
(iz). Ayşe Gerner ist Professional Coach, psychosoziale Beraterin und Psychologin. Derzeitig ist sie in Köln und Düsseldorf in der Familien- und Eheberatung mit dem Schwerpunkt muslimische Familien tätig.
Für diese Schwerpunktaufgabe befragten wir sie zu den größten aktuellen Herausforderungen für Familien, die Rolle von externen Stressfaktoren, über die Möglichkeit von Gegenstrategien und positiven Modellen sowie der Frage, ob Kinder eigentlich bespaßt werden müssen.
Islamische Zeitung: Liebe Ayşe Gerner, nicht erst seit der Pandemie haben Familien mit Herausforderungen verschiedenster Art zu kämpfen. Worin bestehen die schwerwiegendsten?
Ayşe Gerner: Familien haben insgesamt einen sehr herausfordernden Alltag. Das liegt daran, dass das Leben auf allen Ebenen komplexer wird. Wir haben hier bereits komplexe Ausbildungs- und Studienprozesse. Es wird verlangt, in kürzester Zeit sehr viel zu können. Das spiegelt sich in unserem Arbeitsleben wider, in dem die Prozesse immer wieder optimiert und perfektioniert werden. Diverse Digitalisierungsprozesse und die Entwicklung hin zu einer zunehmenden Dienstleistungsgesellschaft bilden eine große Herausforderung im Arbeitsleben. Dazu kommt noch die Erwartung des Arbeitgebers hinzu, permanent erreichbar sein zu müssen. Das wiederum wirkt sich auf das Familienleben aus. Wir gründen Familien und die ganze Komplexität des vorhandenen Lebens wird auch in ihnen reflektiert. Wir haben diese Probleme nicht erst seit der Pandemie, sondern der Werdegang des Lebens ist so. Hier spüren wir das intensiver, weil wir auf verschiedenen Ebenen funktionieren und komplexe Dinge bewältigen müssen, aber die Familie häufig keinen Ruhepol mehr bietet.
Islamische Zeitung: Es gibt bestimmte Faktoren, die sind eindeutig an Klasse, Herkunft, Sozialökonomie und an demographische Faktoren gebunden. Aber gibt es auch Herausforderungen und Stressfaktoren, die durch die ganze Bank weg für alle Familien vergleichbar sind?
Ayşe Gerner: Dass die Komplexität stark zunimmt und das Leben insgesamt als komplizierter wahrgenommen werden, ist in allen sozio-ökonomischen Situationen gegeben. In der aktuellen Lage herrscht für Familien finanzielle Unsicherheit auf allen Ebenen. Das heißt, auch gut Situierte haben eine gewisse Furcht um Hab und Gut. Diese Angst teilt er mit dem, der bereits wenig hat. Dazu kommt eine zunehmende politische Unsicherheit. Ich habe das Gefühl, dass Unsicherheiten und existentielle Ängste insgesamt zunehmen, zudem das Vertrauen in die aktuelle politische Lage und auch die aktuelle politische Führung deutlich abgenommen hat.
