allem in der Bundesrepublik.

Merkel im Rampenlicht

Trotz des anstehenden Koalitionswechsels in Berlin bemüht sich die kommissarisch agierende Bundesregierung, eine möglichst starke Präsenz auf der Klimakonferenz im schottischen Glasgow (COP26) zu zeigen, die am Sonntag begonnen hat und bis zum 12. November andauern wird. So wollte die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel bei dem knapp zweiwöchigen Gipfeltreffen gleich zwei Reden halten – am Montag gleich zu Beginn vor den angereisten Staats- und Regierungschefs, anschließend bei dem PR-Event „Action and Solidarity – the Critical Decade“.

Alle Bundesregierungen waren in den vergangenen Dekaden bemüht, bei solchen Gipfeltreffen die Bundesrepublik als Vorreiterin beim Klimaschutz zu präsentieren. Neben Merkel sind Dutzende weitere Staats- und Regierungschefs nach Glasgow gereist, die ebenfalls die Öffentlichkeit in Ansprachen adressieren, darunter US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Laut Auskunft eines Regierungssprechers will sich Berlin unter anderem für den „Ausbau der Finanzzusagen für ärmere Staaten“ einsetzen; die Mittel sollen Klimaschutzprogrammen und der Umstellung auf regenerative Energien zugute kommen. Die deutsche Wirtschaft hofft, sich eine führende Marktposition als Exporteur von Klimatechnologien sichern zu können. Überdies wolle Kanzlerin Merkel den Druck auf China erhöhen, damit sich Beijing „auf verbindliche Ziele zur Emissionsminderung bis 2030“ verpflichte, hieß es weiter.

Berlin als „Brückenbauer“

Man werde trotz des Umstandes, dass in Glasgow nur eine geschäftsführende Regierung auftrete, nicht als „lame duck“ – die sprichwörtliche „lahme Ente“ – agieren, heißt es in Berlin: Man sei „voll handlungsfähig“. Neben der Ankündigung einer „substanziellen“ Erhöhung der klimapolitischen Finanzhilfen für Schwellen- und Entwicklungsgelder von zuletzt sieben Milliarden Euro pro Jahr will Berlin auf der COP26 auch mit Beschlüssen zur beschleunigten Energiewende punkten. Deutschland komme „mit einem starken, neuen und rechtsverbindlichen Klimaziel nach Glasgow“, beteuerte die geschäftsführende Umweltministerin Svenja Schulze (SPD): Man wolle bereits bis 2045 klimaneutral werden – „fünf Jahre früher als auf EU-Ebene“.

Deutschland sei in der Lage, auf der Klimakonferenz „Brücken zu bauen zwischen den einzelnen Lagern“, da man „die Erfahrung und die Vertrauensbasis“ dafür habe. Umweltverbände fordern indes von Berlin, sich konkret dafür einzusetzen, dass in Glasgow die im Pariser Abkommen festgeschriebenen Klimavorgaben nicht durch einen globalen Markt für CO2-Emissionsrechte ausgehöhlt werden. Es bestehe die Gefahr, dass reiche Länder sich bei einem „Ablasshandel“ mit CO2-Kompensationen von ihren Klimaschutzverpflichtungen freikauften, warnt etwa Greenpeace.

Deutsche Industrie in Sorge

Klimapolitiker von Bündnis 90/Die Grünen äußern überdies die Hoffnung, die Klimakonferenz in Glasgow könne auch die parallel geführten Berliner Koalitionsgespräche positiv beeinflussen. Die COP26 sei eine „Chance“, „Impulse für den Klimaschutz in Deutschland“ zu liefern, erklärte die klimapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Lisa Badum. Solche Stellungnahmen sind freilich auch Ausdruck der starken Widerstände, die einer konsequenten Klimapolitik vor allem aus deutschen Wirtschaftskreisen entgegengesetzt werden. Ohnehin hat sich Berlin unter den Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel im Interesse der innovationsfaulen deutschen Autoindustrie jahrzehntelang als klimapolitischer Bremsklotz betätigt, indem es EU-weite Verschärfungen der CO2-Normen torpedierte.

Bei den laufenden Koalitionsverhandlungen blockiert vor allem die FDP eine konsequente Klimapolitik, weshalb inzwischen unter anderem ein verbindliches Tempolimit vom Koalitionstisch ist. Konservative Leitmedien begleiten die Koalitionsgespräche mit Klagen über hohe Kosten, die auf Schlüsselbranchen der deutschen Industrie im Verlauf der angepeilten Wende zu regenerativen Energien zukämen.

Allein die deutsche Stahlbranche wird demnach Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Euro tätigen müssen, weshalb die Stahlkonzerne, wie es heißt, nach „Betriebsbeihilfen“ riefen und fürchteten, „von Billigimporten aus weniger ambitionierten Regionen überrollt zu werden“. Ähnlich verhält es sich auf dem Autosektor, wo Branchenvertreter milliardenschwere staatliche Investitionen unter anderem in „Ökostrom, Ladesäulen, Wasserstoff, E-Fuel und bei der Digitalisierung“ fordern.

