Das Leben kennt gute und schlechte Zeiten. Viele Menschen brauchen Unterstützung, um Schwierigkeiten zu überwinden. Man kann schwere Lebensphasen wie Krankheiten, den Tod von Familienangehörigen, wichtige Prüfungen sowie Einsamkeit insbesondere im Alter durch unterschiedliche Dinge leichter durchstehen. Die Zuflucht bei Gott ist eine dieser Vorgehensweisen. Muslime tun das unter anderem durch die Rezitation des Qur’an. Von Ayla Taş
(iz). Das Lesen des Qur’an auf Arabisch ist eine der wichtigsten und unverzichtbarsten spirituellen Handlungen für Muslime. Er wurde in den Jahren 610-632 n. Chr. von Gott dem Propheten Muhammad auf Arabisch offenbart. Seine Bedeutungen wurden im Laufe der Zeit in fast allen Sprachen übersetzt. Obwohl Muslime heute das Buch Allahs in ihrer Muttersprache lesen können, wird es in rituellen Handlungen ausschließlich arabisch rezitiert. Der Rezitator trägt den Qur’an vor, auch ohne den Inhalt zu verstehen. Das wird oft mit dem Argument kritisiert: Das Lesen eines Textes, ohne Verständnis seines Inhalts sei eine sinnlose Handlung. Der Mensch sei ein vernunftbegabtes Wesen. Aus diesem Grunde sollte er den Inhalt eines Textes verstehen.
Der Qur’an ist dem islamischen Glauben zufolge in der Offenbarungssprache Gottes unmittelbares Wort. Übersetzungen gelten nicht als Qur’an. Wer rezitiert, der steht unmittelbar vor Gott und spricht direkt mit Ihm.
Eine arabische Rezitation ist in den rituellen Pflichtgebeten obligatorisch. Ein Muslim muss sie für die rituellen Pflichtgebete nicht unbedingt vollständig erlernen. Es reicht, wenn er kurze Suren aus dem Qur’an auswendig lernt. Jedoch legt eine Mehrheit großen Wert darauf, dass Kinder sie in arabischer Schrift lernen sollten.
Viele rezitieren das Buch Allahs täglich, einige wöchentlich. Frauen unter Frauen oder Männer unter Männern treffen sich, um ihn vorzutragen. Er wird auch oft auf Feiern oder in Familien und mit Freunden rezitiert. Der Qur’an wird nicht nur vorgetragen, ihm wird auch zugehört. Viele nehmen an Rezitationen teil, obwohl sie ihn selbst nicht vortragen können. Sie hören ausschließlich zu. Dank neuer Technologien kann man ihm durch digitale Aufnahmen zuhören. Ihre Qualität ist oft hoch.
Die verschriftlichte Form von Allahs Buch ist ca. 600 Seiten lang. Er besteht aus 114 Suren. Das Auswendiglernen ist ein wichtiges Gebiet der islamischen Lehre. Gelehrte genießen durch eine Beherrschung des gesamten Qur’an eine Sonderstellung. Insbesondere beim fünfmaligen täglichen Pflichtgebet ist die arabische Rezitation unverzichtbar.
Muslime rezitieren Allahs Buch mit hoher Intensität auch in Krankheitsfällen – für sich selbst oder ihre nächsten Angehörigen. Die 36. Sure des Qur’an (Ya Sin) und die 48. Sure „Al-Fath“ werden bei Krankheits- und Sterbefällen am häufigsten rezitiert. Muslime lesen auch den ganzen Text oder weitere Kapitel außer diesen.
Aslı Şimşek erfuhr 2017 in Abu Dhabi am sechsten Geburtstag ihrer Tochter, dass das Kind an Lymphkrebs erkrankt war: Die Familie kehrte acht Monate nach der Entdeckung nach Deutschland zurück, damit sie eine bessere Behandlung genießen konnte. Die Therapie dauerte in Deutschland ununterbrochen zwei Jahre an. Die Erkrankung war für Aslı Şimşek in psychischer, geistiger, emotionaler Hinsicht die schwerste Phase ihres Lebens. Sie lenkte sich selbst mit verschiedenen Mitteln ab.
Das Hören und das Rezitieren des Qur’an war eine davon. Sie und ihr Ehemann hörten in diesen zwei Jahren regelmäßig jeden Abend eine Stunde in digitalen Aufnahmen den unterschiedlichen Suren zu, die einem kranken Menschen bei der Heilung der Krankheit helfen sollten. Neben dem Hören rezitierte Aslı Şimşek aus dem Buch Allahs, sodass sie in drei Jahren das Buch Allahs 19-mal las. Sie rezitierte weiterhin die Suren „Ya Sin“ und „Al-Fath“. Ihr Ehemann, seine Familie, die eigene Familie sowie Bekannte und Freunde unterstützten sie dabei mit ganzem Herzen.
