„Ich habe bis jetzt mit einigem zu kämpfen“

Ausgabe 259

Foto: privat

(iz). Sahira Awad stammt aus einer palästinensischen Familie. Sie kam 1979 in Berlin zu Welt, wo sie aufwuchs und zur Schule ging. Awad beschreibt sich „als Musikerin, als Mutter und – vor allem – als Muslimin“. In ihrem Buch „Wer dich »Schwester« nennt, ist nicht immer dein Bruder“ beschreibt sie neben ihrem Werdegang auch das „Auf und Ab“ ihrer Geschichte. Darunter fallen insbesondere ihre eindrücklichen Erfahrungen mit der „salafitischen“ Szene Deutschlands und, wie sie sich wieder davon gelöst hat.
Islamische Zeitung: Sie kamen als Kind palästinensischer Eltern in Berlin zur Welt. Ihre Familie stammte eher aus einem akademischen Milieu. Das bricht sicherlich das Stereotyp vieler, wenn sie an migrantische Familien denken…
Sahira Awad: Ich bin im (gutbürgerlichen) Wilmersdorf großgeworden. Der Wedding ist heute mein Wahlbezirk, weil hier das Leben ist und es ehrlich zugeht. Das Umfeld meiner Eltern ist nicht meine Welt.
Islamische Zeitung: In Ihrem Buch haben Sie eine Sache beschrieben, die nicht selten bei jungen Frauen auftaucht, die aus syrischen, palästinensischen oder irakischen Familien stammen. Oft wachsen sie in Familien auf, die einerseits in religiös-weltanschaulicher Hinsicht entspannt leben, andererseits sehr traditionell in Sachen Frauenbild sind. Meist hört man von diesen jungen Damen: „Ich durfte nichts, meine Brüder alles.“
Sahira Awad: Ja, genau. Meine Eltern sind super und sehr spirituell, mascha’Allah. Sie konnten sich aber niemals von dem Motto ihrer Kindheit lösen, dass „ein Mädchen das nicht darf“. Die Mädchen tragen immer die Last der Familienehre auf ihren Schultern.
Islamische Zeitung: Wie wichtig war für Ihre Kindheit die erweiterte Verwandtschaft?
Sahira Awad: Nicht wirklich wichtig. Die Liebe zur ganzen Familie war natürlich schon da, aber ich hatte keinen großen Kontakt zu ihr. Hier leben nur meine Eltern und die Geschwister.
Islamische Zeitung: Einige Leute sagen, dass trotz der aktuellen Geschlechterverhältnisse in der arabischen Welt die Mutter oft das dominante Element in der Familie ist. Wie war das bei Ihnen?
Sahira Awad: Bei uns war es vergleichbar. Wir Frauen sind im Allgemeinen so. Wenn ich mit Männern über das Thema spreche, sind sie es häufig, die mir zustimmen. Frauen hingegen meinen nicht selten: „Wir müssen tugendhaft und geduldig sein.“ Ich glaube, Frauen sind in diesem Bild viel mehr gefangen.
Islamische Zeitung: Das klingt ein bisschen nach passiver Aggression…
Sahira Awad: Ja, stimmt.
Islamische Zeitung: Wie war Ihre Kindheit und Schulzeit in Wilmersdorf? War man dort als Kind palästinensischer Eltern per se schon Außenseiter?
Sahira Awad: Das habe ich auch in meinem Buch beschrieben. Zuhause hatte ich das Gefühl, ich sei nur ein Mädchen, was etwas Schlechtes sei. Und in der Schule den Eindruck, nur Palästinenserin zu sein, was ebenfalls nichts Gutes sei. Und das, obwohl mein Deutsch besser war als das vieler „Biodeutscher“. In diesen Verhältnissen bin ich aufgewachsen.
Mein Sohn, um mal ein heutiges Beispiel zu nennen, ist zeitweise auf ein Kreuzberger Gymnasium gegangen. Da war er dann unter mehrheitlich türkischstämmigen Kindern ebenfalls in der Minderheit. An dieser Schule war eine anti-muslimische Stimmung angesagt, obwohl ich anfangs mit mehr Offenheit gerechnet hatte, da der Anteil muslimischer Jugendlicher bei über 90% lag.
Islamische Zeitung: Das Thema Islam war in Ihrer Schulzeit wahrscheinlich keine große Sache?
Sahira Awad: Nein, da ging es eher um Palästina.
Islamische Zeitung: Wie kam es zum Sprung zur Musik?