Glasgow als „letzte Chance“

Dabei gilt die Glasgower Klimakonferenz Beobachtern als „letzte Chance“ für das Weltklima. Die rund 140 Staaten, die sich an dem Treffen beteiligen, sollen die weitere Umsetzung des Pariser Klimaabkommens diskutieren und konkretisieren, das eine Beschränkung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius vorsieht. Dazu sollen im Konferenzverlauf im Idealfall neue, verschärfte Klimaschutzziele beschlossen werden, um die akut gefährdeten Reduktionsziele doch noch zu erreichen.

Bislang haben dies vor allem Industrieländer wie die Bundesrepublik und die USA im Rahmen nationaler Selbstverpflichtungen getan; dies soll nicht zuletzt dazu dienen, Schwellenländer wie Indien und insbesondere China unter Druck zu setzen. Die bisherigen Zusagen reichen Experten zufolge „bei Weitem“ nicht aus: Sollten in Glasgow keine weiteren Selbstverpflichtungen hinzukommen, dann werde der CO2-Ausstoß „2030 um 16 Prozent höher liegen als 2010“; das wiederum lasse die Welt auf einen katastrophalen Temperaturanstieg von rund 2,7 Grad zutreiben.

Druck auf China

Streit ist, wie es heißt, auch bei der Frage der Verpflichtungsperioden für Verschärfungen beim Klimaschutz programmiert. Schwellenländer wie China fordern möglichst lange Laufzeiten von rund zehn Jahren, während die westlichen Industriestaaten eher kurze Perioden von fünf Jahren favorisieren. Weitere Konfliktfelder bilden der Emissionshandel bzw. die Option, mit Verschmutzungsrechten zu handeln; das könnte vor allen Industrieländern die Option eröffnen, sich von den eigenen Emissionen „freizukaufen“. Bislang konnte keine Einigung auf Regeln für den Emissionshandel erzielt werden.

Schließlich wird es in Glasgow auch ganz konkret ums Geld gehen: Von den jährlichen Transfers in Höhe von rund 100 Milliarden Dollar von 2020 bis 2025, die den Entwicklungsländern zuletzt zum Zweck des Klimaschutzes von Industriestaaten versprochen wurden, ist bislang nur ein Teil geflossen. Auch hier fordern die westlichen Industrieländer, insbesondere China müsse sich künftig stärker an den Finanztransfers beteiligen.

Vergessene klimapolitische „Hausaufgaben“

Freilich sind nach Ansicht von Beobachtern nicht nur die Schwellen-, sondern auch die Industrieländer kaum bereit oder in der Lage, die notwendigen radikalen Maßnahmen für einen nachhaltigen Klimaschutz zu implementieren. Die meisten an der Konferenz teilnehmenden Staaten hätten ihre klimapolitischen Hausaufgaben nicht gemacht, heißt es trocken. So fehlten etwa Reduktionsverpflichtungen von „Schwergewichten“ wie China, Indien und Saudi-Arabien; zudem hätten Staaten wie Australien, Brasilien, Mexiko und Russland neue Klimaziele eingereicht, die „keine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung zu den alten Zielen“ darstellten.

Anstatt des daraus resultierenden Emissionsanstiegs von 16 Prozent bis 2030 sei jedoch ein massiver Rückgang des CO2-Ausstoßes von 45 Prozent gegenüber 2010 notwendig, um die Klimaziele zu erreichen. Ein „Glaubwürdigkeitsproblem“ hätten allerdings vor allem die reichen westlichen Staaten, da sie ihre Finanzierungszusagen gegenüber den Entwicklungsländern nicht eingehalten hätten. Sprecher der Nichtregierungsorganisation Oxfam erklärten, gebrochene Finanzzusagen der Zentren gegenüber der globalen Peripherie bildeten eine „schwere Hypothek für die Klimakonferenz“ und stellten den Erfolg des Gipfels in Frage.

Der Markt fordert mehr Kohle

Unterdessen belegt die global in hohem Tempo ansteigende Nachfrage nach dem besonders klimaschädlichen fossilen Energieträger Kohle, dass ein nachhaltiger Klimaschutz mit dem Wachstumszwang der globalen Marktwirtschaft kaum vereinbar ist. Der Preis pro Tonne Kohle ist von rund 50 US-Dollar im Herbst 2020 auf inzwischen mehr als 220 US-Dollar angestiegen – das Ergebnis eines rasch zunehmenden Verbrauchs. Dabei führen insbesondere die staatlichen Konjunkturprogramme, die in Reaktion auf die Covid-19-Pandemie aufgelegt wurden, zu einem schnellen Anstieg der Kohleverbrennung.

In China wird auf Anweisung der Regierung in Beijing mehr Kohle gefördert, um die Energieengpässe der vergangenen Monate zu mildern. In den Vereinigten Staaten soll die Stromerzeugung aus Kohle in diesem Jahr um 22 Prozent zunehmen; in Deutschland, das sich gerne als Vorreiter beim Klimaschutz darstellt, wird die Verstromung von Braun- und Steinkohle sogar um 41 Prozent steigen. Der besonders emissionsintensive Brennstoff erlebt, wie Beobachter konstatieren, aufgrund des Nachfrageschubs ein „Comeback“.