
Der Autor und Literaturwissenschaftler Peter Schütt wurde am 10. Dezember 1939 in Basbeck am Moor geboren. Der Sohn eines Lehrers dissertierte 1967 über den Barockdichter Andreas Gryphius zum Doktor der Philologie. Zwischen den späten 1960er und 1980er Jahren engagierte er sich in der Friedensbewegung und der DKP, die er wegen eines Streits um die Perestroika-Politik von Gorbatschow verließ. 1990 nahm er den Islam an.
Als Abschluss unserer fünfteiligen Reihe mit AutorInnen und DichterInnen befragt ihn Layla Kamil Abdulsalam.
Islamische Zeitung: Erzählen Sie uns etwas über Ihren persönlichen und beruflichen Werdegang.
Peter Schütt: Ich gehöre zu den älteren Semestern und habe schon eine ziemlich bewegte Lebensgeschichte hinter mir. Ich bin in einem winzigen Dorf an der Niederelbe geboren, und diese Herkunft hat mich vermutlich tief geprägt. Ich habe mein Leben nach meiner richtigen Religion gesucht. Mit dem Beginn meines Studiums bin ich zunächst katholisch geworden und wenig später der damals verbotenen Kommunistischen Partei beigetreten. Als ich das Ende des Realsozialismus kommen sah, habe ich mich endgültig zum Islam bekannt.
Ich habe in Stade mein Abitur gemacht, in Göttingen, Bonn und Hamburg Literaturwissenschaft und Geschichte studiert. Promoviert habe ich über die Barockdramen von Andreas Gryphius, darunter die Tragödie „Katharina von Georgien“, in der der persische Schah Abbas die keusche Katharina in seinen Harem zu locken versucht. Ich war in der Studentenbewegung aktiv und am Sturz des Denkmals für den Kolonialschlächter Hermann von Wissmann im Garten der Universität beteiligt. Deswegen habe ich meine Assistentenstelle an der Uni verloren und arbeite seither als freier Autor. In guten wie in schlechten Zeiten.
Von früh an habe ich wunderbare Begegnungen mit dem Islam gehabt. Von meinem Heimatort sind es 15 Kilometer bis Lüdingworth, dem Heimatort von Carsten Niebuhr, dem ersten deutschen Hadji, so haben ihn Herder und Goethe genannt, dem wir die erste deutschsprachige Beschreibung von Mekka und Medina verdanken. Und dann ist mir ein regelrechtes Mysterium passiert. Meine Heimat, das Zweistromland zwischen Elb- und Wesermündung, das nördliche Mesopotamien, wurde 1945 von amerikanischen und britischen Truppen befreit. Zur Britischen Armee gehörten auch Angehörige der Ghandi-Armee, ein Teil der Truppen, die Ghandi nach langem Zögern für den Kampf gegen den Faschismus zur Verfügung gestellt hat. Sie blieben bei uns als Besatzer. Als 1947 der Bürgerkrieg zwischen Indien und Pakistan ausbrach, hat die britische Regierung etwas Vernünftiges getan. Um zu verhindern, dass die kampferprobten Soldaten aus Indien in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und den Krieg weiter anheizten, wurden sie in Norddeutschland „geparkt“. So bekam unser winziges Dorf mit weniger als hundert Einwohnern 12 indopakistanische Besatzer, die Hälfte von ihnen Turbanträger, vermutlich Sikhs. Sie hatten uns Kinder in ihr Herz geschlossen, gaben uns manche exotische Leckerei zu naschen und verzauberten uns mit ihrer einheimischen Musik. Im Gasthaus gegenüber habe ich sie immer wieder bei ihren bewegten Gebeten beobachtet. Seither bin ich fasziniert von orientalischer und mystischer Kultur, Lebensweise und Religion.
Islamische Zeitung: Welche Begegnungen mit Literatur haben Sie als Kind geprägt?
Peter Schütt: In meiner Kindheit zogen die plattdeutschen Heimatdichter mit einem Rucksack voller Bücher von Dorf zu Dorf. Rudolf Kinau kam nachmittags zu Fuß aus dem Nachbarort an, nahm bei uns, im Haus des Lehrers, Quartier, ging zum Abend herüber ins Gasthaus, las dort vor den Großen, und dann, am nächsten Morgen, kam er zu uns Kleinen in die einklassige Volksschule. So habe ich mir damals den Beruf eines Dichters vorgestellt.