Sahira Awad: Das lässt sich nicht so kurz abhandeln. Ich habe das in meinem Buch ja auch recht umfangreich beschrieben. Meine Mutter war Sängerin, hat klassisch-arabischen Gesang gemacht. Umm Kalthoum war da ein großes Vorbild. Mein Bruder hat mich mit 12 Jahren zum Rap gebracht. Er hat mich in gewissem Sinne „infiziert“, weil man das nicht mehr los wird. Musik war immer wichtig und ich habe immer mir ihr zu tun gehabt.
Als ich mit 15 von Zuhause weg bin, stand ich mit 16 Jahren zum ersten Mal in einem Studio. Das war ein wichtiges Ventil für mich. Ich habe alles gemacht, was angefragt wurde und was ich mit meinen Überzeugungen in Einklang bringen konnte. Das konnte beispielsweise das Einsingen von einer Hook (Refrain) sein. Mein damaliger Produzent und guter Freund Ilan Schulz hat mir solche Möglichkeiten vermittelt. Obwohl ich auch mit „Gaunerrappern“ wie Bushido oder Automatikk gearbeitet habe, gab es mich für eindeutige Grenzen. Bushido hatte kurz nach unserer Aufnahme mit „Bordstein zur Skyline“ seinen „Durchbruch“.
Islamische Zeitung: Konnten Sie von Ihrer Arbeit im Musikgeschäft leben?
Sahira Awad: Ich war ja nie ganz drin, weil ich meine Werte hatte, beziehungsweise mich an Allah orientierte. Ich hatte schon Liveauftritte oder bin auch mal in anderen Städten aufgetreten.
Islamische Zeitung: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie dann an einem gewissen Punkt Ihr bisheriges Leben hinter sich ließen und in eine andere Szene abgerutscht sind.
Sahira Awad: Ich bin jemand, der eigentlich immer alles ganz genau machen möchte. Ich bin leidenschaftlich, gerade auch für den Islam. Das war immer so, und Allah war immer da.
Dieser Bruch fiel in die Zeit, als Markus, der Vater meines Sohnes, immer schwerer erkrankte. Mir fiel dann ein Buch in die Hände, wonach Musik „haram“ sei. Obwohl ich meinen Bezug zu Allah in meiner Musik aufrechterhielt, sagte ich mir, ich müsse jetzt damit aufhören. Dann starb Markus im Jahr 2011. Mit ihm bin auch ich gestorben. Er war ebenso Musiker, Muslim und hatte ein gutes Herz.
Jetzt stand ich mit meinem Sohn und sonst nichts da. Dann habe ich Extremisten kennengelernt. Darunter auch einen Mann, den ich jetzt nur noch „Waschlappen“ nennen kann. Wir haben uns am Telefon „kennengelernt“ und geheiratet. Ich dachte mir, ich müsste sechs Stunden von Berlin entfernt zu ihm reisen. Da war ich drei Wochen lang mit meinem Sohn; dem armen, der gerade seinen Vater verloren hatte. Der Mann war einer der Typen, die sich „richtiger Muslim“ nennen, mit langem Bart und kurzer Hose. Er hatte trotz des Namens nichts mit unseren frommen Vorfahren zu tun. Nach drei Wochen wurden wir von ihm mit diesen Worten rausgeschmissen: „Hier ist der letzte ‘Talaq’, verschwinde mit Deinem Sohn!“
Da war ich nun in Buxtehude und habe erkennen müssen, dass das alles nicht richtig ist. Ich habe mich dann von dieser Szene entfernt. Meine alte Familie – Musiker und Grafiker – hatte ich ja vorher aufgegeben. Wir fanden uns schließlich ohne Möbel in Berlin wieder.
Islamische Zeitung: Gab es ein Schlüsselerlebnis, dass Sie wieder aufgerichtet hat?
Sahira Awad: Ich habe noch die entsprechenden Moscheen besucht – es gab ja nichts anderes – aber schnell gesehen, dass das alles Heuchelei ist. Da fiel mir die sinngemäße Aussage des Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, ein, wonach ein Bruder, der einem anderen Bruder nicht hilft, nicht zur Gemeinschaft gehört. Ich habe mich dann hilfesuchend an die „Schaikhs“ aus dieser Szene gewandt. Die haben sich aber so unangenehm verhalten, dass ich nach rund einem Jahr an dem Punkt angelangt war, dass für mich einer schlimmer war als der andere. Im Grunde wollten sie mich nur zur Heirat vermitteln. Irgendwann habe ich mir gesagt, dass ich da raus muss. Ich musste raus aus diesem Konzept, denn ich liebte Allah.