Wenn ich von meiner Familienberatung und psychologischen Arbeit ausgehe, zieht sich das durch alle Schichten. Die moderne Familie ist vielen Belastungen ausgesetzt. Das ist unabhängig von der sozioökonomischen Lage. Die Kleinfamilie hat einfach zu wenig Hilfe von außen. Sie ist auf sich allein gestellt und die Familie muss funktionieren, damit das Leben funktioniert. Das beginnt schon mit der Geburt eines Kindes – ein großer Stressfaktor. Man wünscht sich Kinder, man wünscht sich eine Familie, aber man fühlt sich zu sehr alleingelassen mit dem Problem, ein Kind bekommen zu haben. Das mag simpel klingen, ist es aber gar nicht, weil sich Großfamilienstrukturen weitestgehend aufgelöst haben. Wir sehen uns auch als Familien mit der Situation konfrontiert, dass wir immer mehr umziehen müssen, weil attraktivere Arbeitsstellen woanders sind, bessere Vergütung dort ist oder der Ehepartner an einem anderen Ort lebt. Das heißt, diverse Gründe zwingen uns dazu, unseren gewohnten Lebensraum zu verlassen und in gewissen Dingen sehr flexibel zu sein. Dadurch nimmt wiederum Einsamkeit zu. Ja, es ist ein Organisationswahnsinn und der ist kritisch zu betrachten. Damit kommt der eine oder andere weniger zurecht und so nehmen viele komplexe Prozesse ihren Lauf. Das sind zum Beispiel Arbeit, Studium, Ehe, Ausbildung und Kinder. Wenn wir all das auseinander bröseln, dann ist jeder einzelne Faktor einfach zu komplex, um leichthin stressfrei durchs Leben zu kommen. Wir haben immer dieses permanente Gefühl, nicht angekommen zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass auf vieles, was man sich aufgebaut hat, kein konstanter Verlass ist. Sei es die Ehe, die deutlich leichtfertiger aufgegeben wird oder der Arbeitgeber, der einem das Gefühl gibt, jederzeit ersetzbar zu sein.
Islamische Zeitung: Nur noch eine Minderheit in Deutschland hat die Erfahrung von Großfamilie oder vergleichbare Möglichkeiten des „Lernens“ von Familie. Wo können sich Leute heute die nötigen „Ressourcen“ für ein harmonisches Bestehen suchen?
Ayşe Gerner: Es ist interessant, dass mit der Abnahme der Großfamilie und Verwandtschaftsstrukturen der Aufbau von Beratungsstellen zugenommen haben. Das geht Hand in Hand. Kaum wurde die Familie abgebaut oder kleiner gehalten, haben überall Ratgeber- und Beratungsstellen zugenommen. Diese Lücke von Unsicherheit muss geschlossen werden. Es werden auch sehr viele Weiterbildungen in diesem Bereich geboten. Jeder kann sich zu einem Coach oder Berater für irgendetwas ausbilden und zertifizieren lassen. Es gibt quasi Nichts, wozu man sich nicht beraten lassen kann. Diese ganze Landschaft an Coaching und Beratung ist entstanden, weil Menschen Lebenshilfen im Alltag brauchen.
Diese Hilfe wurde früher häufig durch die Familie kompensiert, indem Ältere schon die Erfahrung gemacht haben und dieses Wissen an Jüngere weitergaben. Das ist de facto nicht mehr so. Das heißt, schon kleinste Dinge überfordern einen heute. Man gründet eine Familie und hat zum Beispiel das Kochen nie gelernt. Wer von uns hat Kochen irgendwo gelernt? Also eigentlich haben wir durch Apps, YouTube-Videos und irgendwelche Kanäle versucht, Kochen zu lernen. Das sagen immer mehr junge Familien. Oder man sitzt in der Küche und ruft die Mama an: „Kannst du mir helfen, die Suppe zu machen?“ Und die Mutter sagt sogar: „Kind, du bist gebildet genug. Schalte die App ein, und da gibt es genug Rezepte.“ Es spiegelt sich auf diversen Ebenen wider, dass wir Ratgeber brauchen, dass wir Hilfe brauchen. Beratungszentren begannen dann zu florieren, als die Familie zur Kleinfamilie wurde. Das heißt, man geht mit einem Anliegen zu einer Beratungsstelle, wo es um Familie, Kind, Erziehungsberatung, Familienberatung und Paarberatung geht. Immer mehr wird in Beratungsstellen investiert, weil die Leute anonyme Hilfe in ihren Problemlagen suchen. Die Problemlösekompetenz, Ausdauer und Beharrlichkeit im Privatleben nehmen bei den Menschen eher zunehmend ab und Beratungsstellen versuchen hier, weiterzuhelfen und an der Lösungskompetenz der Leute mitzuwirken.