Ich bin ein Weihnachtskind. In der Winterzeit, in der wir in Basbeck am Moor oft tagelang wegen Hochwassers von der Außenwelt abgeschnitten waren, war das Fest der Christgeburt der Höhepunkt der kalten Jahreszeit. Jedes Jahr zum Nikolaustag hat meine Mutter im Dorfgasthof ein Krippenspiel inszeniert, an der die ganze Familie beteiligt war: ich als der fromme und meistens stumme Josef, meine beiden Schwestern abwechselnd als Maria oder Engel Gabriel und unser Hund und unsere beiden Schafe als tierische Zeugen. Ich hab mit acht oder neun Jahren begonnen, meiner Mutter bei der Textgestaltung zu helfen. An meine ersten Verse kann ich mich noch erinnern.
Seht, wie die Meise pickt am Eise.
Das ist des Winters Wundermacht,
dort an das Fenster angebracht.
Das Thema Weihnachten hat mich seither nicht mehr losgelassen. In der Studentenbewegung habe ich „Garstige Weihnachtslieder“ verfasst, die der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt in sein Programm aufgenommen hat. Später habe ich „Das andere Weihnachtsbuch“ herausgegeben, vor allem mit Texten aus der Weltliteratur. Und zuletzt habe ich mein Weihnachtsspiel nach dem Qur’an geschrieben: „… und Jesus ist mein Prophet“.
Literatur hat für mich schon früh eine Rolle gespielt. Mein Onkel, der pazifistische Schriftsteller Alfred Vagts, der vor den Nazis in die USA geflüchtet war, hat mich von Kindheit an mit Lesefutter versorgt. Elisabeth Rühmkorf, die Mutter von Peter Rühmkorf, Lehrerkollegin meines Vaters im Nachbarort, hat mich mit nach Worpswede genommen, dem Künstlerdorf dreißig Kilometer südlich. Mein erstes Buch mit Rilke-Gedichten, ein Reclamheft für 25 Pfennig, habe ich dort erworben, und die Bilder von Heinrich Vogeler, die mir seine Witwe Martha zeigte, waren für mich gemalte Gedichte.
Islamische Zeitung: Welche wiederkehrenden Motive, Metaphern und Themen finden sich in Ihren Texten?
Peter Schütt: Meinen Texten sieht man an, dass ich von ganz unten, aus kleinen und armen Verhältnissen komme. Ich war immer auf Seiten der Mühlseligen und Beladenen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Als Katholik, als Kommunist und als Muslim.
Bei mir gibt es eine Reihe wiederkehrender Motive. Zuallererst der Mond. Ihm hab ich mehrere Gedichte gewidmet, und in meiner Autobiographie taucht der Mond, darauf hat mich ein Kritiker hingewiesen, in jedem Kapitel auf. Das Wetter spielt bei mir immer wieder eine Rolle. Ich habe als Sohn eines Dorfschullehrers schon früh die Meldungen für den Deutschen Wetterdienst übernommen und habe die Wetterberichte für die Heimatzeitung geschrieben. Für meinen Rettungseinsatz bei der Großen Sturmflut im Februar 1962 habe ich meinen bislang einzigen Orden bekommen. Tiere sind mir immer wieder über den Weg gelaufen. Ich bin mit Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen, Hühnern und Hund und Katze aufgewachsen. Mit den Pferden von den Nachbarhöfen haben wir Kinder regelrecht geschmust, und dann und wann durfte ich sogar auf der Diele mit den Tieren schlafen. Ein Rind oder ein Pferd strahlen im Stall so viel Wärme aus wie ein Kachelofen. Heute räume ich auf meinem Balkon den Ameisen eine eigene Straße ein. Und Fridolin, die Dohle, hat mich zum Fressen gern und hüpft mir manchmal auf die Schulter, um an meinem Hörgerät zu zupfen.
Meine wichtigste Antriebskraft ist die Liebe, die Liebe zu Menschen, Tieren und Pflanzen, zu meiner niederelbischen Heimat mit der Schwebefähre über den Ostefluss, aber auch zur großen weiten Welt, von der ich Gott sei Dank eine ganze Menge zu sehen bekommen habe.
Islamische Zeitung: Wie entstehen Ihre Texte? Gibt es besondere Quellen der Inspiration?
Peter Schütt: Mein Nachbar auf dem Dorf war ein Bauer, ein kluger Kerl voller übersinnlichem Wissen. Er hatte im Krieg ein Bein verloren. Das Bein, sagte er, ist nicht mehr da, aber die Schmerzen fühle ich trotzdem. Es gibt viele Dinge, die man nicht sehen kann, aber sie sind trotzdem da. So hat er mich zum Nachsinnen gebracht, und ich lernte von ihm, das Gras wachsen und die Engel im Himmel musizieren zu hören.
