
(iz). Ali Özgür Özdil leitet seit 10 Jahren ein privates Bildungsinstitut in Hamburg, betreibt Beratungen, etwa von Lehrern, von Schülern, von Eltern aber auch Familien- und Erziehungsberatung. Darüber hinaus ist er auf auch dem Gebiet der Fortbildung tätig.
Mit ihm sprach IZ-Autor Ali Dursun über das Projekt eines Islamischen Religionsunterrichts und die so genannte „Islamische Theologie“, über kindgerechte Pädagogik und Möglichkeiten eines muslimischen Bildungswesens.
Islamische Zeitung: Lieber Dr. Özdil, seit geraumer Zeit gilt der Islamische Religionsunterricht und die damit verbundenen Fakultäten als beste Lösung für die Frage der breiten Wissensvermittlung. Bräuchte es nicht, nicht nur zur Wahrung der muslimischen Eigenständigkeit, auch eigene muslimische Einrichtungen der höheren Bildung?
Ali Özgür Özdil: Meines Erachtens gibt es mehrere Orte die zentral sind für die Wissensvermittlung und eines der wichtigsten Ziele der Wissensvermittlung ist wiederum die Stärkung der Identität. Es ist bereits schwierig, islamische Identität genau zu definieren oder einzugrenzen. Insofern glaube ich, dass Einrichtungen, sei es die Institution Familie, der Kindergarten, die Schule, die Moschee oder auch die Universitäten, Rücksicht darauf nehmen müssen was genau die Bedürfnisse der Zielgruppen sind.
Wir unterscheiden die Methoden und die Ziele in der Erziehung. Die Erziehung in der Familie kann nicht gleichgesetzt werden mit der Erziehung in der Schule und die Erziehung in der Schule kann nicht gleichgesetzt werden mit der Erziehung in der Moschee. Insofern müssen wir zu der Erkenntnis gelangen, dass all diese Orte wichtig sind bei der Entwicklung des Individuums und berücksichtigt werden müssen, ohne das ein Lernort gegen einen anderen ausgespielt wird – etwa islamischen Religionsunterricht einzufordern, um die Schüler aus den Moscheen zu reißen.
Ein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen kann Dinge leisten, die eine Moschee nicht leisten kann und eine Moschee kann wiederum Dinge leisten, die der Religionsunterricht nicht leisten kann. Beispielsweise lernen die Kinder in der Mosche‚ den Koran zu rezitieren oder die Gebete zu verrichten, dies wiederum sind nicht die primären Aufgaben des Religionsunterrichtes. Deswegen ist es auf der einen Seite sinnvoll, sich für Religionsunterricht an öffentlichen Schulen einzusetzen, seien es Eltern oder Verbände, die dieses Recht einfordern, aber auf der anderen Seite auch die eigenen Institutionen, die Moscheen und Qur´ankurse zu unterstützen, zu stärken und weiter zu entwickeln. Deswegen würde ich sagen, dass es auch eigene muslimische Einrichtungen der höheren Bildung geben muss, weil eben der Religionsunterricht alleine nicht alles leisten kann, was für die religiöse Entwicklung von muslimischen Kindern und Jugendlichen notwendig ist.
Islamische Zeitung: Haben Sie in diesem Zusammenhang eine Position zu der so genannten islamischen Theologie, die als solche keine etablierte Wissenschaft ist, sondern eine noch zu schaffende?
Ali Özgür Özdil: Die islamische Theologie, wie sie sich gerade an einigen ausgewählten Hochschulen nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrates im Jahre 2010 in Deutschland entwickelt, steht natürlich noch am Anfang, aber wenn wir islamische Theologie sagen, dann greifen wir auf eine mehr als 1000-jährige Geschichte und Tradition zurück sodass wir zwar im deutschen Kontext gerade neu anfangen aber im gesamtislamischen Kontext auf eine sehr reiche Tradition zurückgreifen, von der wir auch in Deutschland profitieren können.
