In der eigenen wie der fremden Wahrnehmung erscheint Muslim-Sein in Deutschland manchmal entortet und eher als eine Frage von Ideen und Konzepten. Die Tatsache, dass Muslime Teil eines Raumes beziehungsweise Ortes sind, diesen verändern und zu ihrem Zuhause machen, bleibt heute noch übersehen. Mit dieser Frage verbunden sind aktuelle Debatten über Identitäten und Zugehörigkeiten. Im folgenden Beitrag von Tarek Sourani gehen wir der Frage nach, was Beheimatung in der heutigen Zeit bedeuten kann.
(iz). Vor ein paar Jahren zog ich aus Studienzwecken in eine neue Stadt, ein paar Autostunden von meinem Geburtsort und dem Haus meiner Eltern entfernt. Der Frühling ist hier eine schöne Zeit. Der Himmel ist in reinem Blau gemalt. Die tristen und grauen Fassaden der Gebäude, die nur einen kleinen Blick in den Himmel ermöglichen, werden durch die überlaufende Sonne vergoldet. Das satte Grün der Fußwege sprießt überall aus den Schlitzen, Ecken und Kanten. Sogar die Alltagsgeräusche, das Surren der Autos und das Dröhnen der Straßenbahnen klingt beinahe freundlich. Heute ist mir alles vertraut; die Dinge haben ihren Platz und ihre Ordnung und sind nach Jahren des Umgangs bekannt.
Über meinem Geburtsort hingegen hängt eine Art von Blässe. Freunde gingen und die Stadt veränderte sich. Wenn ich durch die Straßen gehe, sehe ich Erinnerungen hängen, manchmal schwach, manchmal stärker, aber oft doch nur wie alte Geister. Obwohl alles noch vertraut ist, fehlt es an Intensität, fehlt das Gefühl der Nähe. Es ist eher so, wie mit einer alten Bekanntschaft, die man noch aus nostalgischen Gründen pflegt.
Das Gefühl, zuhause zu sein, ist für unser Leben so grundlegend, dass wir kaum darüber nachdenken – es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Für viele ist das an einen festen Ort gebunden, manchmal an mehrere Orte, gleichzeitig meint es aber mehr als nur einen Ort. „Zuhause sein“ weckt so viele Bilder, Erinnerungen und Erwartungen wie kaum eine andere Idee. Anthropologen haben unseren Wunsch nach einem Zuhause als ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Lokalisierung beschrieben. Für sie geht unser Grundbedürfnis weit über die Tatsache hinaus, dass sich Menschen an bestimmten Orten niederlassen. Es beinhaltet auch die wesentlichen Aspekte von Zugehörigkeit, Schutz und Gemeinschaft. Fast alle von uns entwickeln irgendwann die Sehnsucht nach Sicherheit. Wer aber Zuhause sagt, sagt auch Sicherheit. Und wer Sicherheit sagt, spricht von Nähe und unveränderlicher Beständigkeit. Aber wie können wir in einer Welt, in der sich in jedem Moment alles ändert, jemals diese tiefe Sehnsucht zufriedenstellen? Hier offenbart sich das Paradoxon unserer Conditio humana: Einerseits unser Wunsch nach Beständigkeit in der Welt und im Gegensatz dazu die unvermeidliche Veränderung der Zeit, die ständige Bewegung und der Fluss alles Temporären.
Die meisten von uns ziehen heute mehrmals im Leben um; einige in andere Länder oder sogar auf andere Kontinente; manchmal nur für eine bestimmte Zeit, manchmal dauerhaft. Wohnsitzwechsel sind normal geworden. Diese Entwicklung wird von Unternehmen unterstützt, die von ihren Mitarbeitern zunehmende Mobilität verlangen. Während dieser Trend immer mehr Menschen betrifft, neigen wir dazu, diese Standortwechsel und das, was sie für uns bedeuten, zu banalisieren. Sie sind für unsere Lebensauffassungen so normal geworden, dass wir gelernt haben, die Tatsache zu übersehen, wie schwierig diese neuen Schritte für viele von uns sind; dass die meisten Menschen Monate, wenn nicht sogar Jahre brauchen, um wirklich an einem neuen Ort anzukommen, ihn mit Leben zu füllen und einen neuen Alltag zu entwickeln.