Er war im Krieg als britischer Gefangener nach Ägypten gekommen, in ein Lager neben einer Moschee. Dort hatte er den Adhan gelernt und hat ihn immer rezitiert. Meine Inspirationen kommen selten von ganz hoch oben, sondern eher aus dem nahen Umfeld, von meiner Lebensgefährtin, von meinen Kindern, meinen Schwestern und meinen Mitbewohnern, aber auch von schreibenden Kolleginnen und Kollegen. Ich habe immer ein Notizheft dabei und halte darin etwa beim Busfahren meine Eindrücke und Einfälle fest. Es kann dauern, bis eine Notiz zum Text reift. Ein Gedicht sollte fließen. Darum, meine ich, sollte zumindest die erste Fassung mit der Hand geschrieben werden und aus dem Herzen kommen.
Meine Autobiographie trägt den Titel „Von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka. Stationen einer Lebensreise“. Ich bin gern unterwegs, ein Auto bin ich selber nie gefahren, stattdessen gehe ich lieber zu Fuß, fahre mit dem Rad oder benutze öffentliche Verkehrsmittel. Ich lebe in einem sozialen Brennpunkt mit dem Waschhaus als Treffpunkt für Mieter. Dort lade ich am Sonntagnachmittag bei Tee und Gebäck regelmäßig zu Lesungen mit schreibenden Kolleginnen und Kollegen ein, zu denen nicht zuletzt meine nächsten Nachbarn kommen. Wir sind ein multikulturell privilegierter Stadtteil, mit Zuwanderern aus Türkiye, Afghanistan, Libanon, Syrien und dem Iran, aber auch aus afrikanischen Ländern. Die Gespräche mit ihnen sind für mich eine beständige Inspirationsquelle.
Islamische Zeitung: Gibt es ein Gedicht, das für Sie eine besondere Bedeutung hat?
Peter Schütt: 1977 habe ich mich in eine afroamerikanische Frau verliebt und sie geheiratet. Mein Hochzeitsgeschenk war ein Gedicht mit dem Titel „Die Schönheit der schwarzen Frau“. Damals erregte mein Lobgesang einiges Aufsehen. Meine Frau hat es ins Englische übersetzt, und ich habe das Gedicht auch in den USA auf dem Gründungskongress der Alliance against political and racial Repression in New York vorgetragen. Nach mir kam Angela Davis zu Wort und lobte meine Verse als Fanal einer neuen Zeit. Auch auf dem ersten Bundeskongress der IAF, der Initiative der mit Ausländern verheirateten Frauen, 1979 in Frankfurt, habe ich das Gedicht rezitiert. Ein Kritiker der linken Zeitschrift „konkret“ spottete: „Schütts Menschenbild ist einfach gestrickt. Geht es um das Geschlecht, dann sind Frauen die besseren Menschen, geht es um die Hautfarbe, sind die Farbigen die besseren Menschen“. Er hatte Recht, ich denke und fühle heute nicht anders. Auch der Islam ist für mich nicht zuletzt eine nichtweiße Religion, eine lebendige Alternative zum 500 Jahre Kolonialismus, Rechthaberei und Bevormundung, die von Europa ausgegangen ist – bis heute.
Islamische Zeitung: Wenn man die Titel Ihrer Veröffentlichungen sieht, fällt auf, dass darin oft Verbindungen hergestellt werden zwischen westlichen und orientalischen Elementen. Welche Bedeutung hat diese Verbindung für Sie?
Peter Schütt: Das ist mein Hauptthema. Zum Westen habe ich durchweg eine kritische Haltung eingenommen, zur Politik der USA, aber nicht zu den Menschen. Ich habe eine ganze Reihe schwarzer und weißer Verwandter in Amerika, und mit ihnen stehe bis heute in guter Verbindung. 1980 hat mich ein Black Muslim, Rasheed, Truckerfahrer, auf das Dach des World Trade Center eingeladen, und als wir von oben weit hinaus über den Atlantik geschaut haben, hat er seine Hand erhoben und mir erklärt: Dahinten liegt Mekka, und da möchte ich einmal hin!
