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Interview: „Alle roten Linien sind überschritten“

Foto: Mykhaylo Yakubovych

(iz). Während die Truppen des Kremls versuchen, die benachbarte Ukraine zu besetzen, ist das zweitgrößte Land Europas erneut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.

Was nur wenige Menschen in Europa wissen: Dort gibt es eine traditionsreiche muslimische Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten Teil der dortigen Gesellschaft ist. Auch sie ist von der russischen Aggression betroffen; nicht erst heute, sondern bereits seit der Besitznahme der Krim und der Abspaltung des Donbass im Jahr 2014.

Wir sprachen mit Dr. Mykhaylo Yakubovych über die Muslime und den Krieg in seiner Heimat. Der ukrainische Islamwissenschaftler ist Übersetzer des Qur’an in seine Muttersprache. Derzeit arbeitet er an der Universität Freiburg.

Islamische Zeitung: Vielen Muslimen in Deutschland und Europa ist nicht bewusst, dass es in der Ukraine eine eigene, traditionelle muslimische Gemeinschaft gibt. Können Sie uns einen Überblick über sie und ihre Struktur vermitteln?

Mykhaylo Yakubovych: Ja. Islam tauchte auf dem Gebiet der heutigen Ukraine bereits im 9. und 10. Jahrhundert auf. Das waren Alanen-Stämme, die teilweise Muslime geworden sind, sowie nahöstliche Händler auf der Reise nach Kiew und in andere Teile Rutheniens (Rus). Ab dem 13. Jahrhundert konzentrierte sich ein Großteil des muslimischen Lebens in der Krim. Sowohl durch die Goldene Horde als auch durch das Krimkhanat wurde islamische Kultur tief in der lokalen religiösen Landschaft verwurzelt. Es könnte gesagt werden, dass mindestens die Hälfte der heutigen Ukraine zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert Teil der muslimischen Welt war – mit ihren Moscheen, Gelehrten, Medressen und anderen religiösen Einrichtungen.

Viele Muslime, die in der Westukraine lebten, wurden üblicherweise als polnische Tataren bezeichnet. Sie sind eng mit denen auf der Krim verwandt. Die Muslime erlitten 1944 durch Stalins Deportation der Krimtataren schwere Verluste. Nur die Unabhängigkeit der Ukraine war die Voraussetzung dafür, dass sie zurückkehren und sich entwickeln konnten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt lag ihre Zahl zwischen 500.000 und 1.000.000. Dazu gehören die der Krim (deren Mehrheit zumeist unter russischer Besatzung lebt), Araber, Aseris und andere Nationalitäten sowie Tausende ukrainische Konvertiten.

Islamische Zeitung: Von außen betrachtet scheint es so, als hätten ukrainische Muslime bisher recht gute Beziehungen zur Gesellschaft gehabt. Stimmt das, und was sind die lokalen Eigenheiten?

Mykhaylo Yakubovych: Definitiv. In der Ukraine gab es ein sehr niedriges Maß an Islamfeindlichkeit – kein Kopftuchverbot oder Ähnliches. Auch Muslime aus anderen Ländern erfreuten sich einer großen Religionsfreiheit. Hunderte Moscheen wurden gebaut, Bücher gedruckt, religiöse Schulen eröffnet und Geschäfte geführt. All diese Infrastruktur stand in enger Verbindung zur Zivilgesellschaft. Viele muslimische Führungsgestalten von ukrainischer und krimtatarischer Herkunft unterstützten den proeuropäischen Kurs des Landes. Sie nahmen an allen Wahlen teil sowie wurden in das ukrainische Parlament gewählt. Insbesondere in den 2000er Jahren wurde das Land zu einem Ort für viele Flüchtlinge, die von Religionsfreiheit begrüßt wurden.

Nach 2014, als Russland die Krim annektierte und Hunderte Unschuldiger als „Extremisten“ inhaftierte, brachten viele Ukrainer ihre Solidarität mit Krimtataren und anderen Muslimen zum Ausdruck, die unter dem Druck von Diktaturen jeglicher Art stehen.

Das Gleiche könnte man über den interreligiösen Dialog sagen. Im Gegensatz zu Russland oder Zentralasien gab es in der Ukraine so gut wie keine Bücherverbote. Die Regierung griff nicht in interne Prozesse der muslimischen Gesellschaften ein. Anders als in Russland oder anderen Staaten der Region, in denen die Muslime von staatlich unterstützten Muftis und speziellen Hierarchien kontrolliert werden, erhielten einige größere und kleinere muslimische Organisationen in der Ukraine ihre eigenen Strukturen. Dies ist eher ein westeuropäisches Modell der Beziehungen zwischen Islam und Staat als das „osteuropäische“. Jetzt stehen sie alle der größten Herausforderung nach dem Ende der Sowjetunion.

Islamische Zeitung: Ukrainische Muslime wurden von der Annektierung der Krim sowie der Abspaltung von Teilen des Donbass durch russisches Vorgehen beeinträchtig. Wie sind sie von den Ereignissen ab 2014 getroffen worden?

Mykhaylo Yakubovych: Da beinahe die Hälfte der Gemeinschaft bis 2014 auf der Krim und im Donbass lebte, haben diese Muslime unter erheblichen Verlusten gelitten. Neben den Gefechten, mehrheitlich im Donbass, begann Russland mit seiner typischen Religionspolitik im besetzten Land. Es wurden „offizielle“ muslimische Institutionen geschaffen und Druck auf alle anderen ausgeübt. Auf der Grundlage der Religiösen Verwaltung der Krimtataren schufen sie eine solche Stiftung, die die Politik des Kremls freiwillig oder unfreiwillig unterstützte. Andere Gruppen mussten die Halbinsel verlassen, einige von ihnen wurden inhaftiert. Das waren Leute, die der Tablighi Jamaat oder salafistischen Organisationen angehörten. Vielen wurde vorgeworfen, Mitglied der Hizb-ul-Tahrir zu sein. Viele Muslime schlossen sich der ukrainischen Armee zum Kampf gegen die Aggression an.