In den letzten drei Jahrzehnten haben die sozial-ökonomischen und kulturellen Entwicklungen dazu beigetragen, die sogenannte Expat-Generation hervorzubringen, also eine Generation aus gut ausgebildeten und international flexiblen Menschen. Dabei handelt es sich oftmals um junge Professionals, die einige Semester im Ausland studiert und deren Karrieren sie bereits nach London oder Shanghai geführt haben. Häufig arbeiten sie für globale Unternehmen, internationale Organisationen oder im Medien- und IT-Sektor, wo es besonders einfach ist, einen dezidierten Lebensstil zu pflegen. Überhaupt sind sie innerhalb einer zunehmend globalisierten Monokultur schnell anpassungsfähig. Sie sind die zeitgenössischen Nomaden, die immer woanders zu sein scheinen und mit der Vielfliegerkarte im Handgepäck von Projekt zu Projekt ziehen, während man in Hotels oder bei Bekannten lebt. Der neueste amerikanische Serien-Hype durch das Netflix-Abo, das Buchen bei Airbnb oder das Lesen der New Yorker gehört zum kulturellen Kapitalstandard der neuen Eliten. Gleichzeitig lebt man in den hippen Stadtvierteln der Großstädte und dass nicht, ohne Gentrifizierung zu beklagen. Das Gefühl, zuhause zu sein, ist hier nicht mehr an den Ort gebunden, aus dem man herkommt sondern an einen imaginären Ort, zu dem man hinwill.
Viele nehmen an, dass diese kulturellen Phänomene ein Vehikel sind für eine neue, globale und kulturelle Avantgarde, die auf der ganzen Welt gleichermaßen zuhause ist. Im Herzen dieses Milieus besteht der enorme Wille zur Emanzipation, eine tiefe Sehnsucht nach einem möglichst radikalen kulturellen Bruch mit der eigenen Herkunft, da die Welt der Eltern und Großeltern mit ihren Traditionen und Lokalisationen als einschränkend und extrem lästig empfunden wird für die Idee der eigenen Selbstverwirklichung. Dennoch muss der Moment kommen, in dem der Stimulus der Veränderung erschöpft ist, der Moment, in dem man auf die eigene Realität zurückgeworfen wird. Jeder, der diese Art von Lebensstil ausprobiert hat, weiß, dass sie auf der Lockerheit menschlicher Bindungen und dem Glauben oder besser der Illusion beruht, dass das wirkliche Leben an einem anderen, fernen Ort auf einen wartet, während das Hier und Jetzt nur ein Leben des Übergangs ist.
Dies steht im Einklang mit den Überzeugungen moderner Gesellschaften, die behaupten, dass Menschen in der Lage sein sollten, Bedingungen zu verlassen, die subjektiv für sie nicht länger erträglich sind. Denn nach liberaler Auffassung ist man verpflichtet, auf sich selbst zu schauen; die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten nicht einschränken zu lassen; Passivität nicht zu tolerieren und stattdessen aktiv zu werden, um etwas für sich selbst zu verändern. Dementsprechend ist das Verlassen einer Beziehung, einer Nachbarschaft oder einer Arbeitsumgebung heute so einfach geworden wie nie zuvor.
Diese Forderung übersieht nicht nur die benachteiligten Mitglieder innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch die Brüche, die sich daraus ergeben. Wer nicht privilegiert genug ist zu fliehen, wird mit dem Versprechen beruhigt, dass auch er oder sie eines Tages Zugang zu dieser Erleichterung haben wird. Auf der anderen Seite verspüren einige globale Expats aber auch den Verlust, das Leerzeichen auf der inneren Karte, das Gefühl, dass etwas fehlt. Denn manchmal ist es egal, wie aufregend, spannend und großartig die Dinge um einen herum sind, manchmal möchte man nur eine gewisse Stabilität spüren und vielleicht auch Teil von etwas sein – man möchte ein Zuhause haben.
Wenn man in der jüngeren Vergangenheit in bestimmte soziale Schichten hineingeboren wurde, so blieb man doch häufig ein Leben lang an sie gebunden. Dieses Zugehörigkeitsgefühl unterliegt längst einem großen Fragmentierungsprozess. Es ist verlockend, diese Entwicklungen nostalgisch zu beklagen, aber gleichzeitig muss man festhalten, dass sie für viele Menschen etwas äußerst Positives darstellen. Einige können erst jetzt überhaupt ein Zuhause finden. Besonders diejenigen, die mit den Normen ihrer Herkunftsumgebung in Konflikt standen und daher Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung gemacht haben. In unserer Zeit können sie Menschen anderswo finden, die ähnliche Erfahrungen durchlitten haben, oder einfach Menschen, die sie so akzeptieren und lieben, wie sie sind. Vielleicht ist dies der schönste Aspekt des globalen Wandels, dem unsere Idee von Zuhause unterworfen ist. Es ist möglich, Gemeinschaften zu finden, in denen man respektiert wird und sich zugehörig fühlt.
Auf alle Fälle scheint es ein Fehler zu sein, die Welt, aus der wir kommen, in einen Ort ohne grundlegende Komplikationen zu verwandeln. Nicht selten ist es doch einer der schwierigsten, mit den meisten Konflikten geladenen Orte. Die zahlreichen Idealisierungen, die wir alle verinnerlicht haben – seien es nostalgische Familiengeschichten oder Verklärungen aus Filmen und Romanen – lassen oft vergessen, dass das Fremdheitsgefühl oft zuallererst zuhause beginnen kann.