Auf den Spuren von Egon Erwin Kisch bin ich mehrere Male in Mittelasien gewesen und wurde auch vom Mufti von Taschkent, dem geistlichen Oberhaupt der Muslime in der Sowjetunion, empfangen. In Alma Ata fanden 1978 die Olympischen Winterspiele statt. Meine Dolmetscherin Gallia, hatte den Auftrag, mir die Sportanlagen zu zeigen. Es war ein warmer Frühlingstag, die Sonne lachte uns ins Gesicht, aber plötzlich überfiel uns ein eiskalter Schneesturm und wir suchten Zuflucht in einer roten Telefonzelle. Gallia, mit der ich bis heute in Verbindung bin, diktierte mir dort die Übersetzung eines kasachischen Volksliedes: „Wenn Dich tausend lieben, bin ich einer von Tausend, wenn Dich hundert lieben, bin ich einer von Hundert, wenn Dich zehn lieben, bin ich einer von zehn, und wenn dich nur einer liebt, dann bin ich der Eine. Und wenn Dich keiner mehr liebt, weißt Du, dass ich aus lauter Liebeskummer um Dich gestorben bin.“
Dieses Gedicht habe ich in eine Sammlung von Liebesgedichten aufgenommen. Ein pakistanischer Freund, Munir Ahmed vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg, hat meine Verse für eine Anthologie deutscher Lyrik ins Urdu übersetzt und in seiner Heimat veröffentlicht. Das Gedicht habe ich stolz einer pakistanischen Schwester gezeigt, und die war davon so angetan, dass daraus eine neue Freundschaft und Liebe entstanden ist.
So können Gedichte Grenzen überwinden und Völker verbinden. Als vor zwei Jahren ein weißer Polizist in Minneapolis acht Minuten und 46 Sekunden auf dem Nacken von George Floyd gekniet hatte, bis sein Opfer sein Leben aushauchte, habe ich sofort ein Solidaritätsgedicht geschrieben. Meine afroamerikanischen Verwandten haben es übersetzt und über die sozialen Medien, Flugblätter und Plakate verbreitet. Auf mehreren Kundgebungen wurde es vorgetragen.
Auch in umgekehrter Richtung funktioniert der Kulturaustausch. In meiner Gedichtsammlung „Altweibersommernachtstraum“ beziehe ich mich immer wieder auf die persischen Klassiker, auf Hafiz, Rumi und Nizami. Mein treuer iranischer Freund und Kollege Ahmad Hosseini übersetzt meine orientalisch anmutenden Liebesgedichte ins Farsi und verbreitet sie über die sozialen Medien bis hinein in den Iran. Dort erfreuen sich junge Menschen an meiner neuen und freizügigen Interpretation ihrer alten Meister.
Islamische Zeitung: Welche Bedeutung haben Austausch und Vernetzung mit anderen Schriftstellern für Sie?
Peter Schütt: Ich schreibe nicht im stillen Kämmerlein und für die Schublade. Austausch mit anderen ist für meine Literaturproduktion lebenswichtig. Ich bin Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und habe seither und bis heute Schreibwerkstätten geleitet. Über diesen Weg habe ich auch früh Kontakt zu jungen muslimischen Autoren gefunden, die sich damals noch getarnt haben, zum Beispiel unter dem Deckmantel „Südwind-Gastarbeiterliteratur“, einer in Bremen erschienenen Reihe, für die ich öfter behutsam Korrektur gelesen habe. Emina Kamber hat in Hamburg ein bosnisches Restaurant mit dem Namen „Bosnaflor“ geleitet und später den Literaturclub „La Bohemina“ gegründet. Sie hat immer wieder ausländische Autorinnen und Autoren zu Lesungen und Diskussionen eingeladen, unter ihnen nicht wenige Muslime. Der Bosnienkrieg, das bezeugt ihr „Hamburger Kriegstagebuch“, hat diesen Bemühungen ein tragisches Ende gesetzt.
Mit einiger Mühe und gegen etliche interne Widerstände ist es mir gelungen, auch Poesie in meine Moschee, das Islamische Zentrum Hamburg, hineinzutragen. Beim Tag der Offenen Moschee, bei den Gedenkfeiern für meinen Lehrer Imam Mehdi Razvi und bei interreligiösen Begegnungen gehören Gedichte auf Arabisch, Persisch und Deutsch zum Programm. Die Islamische Akademie stellt regelmäßig Neuerscheinungen vor, auch Gedichtbücher. Ein neues Forum hat sich unter Coronabedingungen ergeben. Zwischen Mittags- und Nachmittagsgebet gibt es eine Viertelstunde Möglichkeiten zum Gespräch, und da darf ich mich auch mit Gedichten zu Wort melden.
Islamische Zeitung: Was können vor allem jugendliche LeserInnen aus Ihren Texten lernen?