Islamische Zeitung: Wie hat die Familie reagiert?
Sahira Awad: Sie kannte ja meine Eigensinnigkeit. Mein Vater sagte nur einmal vorsichtig, ich solle meine Wohnung nicht aufgeben, weil er nicht wollte, dass ich Berlin verlasse und wegziehe. Sie waren überhaupt nicht begeistert. Ich bin im weiten Gewand durch die Gegend gelaufen. Gottseidank bin ich mit meiner Familie inzwischen wieder im Reinen.
Islamische Zeitung: Jenseits Ihrer persönlichen Erfahrung würden wir gerne noch Allgemeineres erfahren. Radikalisierung ist ja ein häufiges Wort. Gelegentlich wird auf Moscheen verwiesen. An welchem Ort fand Ihre Begegnung damit statt?
Sahira Awad: Dazu habe ich ein Kapitel geschrieben mit dem Titel „Sie machen Vieh aus sich“. Sie treten auf wie Marktschreier, ihre Bärte lassen sie wie den Räuber Hotzenplotz aussehen. Diese Marktschreier bei Youtube treffen auf Ex-Boxer oder ehemalige Knackis. Ich gehörte zu den Schafen, die hinterherlaufen. Sie haben „heißes Blut“ für den Islam, aber wenig Wissen. In ihrer Vorstellung ist es so: Je mehr es wehtut, desto besser ist es bei Allah. Sie sind hart, der Islam ist es nicht. Ob Moschee oder privat, das nimmt sich nicht viel. Für mich beginnt Radikalisierung ja schon dort, wo Frauen mit den Kindern, den Babys in eine kleine Kammer abgeschoben werden. So hat es unser Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, niemals gehandhabt und ‘Umar ibn Al-Khattab auch nicht.
Islamische Zeitung: Ein Aspekt des Erfolges der Extremen ist, dass sie alles auf Deutsch machen. War das ein ­Argument für Sie?
Sahira Awad: Deutsch ist meine Sprache. Ich bin Deutsche. Hocharabisch kann ich nicht. Zumindest bei mir war es auch entscheidend, dass ich trotz Abitur, aber mit Kopftuch (auch wenn es als Turban gebunden war), selbst bei Woolworth keinen Job bekommen habe. In der Mehrheitsgesellschaft begegnet einem viel Hass. Dann kommen diese Marktschreier mit den Worten: „Hey, komm zu uns! Wir sind Deine Familie!“
Islamische Zeitung: Also werden die Alltagserfahrungen mit Diskriminierungen zum Antrieb, sich solchen Zirkeln anzuschließen?
Sahira Awad: Ja, auf jeden Fall. Du bist isoliert. Dann kommen Leute und laden dich ein. Natürlich geht man dorthin. Unterschwellig bekommt man ständig zu hören, wie schlimm diese Umgebung, wie schlimm der „Westen“ sei. Begegnet man dann Leuten, die sagen „komm zu uns, bete mit uns, faste mit uns“, fühlt man sich einer Familie zugehörig.
Islamische Zeitung: Ist eine solche Erfahrung wie eine Krankheit, die man unbeschadet hinter sich lassen kann, oder bleiben Narben zurück?
Sahira Awad: Natürlich, ich habe auch heute noch mit einigem zu kämpfen. Aber ich danke Allah dafür, dass Er immer bei mir war. Ich bin zu emotional, um das Ganze nüchtern hinter mir zu lassen. Allah hat mir die Kraft dazu gegeben, dieses Buch zu schreiben, wofür ich dankbar bin. Inscha’Allah merken die Leser, dass ich Allah und Seinen Din liebe. Aber diese Politisierung, das Spaltende und Patriarchale lehne ich ab.
Islamische Zeitung: Ist Schreiben für Sie ein therapeutisches Mittel?
Sahira Awad: Ja, absolut. Ich habe dabei so viel geweint. Bei mir hat sich eine ganze Menge gelöst.
Islamische Zeitung: Und die Musik?
Sahira Awad: Seit 2014 bin ich wieder dort gelandet. Natürlich muss ich feststellen, dass sie Dir keinen roten Teppich ausrollen. Egal, was ich mache: Alles geschieht ohne Stress. Derzeit mache ich nur kreative Sachen. Zurzeit arbeite ich – neben dem Schreiben und Komponieren neuer Songs – auch an Angeboten für hausgemachte Beauty-Produkte.
Islamische Zeitung: Liebe Sahira Awad, wir bedanken uns für das Interview. (sw)