Islamische Zeitung: Jetzt haben wir die Problemlage oder auch die Komplexität beleuchtet. Und es gibt ganz offenkundige Faktoren, die Familien unter Druck setzen. Jenseits von der Einkommenshöhe sind das auch fehlender Raum, Hektik und andere Stressfaktoren. Was können Familien und Eltern konkret tun, um diese Stressfaktoren zurückzudrängen, um ein bisschen mehr Luft zu schaffen und um ihre Lage zu verbessern?
Ayşe Gerner: Erst einmal ist es wichtig feststellen, dass nicht alles optimal laufen muss. Ich halte das für eine sehr wichtige Feststellung. Wir leben, wie gesagt, in einem Optimierungswahn und müssen zur Erkenntnis kommen, dass nicht alles optimal im Leben laufen kann. Wenn man diesen Anspruch für sich erst einmal gesetzt hat, rennt man ihm hinterher und dann macht sich Unzufriedenheit breit. Nein, es muss nicht optimal sein. Ich kann nicht optimale Hausfrau, Ehefrau und Mutter in einem sein und dazu noch eine super Karriere hinlegen. Man muss auch lernen, mit einer nicht optimalen Familie oder dem nicht optimalen Leben umzugehen. Auch die nicht perfekt funktionieren Kinder oder der nicht optimale Partner gehören hierzu.
Da kommen wir schnell an unsere Grenzen, weil wir von unserer Erziehung her stark geprägt wurden, Fehler zu erkennen. Das spiegelt sich durch die ganze Schullaufbahn und auch Karriere hindurch. Wir erkennen sehr schnell Prozesse, die nicht optimal laufen. Wir sind als Europäer aber nicht darauf trainiert, zu erkennen, was gut läuft. Ich kann zum Beispiel in einer Paarberatung schnell feststellen, dass die Paare sehr schnell die Fehler des jeweils anderen Partners benennen können, aber nicht das, worin der Partner gut ist. Da muss erst nachgedacht werden und eine Leere entsteht. Niemand kann direkt antworten und es wird häufig geschmunzelt. So läuft das auf diversen Ebenen. Wir haben einfach den Anspruch, dass alles perfekt laufen muss. Das wiederum stresst uns sehr. Es ist in Ordnung, wenn das Zuhause manchmal nicht so gut aussieht und unaufgeräumt ist. Es ist in Ordnung, wenn mal ein Termin ausfallen muss. Es ist okay, wenn ich nicht jeden Tag 100 Prozent geben kann auf der Arbeit und nicht die oder der Allerbeste bin und die Macken des jeweils anderen Partners sind auch menschlich.
Ich glaube, wir müssen diese Gelassenheit trainieren und den Dingen ihren Lauf lassen und auch ihren nicht perfekten Lauf. Nur dann können wir zufriedener werden, die Ruhe in uns finden und auch besser funktionieren, weil der Blickwinkel auf das Leben sich dadurch ändert. Ich habe gerade Beratungsstellen angesprochen. Wenn ich das mal auf uns Muslime beziehe, müssen deutlich mehr Beratungsstellen für Muslime eröffnet werden. Die Anzahl an islamischen Seelsorgern, Psychologen und Beratern muss deutlich wachsen. Es ist zum Beispiel eine Riesenressource für eine muslimische Familie, einer Gemeinde anzugehören. Eine gewisse Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen und eine Richtlinie des Gemeindelebens geben häufig großen Halt in diesen unsicheren Zeiten. Hier kann ich mir zur Not ebenso Rat und Hilfe holen. Das ist eine wertvolle Ressource für eine muslimische Familie und wird unterschätzt. Es ist auch schön, hin und wieder einfach nur folgen und mitschwimmen zu können, anstatt sich alles mühselig selbst zu erarbeiten. Durch das Sozialleben in der Gemeinde haben heranwachsende Kinder deutlich mehr Vorbilder, was ebenso viel Erleichterung für die Eltern bedeutet.