Natürlich ist Theologie kontextuell, das heisst, die Fragen mit denen wir uns hier und heute beschäftigen, sind nicht identisch mit den Fragen mit denen sich zur selben Zeit Muslime in Saudi-Arabien, Ägypten oder in der Türkei beschäftigen, aber die Grundfragen sind natürlich dieselben. Hier wird der Islam nicht neu erfunden, sondern unter den hier herrschenden Bedingungen neu definiert. Insofern gibt es Beispiele, die man aus anderen Ländern, aus Ägypten, der Türkei etc. übernehmen und modifizieren kann. Es gibt aber auch sehr viele Beispiele mit denen wir hier uns ganz spezifisch auseinandersetzen und darauf muss die sich neu etablierende islamische Theologie in Deutschland auch eigene Antworten geben können.
Meine Position dazu ist, dass es eine positive Entwicklung darstellt, wenn der Islam auch an Hochschulen gelehrt wird und Muslime die Möglichkeit haben, an Hochschulen in deutscher Sprache den Islam zu studieren um unter anderem in islamischen Einrichtungen dann auch in deutscher Sprache predigen und unterrichten zu können. Zumal deutsch die Kommunikationssprache aller Muslime in Deutschland ist.
Auf der anderen Seite beobachte ich, dass islamische Theologie wie sie in westeuropäischen Ländern aufgebaut wird, wenn diese rein von Staaten gefördert und auch unter dem Aspekt der Sicherheitspolitik läuft, so das man etwa deutschsprachige Muslime ausbilden will, nicht nur um den Moscheen einen Gefallen zu tun damit sie deutschsprachige Imame haben, sondern auch um zu wissen, wer, was , wie und wo lehrt und das darf meines Erachtens nicht nur alleine unter dem Aspekt der Sicherheitspolitik etabliert oder gefördert werden, sondern muss für sich genauso wie andere Fächer auch beanspruchen in Forschung und Lehre frei zu sein.
Islamische Zeitung: Wie sieht im Rahmen der islamischen Wissenschaftsvermittlung eine kindgerechte Pädagogik aus?
Ali Özgür Özdil: Eine kind-gerechte Pädagogik beginnt meines Erachtens als erstes in der Familie. Die Familie ist der wichtigste Lernort für die Charakterbildung des Kindes und jede muslimische Familie muss sich bemühen, dem Kind nicht nur allgemein, sondern auch individuell das zu geben was es an Rüstzeug in seinem Leben braucht, um später eigenständig und eigenverantwortlich denken und handeln zu können. Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder bis zu einem bestimmten Punkt in ihrem Leben körperlich, geistig und seelisch zu unterstützen und zu fördern. Irgendwann ist das Individuum mündig, körperlich und geistig reif und trägt Eigenverantwortung für sein handeln, dort muss die Erziehung hinzielen. Das ist mehr als Wissenschaftsvermittlung, denn der Mensch besteht aus Körper, Geist und Seele. Sein Körper hat Bedürfnisse, sein Geist hat Bedürfnisse, das ist die Wissenschaftsvermittlung und seine Seele hat Bedürfnisse und das ist Spiritualität. Eine kindgerechte islamische Pädagogik muss auch den Aspekt der Spiritualität berücksichtigen, weswegen die Praxis in der Familie, Eltern als Vorbilder, das Eltern ihren Kindern das Beten beibringen, die Praxis in der Moschee und in den Gemeinden sehr wichtig ist.
Islamische Zeitung: Wo sehen Sie trotz materieller Beschränkungen die grössten Potenziale und Möglichkeiten für muslimische Ansätze in der Pädagogik?