Das erleichterte ihr die Überwindung der schweren Phase. Als die Tochter im Krankenhaus behandelt wurde, übernachtete sie in ihrem Zimmer. Obwohl sie sich bemühte und anstrengte, konnte sie nachts nicht einschlafen. Die Krankenschwestern ermahnte sie immer wieder, dass sie für ihre Tochter stark und gesund sein müsse. Schlaflose Nächte würden ihre Kraft zerfressen. Sie konnte trotz der Ermahnungen und eigener Bemühungen nicht einschlafen. Die Lösung des Traumas war für sie der Qur’an. Aslı Şimşek hörte Rezitationen, um einschlafen zu können. Sie reagierte erleichtert und befreit, fand Seelenruhe und konnte wieder schlafen. Das Wiederauftauchen der Krankheit war ein weiterer Schlag für Aslı Şimşek. Sie fühlte sich in diesem Moment schwach und kraftlos und konnte nichts anderes machen, als bei Gott, Qur’an und Gebeten Zuflucht zu finden. Auch in diesem Moment half ihr die Lesung bei der Verarbeitung. Hier fand sie Mut, Kraft und Erleichterung.
Dürüye Demir arbeitet seit 2000 als Altenpflegerin und seit 2016 als Schlaf- und Entspannungstherapeutin. Als sie 2015 beim Stadtteilspaziergang in Bochum-Mitte ehrenamtlich arbeitete, lernte sie einen älteren deutschen Herren kennen. Beide pflegten im Laufe der Zeit eine gute Freundschaft. Dürüye Demir erfuhr 2018, dass ihr guter Freund im Alter von 82 Jahren im Krankenhaus an Leberkrebs behandelt wurde. Daraufhin versprach sie ihm, für ihn zu beten. Sie hielt ihr Wort und rezitierte im Ramadan die Sure „Ya Sin“ für den Freund. Anschließend betete sie für seine Genesung. Dürüye Demir rezitierte für einen Fremden, der weder zu ihrer Verwandtschaft noch zu ihrem Freundeskreis gehörte. Er fragte sie, ob sie wirklich für ihn gebetet hatte, weil seine Seele durch einen Effekt erleichtert war, den er nicht erklären konnte. Er bedankte sich für ihre Bittgebete und freute sich über ihre Unterstützung.
Der Tod ist die letzte Reise eines Menschen im Diesseits. Viele wünschen in gesunden und jungen Jahren ihres Lebens, dass sie, wenn sie eines Tages alt werden und sich dem Tod nähern, daheim in der Anwesenheit ihrer nächsten Angehörigen zu sterben. Heute verscheiden viele nicht mehr wie früher zu Hause, sondern in Heimen, Krankenhäusern und Hospizen. Die Qur’an-Rezitation ist für Muslime ein wichtiger Teil in Sterbefällen.
Der Vater von Derya Halıcı starb 2020 im Krankenhaus Bergmannsheil, Gelsenkirchen-Buer, an einem Magenkarzinom. Sie begleitete ihn auf seiner letzten Reise mit ihrer Mutter und mit ihren zwei Geschwistern. Die gesamte Familie war sich dem nahenden Tod insbesondere in den letzten Tagen des Sterbens bewusst. Derya Halıcı erlebte beinahe ein Trauma, weil sie die letzten Wünsche ihres Vaters nicht erfüllen konnte. Die Krankenhausverwaltung bot keine muslimische Sterbebegleitung an. Daher musste die Familie mit dem Tod des Vaters allein zurechtkommen. Er war ein gläubiger Mensch, der in seinen letzten Tagen den Qur’an vermisste. Diese Situation ist für einen praktizierenden Muslim schwer, der sich dem nahenden Tod bewusst ist. Die Familie Halıcı konnte den Familienvater zwei Wochen vor seinem Tod mit Hilfe der Bekannten in ein anderes Krankenhaus verlegen, in dem ihn die gesamte Familie mit der Rezitation verabschiedete. Das Elisabeth-Krankenhaus Herten verfügt auf der Palliativstation über interkulturell und interreligiös geschultes Personal. Derya Halıcı leidet bis heute an der Zeit im ersten Krankenhaus. Jeder verdient eine Sterbebegleitung nach eigenen Wünschen und seinem Glauben. Der Kampf um ein Krankenhaus, in dem der Vater eine solche Sterbebegleitung erhalten konnte, kostete Derya Halıcı Kraft und Nerven.
Ümmühan Güzer ist 1955 geboren und hat vier Kinder großgezogen. Sie ist 65 Jahre alt und lebt allein. Sie rezitiert jeden Tag regelmäßig mehrere Seiten aus dem Qur’an. Das erleichtert ihr das Alleinsein im Lebensalter.
Die Rezitation ist für sie eine körperliche und geistige Tätigkeit. Sie stimuliert nicht nur den Körper und den Geist, sondern sozialisiert sie auch. Die älteren Damen treffen sich regelmäßig in der Moschee, einmal in der Woche, um Allahs Buch zu lesen. Das bringt sie regelmäßig zusammen. So haben die Damen das Gefühl, dass sie einen göttlichen Lohn erlangen sowie eine wichtige und wertvolle Arbeit leisten. Auf den Treffen plaudern sie gleichzeitig über alltägliche Angelegenheiten.