Islamische Zeitung: Wie sieht jetzt die Situation der Muslime und ihrer verschiedenen Gemeinschaften aus?

Mykhaylo Yakubovych: Das ist eine komplett neue Herausforderung. Die Hauptfrage ist jetzt, ob die Ukraine als Land überleben kann oder nicht.

Erstens waren Teile der Muslime vorbereitet und schon Mitglieder lokaler Einheiten der Territorialverteidigung. Große Teil der muslimischen Bevölkerung verbleiben noch in den größten Städten und versuchen, jetzt aus Kiew, Charkow und anderen Städten in Richtung Polen und anderer EU-Staaten zu entkommen. Selbstverständlich unterstützen die größeren muslimischen Organisationen (selbst die apolitischen wie Salafisten) den ukrainischen Freiheitskampf. Aus diesem Grund haben wir verschiedene Muslime in den Streitkräften.

Zweitens müssten wir anmerken, dass es ein Problem gab für ausländische Studenten muslimischer Herkunft; beispielsweise jene, die in der Ukraine studierten und aus arabischen Ländern kamen. Ihre Regierungen kümmerten sich nicht gut um sie, sodass sie in den ersten Tagen Züge und Busse füllten, um zu fliehen. Einige Führer der arabischen Minderheit (die ukrainische Staatsbürger sind) bleiben in Kiew, Kharkiv und Lviv und leisten mutig humanitäre Hilfe. Es gibt bereits Dutzende von Muslimen, die bei russischen Luftangriffen getötet wurden, darunter auch einige arabische Studenten.

Islamische Zeitung: Es gibt beispielsweise auf Twitter Aufnahmen von Muslimen in der ukrainischen Armee. Was ist ihr Beitrag in der jetzigen Lage? Gibt es in zivilgesellschaftlicher Hinsicht Kooperationen mit anderen Religionsgemeinschaften?

Mykhaylo Yakubovych: Die Ukraine erlebt ein großes Maß an zivilem Widerstand. Das ist einer der ersten vollumfänglichen zwischenstaatlichen Kriege der gegenwärtigen europäischen Geschichte. Natürlich bleiben Muslime dabei nicht außen vor. Beinahe alle religiösen Führer (Muftis der wichtigsten Organisationen) bleiben in Kiew und setzen sich der Gefahr einer Einkreisung aus. Einige sind aktiv in humanitärer Hilfe, andere schlossen sich der lokalen Territorialverteidigung an.

Fast jeder versteht, dass der Verlust der ukrainischen Unabhängigkeit mit der Zerstörung des islamischen Lebens im Land gleichzusetzen ist. Stellen Sie sich vor, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität leben seit vielen Jahren in Frieden, und dann kommt jemand und sagt: Ihr seid „Nazis“ und müsst „eliminiert“ werden. Das ist keine Frage, einfach die Fahne eines Landes zu ändern. Es gibt nur eine Antwort auf ein explizites Verbrechen. Wir haben jetzt eine Situation, in der Muslime, Juden und Christen gemeinsam ums Überleben kämpfen.

Islamische Zeitung: Es gibt einen Trend in der russischen (zaristische, sowjetische und heutige) Politik zur Ausweitung des Einflusses und Vergrößerung des Gebiets. Insbesondere jene Teile des früheren muslimischen Siedlungsgebietes um das Schwarze Meer waren in der Vergangenheit schwer von Expansionismus betroffen. Sehen Sie eine Fortsetzung der früheren Politik?

Mykhaylo Yakubovych: Russland regiert muslimische Gemeinschaften nach einem einzigen Muster. Es werden staatlich gestützte Verwaltungen geschaffen, die alles unterstützen, was der Kreml tut (inklusive Krieg). Andere unabhängige oder oppositionelle Gemeinschaften werden als „Extremisten“ verfolgt. Im Fall der Ukraine sehen wir eine sehr tragische Geschichte: Je mehr russische Streitkräfte in der Schwarzmeerregion sind, desto weniger Muslime leben in diesen Gebieten. Russland hat sich den Süden der Ukraine im 18. und 19. Jahrhundert unter dem Vorwand des Widerstands gegen den osmanischen Einfluss einverleibt.

Nach dem Krieg werden alle in diesem Gebiet in Gefahr sein. Alle roten Linien sind überschritten, die Entscheidungen sind gefallen, und die Zukunft ist dunkel, wenn die Aggression nicht gestoppt wird.

Islamische Zeitung: Was können Muslime in Europa und anderswo tun, um ihre Geschwister in der Ukraine zu unterstützen?

Mykhaylo Yakubovych: Sie können die Weltgemeinschaft über russische Verbrechen informieren und Flüchtlingen helfen (leider gibt es bereits Millionen von Menschen, und ihre Zahl wächst täglich). Besonders für europäische Muslime bedeutet dies, ihre Regierungen aufzurufen, die Ukraine mit allen möglichen Mitteln zu schützen. Dieses Böse wird nicht an den Grenzen haltmachen. Und für Muslime im Nahen Osten gilt: Russland hätte in Syrien gestoppt werden können, vielleicht hätte es keine anderen Konflikte gegeben. Geopolitische Diskussionen sind schwierig. Aber wir haben jetzt eines der blutigsten und offenkundigsten Verbrechen der modernen Geschichte, das kein gläubiger Mensch unterstützen kann.