Ali Özgür Özdil: Wenn wir die Pädagogik oder Erziehungsmethoden des Propheten Muhammad (saws) untersuchen, dann finden wir mehr als ein Dutzend Beispiele, wie der Prophet mit seinen Gefährten gesprochen, was er ihnen empfohlen hat, wie er Gegenstände benutzte oder mit Mimiken arbeitete, wie er Fragen stellte oder auf eine Frage mit einer Gegenfrage antwortete. Wir erkennen bei diesen Beispielen, dass er vor allem das Nachdenken förderte, damit sie eigenverantwortlich handeln konnten. Zu seiner Methodik gehörte, dass er erst die Inhalte des Glaubens vermittelte und dann den Koran lehrte, so dass seine Gefährten in ihrem Glauben gestärkt wurden nachdem sie die Bestätigung ihres Glaubens in der Botschaft Allahs swt wieder fanden. Verglichen mit diesen Methoden, wenn wir uns die Moscheen beispielsweise anschauen wo Qur'ansuren gelehrt werden, können wir feststellen, dass dort in der Regel das Umgekehrte stattfindet. Dass dort erst der Qur'an gelehrt und das Verstehen wiederum selten oder kaum gefördert wird. Was die materiellen Beschränkungen betrifft, kenne ich ein Beispiel, wo der Prophet in der einen Hand Seide und in der anderen Hand Gold hielt und sagte: „Diese sind für die Männer in meiner Umma verboten und für die Frauen in meiner Umma erlaubt.“ Das ist eines der wenigen Beispiele, wo der Prophet „mit Material“ arbeitete. Ansonsten sehen wir, dass der Prophet nicht viel Geld oder Material benötigte, um seinen Gefährten den Islam zu erklären. Ich empfehle zu forschen, inwiefern es mit den geringsten Mitteln, sei es in der Familie, im Kindergarten, in der Schule oder in der Moschee möglich ist, Wissen und Religion zu vermitteln.
Islamische Zeitung: Wer bestimmt im Rahmen einer zunehmenden Atomisierung auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft eigentlich die Lehrinhalte? Was sind die verbindlichen Grundlagen?
Ali Özgür Özdil: Aus Erfahrung kann ich sagen, dass die Lehrinhalte, je nachdem wo gelehrt wird, etwa in der Moschee von den Lehrenden, seien es die Imame oder die dort angestellten Erzieher, bestimmt werden. Die Institutionen orientieren sich dabei an den Wünschen der Eltern. Die verbindlichen Grundlagen bei den Lehrinhalten sind ohne Zweifel die Glaubenselemente des Islam, wie etwa die fünf Säulen, die die Grundlage für das Handeln im Islam bilden. Diese lassen sich natürlich in der Unterrichtspraxis in weitere Details unterteilen, was wiederum vom pädagogischen Geschick der Lehrenden abhängt. Wichtig sind meines Erachtens nicht nur die Lehrinhalte, sondern auch deren Methoden zur Vermittlung. Ganz zentral spielen dabei die Lehrenden eine Rolle, weil sie die Hauptverantwortung tragen und weil die Lehre oder der Unterricht mit ihnen steht oder fällt.
Islamische Zeitung: An welchen Projekten sind Sie derzeit selbst beteiligt?
Ali Özgür Özdil: Ich selbst leite seit 10 Jahren ein privates Bildungsinstitut in Hamburg, betreibe Beratungen, etwa von Lehrern, von Schülern, von Eltern aber auch Familien- und Erziehungsberatung. Darüber hinaus bin ich auf dem Gebiet der Fortbildung tätig. Die Fortbildung von verschiedenen Berufsgruppen, die Kontakt zu Muslimen haben, wie etwa Bundeswehr, Krankenhauspersonal, Bereiche sensibler Pflege, Kindergartenerzieher/innen in interkultureller Pädagogik, Lehrer im Bereich des Religionsunterrichtes, Vikare – also angehende Pastor/innen im Bereich der islamischen Theologie, Dialog, Fortbildung für Imame und so weiter. Seit ca. 4 Jahren arbeite ich an der Gründung einer islamischen Online-Akademie, wo über ein Fernstudium studiert werden kann, so das vor allem junge Muslime im deutschsprachigen Raum die kein Abitur haben, die Möglichkeit besitzen, in Zukunft den Islam akademisch online zu studieren womit wir inscha'Allah Ende 2014 starten möchten. Darüber hinaus gibt es viele weitere, etwa Dialogprojekte, an denen ich beteiligt bin.