Ümmühan Güzer liest oft „Ya Sin“ – auf Wunsch ihrer Kinder und Enkelkinder. Insbesondere bitten die Enkel bei schweren Lagen in der Schule oder der Arbeit und anderen Lebensphasen um ihre Bittgebete. Als Großmutter rezitiert sie den Qur’an mit großer Freude für sie und spricht diese Gebete. Sie beschreibt ihre Lesung als wertvollen Beitrag. Sie glaubt, dass sie in ihrem Alter ihre Kinder und Enkelkinder so am besten unterstützen könne.
Yusuf Taş und seine fünf Geschwister hatten seit der Kindheit ein schweres Verhältnis. Dies setzte sich im Erwachsenenalter fort. Die Geschwister erkannten das und beschlossen, das zukünftig zu ändern. Er schlug ihnen Anfang 2020 vor, mithilfe einer gemeinsamen Lesung einen Neuanfang zu machen. Sechs Geschwister teilten die Qur’an-Suren unter sich auf, sodass sie Allahs Buch gemeinsam rezitierten.
Dieses Unterfangen führte alle zusammen. Sie konnten so eine gemeinsame Aktivität unternehmen und hatten ein verbindendes Thema. Allein die Aufteilung der Suren war für die ganze Familie eine Gemeinsamkeit, mit der sie miteinander reden konnten. Dadurch entstand ein intensiver Dialog. Trotz ihres strapazierten Verhältnisses setzten sie die Rezitation fort. Die Geschwister kommunizieren seit einem Jahr intensiver – im Vergleich zur Vergangenheit. Insbesondere das gemeinsame Bittgebet nach der Vollendung einer Lesung macht die Geschwister glücklich.
Im Islam steht nichts und niemand zwischen Gott und dem Menschen. Jeder muss seinen Weg zu Gott selbst finden. Eine Rezitation öffnet den Weg dahin. Wer den Qur’an rezitiert, spricht unmittelbar mit Ihm. Diese direkte Kommunikation baut eine starke Beziehung zwischen dem Menschen und Gott auf. Die Bittgebete nach der Qur’an-Rezitation ermöglichen ein zweites, das die Lesenden in ihrer jeweiligen Muttersprache halten können. Sie sprechen so mit Gott über ihre Wünsche. Solche Gespräche mit Gott öffnen dem Menschen den Weg zu einem Austausch mit sich selbst. Eine Auseinandersetzung mit sich und dem eigenen Leben kann dadurch in Gang gebracht werden.
Eine Rezitation bringt den Körper in Schwung, indem sie ihn arbeiten lässt. Der Qur’an wird laut rezitiert. Die laute, regelmäßige Rezitation trainiert täglich Stimme und Gehirn. Viele rezitieren den Qur’an immer zur gleichen Tageszeit. Insbesondere ältere haben dadurch eine Aufgabe und Beschäftigung. Sie fühlen sich dadurch wichtig und gebraucht. Eltern lesen in schweren Lebensphasen aus dem Qur’an für ihre Kinder, Großeltern für ihre Enkelkinder. In der muslimischen Welt glauben viele daran, dass die wichtigste Aufgabe der Menschen im Lebensalter aus Bittgebeten für ihre jungen Angehörigen ist.
Jede Unterstützung in schweren Lebensphasen ist für die Fähigkeit von Menschen zum Umgang mit Schwierigkeiten von großer Bedeutung und wertvoll. Wenn sie von fremden Menschen kommt, finden an Krankheit und Stress leidenden Personen zusätzliche Lebenskraft. Gläubige Muslime erleben in der Rezitation Seelenruhe, Kraft, Energie, Mut, Gelassenheit, Ausgleich, Lebensfreude, Geborgenheit und Vertrauen. Sie überwinden schwere Lebensphasen leichter und kommen nicht nur zur seelischen, sondern zur körperlichen Ruhe. Qur’an-Rezitation bringt die Menschen zusammen. Diese gemeinsame Aktivität verstärkt die Beziehung innerhalb von Familie, Freunden und Bekannten.
Literaturverzeichnis
– ALTUNTAŞ, Halil: Kur’an-ı Kerim Meâli, 12. Aufl., Ankara 2011, Diyanet İşleri Başkanlığı Dini Yayınlar Genel Müdürlüğü Basılı Yayınlar Daire Başkanlığı
– KHOURY, Adel Theodor: Der Koran erschlossen und kommentiert, 2. Aufl., Düsseldorf 2006, Patmos Verlag GmbH & Co. KG
– TAŞ, Ayla: Interview mit Aslı Şimşek, die Qur’an-Rezitation für ihre kranke Tochter, Bochum 04.01.2021
– TAŞ, Ayla: Interview mit Derya Halıcı, die Qur’an-Rezitation für ihren verstorbenen Vater, Gelsenkirchen 21.02.2021
– TAŞ, Ayla: Interview mit Dürüye Demir, die Qur’an-Rezitation für die Genesung der Freunde, Bochum 08.01.2021
– TAŞ, Ayla: Interview mit Ümmühan Güzer, die Qur’an-Rezitation im hohen Alter, Essen 22.01.2021