Islamische Zeitung: Sie haben von Gelassenheit gesprochen. Gehört dazu auch, dass Eltern lernen, das Öffentliche und ihre Arbeit zurückzunehmen, damit Familie und Kinder genug Aufmerksamkeit bekommen?
Ayşe Gerner: Es ist nicht nur der Fakt, dass man eine Arbeitsstelle hat und daneben einfach nur die Familie. Wir haben häufig viel Druck im Arbeitsleben. Dieser wird erzeugt durch den bereits erwähnten Optimierungswahn und die permanent geforderte hohe Flexibilität und Veränderungsbereitschaft. Dieser beginnt häufig schon in der Ausbildung oder im Studium und setzt sich ab dann fortlaufend weiter. Heutzutage reicht eine bereits absolvierte Ausbildung bereits nach kurzer Zeit im Arbeitsleben nicht mehr aus. Wir selbst oder der Arbeitgeber erwarten mehr. Wir stellen nach ein paar Jahren schon fest: Wir wollen eine noch bessere Stelle oder Position. Wir wollen noch mehr verdienen. Wir müssen Weiterbildungen machen, wir brauchen zusätzliche Qualifikationen. Das setzt uns unter Druck. Es ist heute fast ungewöhnlich zu sagen: Ich habe diese Ausbildung absolviert und arbeite unkompliziert in diesem Beruf. Das ist nicht die Lebensrealität. Das Leben suggeriert uns, dass wir mehr aus dem Leben herausholen müssen, einfach mehr leisten müssen. Würden wir es dabei belassen können, dass wir einfach diese Ausbildung oder jenes Studium absolviert haben und darin geradlinig arbeiten, dann würde viel mehr Ruhe ins Leben reinkommen. Die Realität ist aber anders. Wir sehen im Arbeitsleben, dass wir uns gegen potenzielle Konkurrenten durchsetzen müssen, dass wir permanent besser sein müssen und dass wir uns unsere Stellung und Position erhalten müssen. Uns wird ständig suggeriert, dass wir nicht gut genug sind. Das löst Druck aus. Wir sind meistens nicht mit der Arbeit zufrieden, die wir gerade ausüben, sondern wir möchten mehr. Wir möchten mehr Geld verdienen. Wir möchten noch besser leben, noch mehr aus dem Leben herausholen. Der Mensch ist schließlich ein soziales Wesen und lebt in einem sozialen Vergleich zu anderen Menschen. Wir möchten es noch optimaler und noch besser haben. Sei es auf der Arbeit, sei es in der Familie oder beim Lebenspartner. Die Suche nach dem optimalen oder dem potentiell noch besseren Partner ist bei vielen jungen Menschen der Hauptgrund, warum es überhaupt erst gar nicht zu einer Partnerschaft oder Familiengründung kommt. Dieses lebenslange Lernen und Optimieren, das Verlangen nach Mehr ist Fluch und Segen zugleich.
Islamische Zeitung: Eltern bringen auch eine Biografie mit – inklusive eventueller Traumata und Vorbelastungen. Wie kann man verhindern, dass man das nicht an die eigenen Kinder weitergibt?
Ayşe Gerner: So ist es bei den meisten muslimischen Familien, denn solche beinhalten in Deutschland oftmals eine Migrationsbiografie und diese bildet häufig von Vornherein die Grundlage für einen ernstzunehmenden Stressfaktor in den Familien. Man nennt diesen auch Migrationssstress oder -Traumata, die über Generationen weitergetragen werden. Es gibt noch andere Traumata, die man im Lebensverlauf erfahren haben kann. Bei so einer Lebensgeschichte wäre es sehr hilfreich, sich einmal hinzusetzen und über diese Ereignisse nachzudenken, zu reflektieren und überhaupt mit jemandem einmal darüber zu reden, diese mitzuteilen. Bei den Vorgängergenerationen wurde das Reflektieren und Reden darüber nicht besonders praktiziert. Man hat geschwiegen, viele seelische Wunden im Herzen vergraben und einfach nur funktioniert im Kampf für ein besseres Leben. Aus diesem Grund hat man viele Traumata, harte Schicksale oder Herausforderungen im Leben einfach kaum aufgearbeitet.