In seinem Buch „Sein und Zeit“ von 1927 dachte auch Heidegger über die Frage des Zuhause-Sein nach. Besonders negativ beurteilt Heidegger die unbestrittene Akzeptanz und Übernahme des Vertrauten und Bekannten, die unreflektierte Annahme der Weltzusammenhänge, in die wir geboren wurden. Für ihn kommt dies einem „Verfall des Alltags“ gleich. Demnach verkennt man sein eigenes Selbst, so Heidegger, wenn man blind dem folgt, was allgemein üblich ist. Nur wenn man den Horizont des Gegebenen und des Alltäglichen durchbricht, hat man die Möglichkeit, der Unheimlichkeit des eigenen Lebens zu entfliehen. So groß die Spuren unserer Herkunft auch sein mögen, die Möglichkeit, jene zu verlassen, ist immer möglich. Hinter diesem Verlassen steht oft das Bedürfnis, sich neu auszurichten, den Blick auf die Welt und uns selbst auszudehnen und damit das Spektrum des eigenen Erfahrungshorizonts zu vergrößern. Ein nostalgischer Diskurs kann dieser notwendigen Erweiterung unserer menschlichen Erfahrung entgegenstehen.
Natürlich werden wir diesen Ort, an dem unsere eigene Geschichte angefangen hat, niemals ganz abschütteln können. Die Spuren der Welt, in der wir aufgewachsen sind, wirken sich weiterhin auf unser Leben aus, auch wenn wir unter völlig anderen Umständen leben oder leben wollen und auch dann, wenn wir der Meinung sind, wir hätten mit unserer Vergangenheit abgeschlossen.
„Die Vergangenheit ist niemals tot“, schrieb William Faulkner und dass das stimmt, zeigt fast jede autobiografische Erzählung, die sich mit ihrer eigenen Herkunft befasst. Für viele von uns wird diese Herkunft als Zuhause-Sein mit sentimentalen Erinnerungen an unsere Kindheit in Resonanz treten, auch wenn diese Welt längst nicht mehr existiert. Unsere Sehnsucht nach einem Zuhause basiert auf diesen Erfahrungen und Gefühlen der bereits verschollenen Kindheit, also einer unwiderruflich verlorenen Welt, die anders aussah als heute, in der die Menschen anders sprachen und die anders roch. Hier offenbart sich der ambivalente Charakter des Zuhause-Sein. Denn man sehnt sich letztlich nach einem unwirklichen Ort, einem Ort getragen von sanfter Nostalgie, unerfüllten Sehnsüchten und weitläufigen Fantasien.
Bedeutet das, dass wir kein Zuhause brauchen? Doch, wir brauchen eines. Wenn wir dazugehören wollen, müssen wir uns mit bestimmten Gruppen und bestimmten Aspekten des Landes, in dem wir leben, identifizieren können. Das Bedürfnis, sich an einen Ort und an die Menschen zu binden und sie zu einem Teil von sich werden zu lassen, gehört zu den tieferen Schichten unserer Menschlichkeit. Es scheint für die meisten von uns unverzichtbar, wenn wir ein einigermaßen zufriedenes Leben führen wollen. Es korrespondiert mit Akzeptanz und dem Gefühl, dort zu sein, wo wir sein sollen und wo wir als Einzelne und Gemeinschaft wachsen können. Wahrscheinlich ist es nicht so wichtig, wo man seine Wurzeln schlägt. Was zählt ist, dass man sie schlägt. Zuhause-Sein bedeutet also, dort sein Zuhause einzurichten, wo immer uns das Leben hin verweist, denn manchmal trägt es uns ja zu unbekannten Küsten und Landschaften.
Schlussendlich ist das vollkommen erfüllte und glückliche Zuhause jedoch ein idealisiertes Konzept, das in diesem irdischen Leben nicht existieren wird, da es nicht viel mehr ist als ein Spiegel der ewigen Heimat. Unsere Suche nach einem idealen Zuhause ist die Suche nach einem unerreichbaren Glück hier auf Erden, das in Wahrheit zum Jenseits gehört. Unser hiesiges Zuhause ist unser Zuhause nur vorübergehend. Eines Tages werden wir gehen müssen. Um diesen Tag weniger schmerzhaft zu machen, sprachen religiöse Autoritäten wie Al-Ghazali oder Augustinus von unserem vorübergehenden Leben als Pilgerreise. Pilgerfahrten haben zwar ein Endziel, aber auf ihren Wegen geht es darum, sich den menschlichen Erfahrungen, fremden Territorien und den unergründlichen Geheimnissen der Welt aus allen möglichen Blickwinkeln zu öffnen. Wenn unser Leben zur Pilgerfahrt wird, wird es zum Mittel für die Erweiterung unserer inneren und äußeren Geographie. Wir erfahren dann, dass wir alle in gewissem Sinne sehr weit weg von Zuhause sind; von dem Ort, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir zurückkehren werden und von dem unser jetziges Zuhause nur eine Spiegelung ist.