Peter Schütt: Dass Literatur ein Weg ist, seine Stimme wirkungsvoll zu erheben, sich zu Wort zu melden und sich Gehör und Respekt zu verschaffen. Ich möchte jungen Menschen Mut machen, ihren eigenen Weg zu gehen, nicht jeder Mode hinterher zu tanzen und das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Mitunter suche ich mir jugendliche Helden, einen jungen amputierten Bruder aus Afghanistan, der ohne viel Aufhebens das Kunststück fertig bringt, auf und mit einem Bein zu beten. Aber die größeren Heldinnen sind vermutlich unsere mit Bekennermut ihr Kopftuch tragenden und während des Ramadans auch noch fastenden Schwestern in den Krankenhäusern, Altersheimen und den sozialen Einrichtungen, ohne deren viel zu niedrig entlohnter Einsatz das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem längst zusammengebrochen wäre. Ihnen möchte ich gern ein Loblied singen!
Islamische Zeitung: Wer sind Ihre literarischen Vorbilder?
Peter Schütt: Ich bin geprägt durch die kargen Jahre der Nachkriegszeit. Meine Vorbilder waren und sind meine drei großen B’s: Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht und Heinrich Böll. Zu allen dreien hatte ich eine persönliche Beziehung.
Borchert ist schon 1947 gestorben, aber seine Mutter Hertha war eine plattdeutsche Dichterin und wurde des Öfteren von Elisabeth Rühmkorf zu Lesungen eingeladen und hat dabei immer sehr ergreifend vom Leben und Werk ihres Sohnes erzählt.
Als wir 1958 unsere Abiturreise nach Berlin unternahmen, noch vor dem Mauerbau, bin ich ungefragt auf die andere Seite gepilgert ins Berliner Ensemble. Brecht war schon tot, aber seine Witwe Helene Weigel hat mich als „jungen Friedenskämpfer aus der BRD“ feierlich begrüßt und mich reich mit Broschüren und Eintrittskarten für „Mutter Courage“ und den „Guten Menschen von Sezuan“ beschenkt.
Heinrich Böll habe ich auch persönlich kennengelernt. Als fünfzehnjähriger Gegner der Wiederbewaffnung habe ich mit ihm über seinen „Brief an einen jungen Katholiken“ korrespondiert. Später hatte ich Funktionen im gewerkschaftlichen Schriftstellerverband, und wir sind uns auf dieser Ebene immer wieder begegnet. Ein öffentlicher Brief Bölls an mich ist sogar in seiner Werkausgabe dokumentiert.
Islamische Zeitung: Was macht Sie zum Dichter? Woher kommt Ihre Poesie?
Peter Schütt: Ich bezeichne mich lieber als Schriftsteller, nicht als Dichter. Martin Walser, den ich persönlich sehr schätze, hat einmal gesagt: Die Quellen für jeden, der das Schreiben zum Beruf gemacht hat, sind die Verletzungen in seiner Kindheit. Vor allem in den Sommerferien war ich auf dem Dorf sehr einsam, fühlte mich von meinen Eltern unverstanden und ungeliebt und bin mit meinem Hund unstet umhergeirrt. In dieser Traurigkeit habe ich mir meine ersten Notizen gemacht und kleine Geschichten erfunden. Das Verhältnis zu meinem Vater war sehr schwierig, er war überzeugter Nazi, und ich habe zu ihm keinen Draht gesucht und gefunden. Das tut mir heute leid, aber es war nicht allein mein Problem. Viele Väter meiner Mitschüler waren ähnlich verbohrt.
Islamische Zeitung: Welche Visionen für die Zukunft schweben Ihnen im Zusammenhang mit Ihrem Werk und Wirken vor?
Peter Schütt: Visionen? Ich bin kein Visionär. Ich bin froh und Gott dankbar, dass die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek sich vertraglich verpflichtet hat, meinen literarischen Vor- und Nachlass treu zu hüten und zu bewahren, damit auch zukünftige Leserinnen und Leser die Möglichkeit haben, die Arbeiten eines Pioniers der deutsch-sprachigen islamischen Literatur zu studieren und zu hinterfragen.
Zur Interviewerin: Layla Kamil Abdulsalam wurde 1988 in Khartoum (Sudan) geboren. Sie ist ausgebildete Gymnasiallehrerin und arbeitet derzeit an einer Gesamtschule. Außerdem ist sie in der LehrerInnenfortbildung mit dem Schwerpunkt „sprachsensibler Fachunterricht“ tätig. Neben Bilderbüchern für muslimische Familien schreibt sie selbst Gedichte und lädt zum #mitdichten ein. Diese Texte sind teils auf Instagram unter @lakamilakami zu finden.