Das Reden und Mitteilen ist bei vielen muslimischen Familien gar keine gängige Praxis, deutlich weniger als in der Mehrheitsgesellschaft. Vieles wird geheim gehalten und in sich selbst verarbeitet. Besonders Männer tendieren dazu, nie über diese Art von Problemen zu reden. Es wird internalisiert und nicht angesprochen. Genau deswegen ist die Verarbeitung ebenso schwer und über Generationen hin sehr belastend. Zu einer professionellen Beratung oder zu einem Psychologen zu gehen ist für viele Menschen eine große Hürde. Schon allein mit irgendjemandem (nicht professionell) über diese seelischen Belastungen und Traumata zu sprechen wäre schon ein heilender erster Schritt.
Jedoch fragt man häufig: Was bringt denn das Reden? Es bringt eine Menge. Viele Blockaden in uns, die entstehen größtenteils auch daher, dass wir nie reden und alles in unserer Seele begraben. Das ist wie ein großer Kloß in unserem Herzen und unserer Seele. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir lernen, zu sprechen und Gefühle zu äußern. Vor allem bei Menschen mit Zuwanderungsbiografie ist diese biografische Arbeit von großer Bedeutung, da häufig harte Schicksale dahinterstecken. Das Reden und Aufarbeiten helfen einem, einfach mal das Leben bewusster Revue passieren zu lassen und barmherzig auch mit sich selbst sein. Zu sagen: Ja, es war schlimm, es war hart und wir haben zum Beispiel viele Fehler in der Erziehung gemacht, weil wir es nicht besser wussten. Das einfach aussprechen zu können und vielleicht auch darüber zu lachen – ja, über Fehler auch mal Lachen zu dürfen. Das wiederholte Sprechen über belastende Lebensereignisse führt dazu, dass wir loslassen können, dass wir die Dinge gut sein lassen können – und das ist eine Riesenhilfe. Es ist eine große Leistung über Traumata sprechen zu können und diese verdient Respekt und Wertschätzung. Für den einen kann dieses über eine professionelle Person sein, die man gar nicht kennt, so habe ich die nötige Distanz zu dieser Person und kann deswegen reden. Für den anderen ist es genau die andere Strategie, indem es Personen sein müssen oder sollten, die einem nahestehen, wo man eben Vertrauen fassen und sagen kann, diese Person meint es gut mit mir. Es ist ein Meilenstein, wenn man als erwachsener Mensch zum Beispiel verstehen kann, dass die Eltern es gar nicht besser wussten oder konnten, als das, wie die Dinge nun einmal gelaufen sind.
Islamische Zeitung: Um hier kurz nachzuhaken, Familientraumata sind nicht nur ein Element von Migrationsbiografien. Auch die Kriegsgenerationen haben viel Gepäck an die nächsten Generationen weitergegeben. Gehört es nicht insgesamt zur modernen Familie, dass übergreifende Belastungen weitergegeben werden?
Ayşe Gerner: Genau das meinte ich mit Bewusstwerdung. Das war mein erstes Wort, als ich über Traumata gesprochen habe, und zwar unabhängig, um welche es hierbei geht. Es geht hier nicht nur um Migrationstraumata, dieses war eher ein Beispiel passend zur heutigen Zeit. In Deutschland im Speziellen gibt es auch die Kriegsgeneration, die gewisse Traumata an die Folgegenerationen weitergegeben hat.
Mit dem Bewusstsein fängt die Heilung an. Der zweite Schritt ist Abgrenzung zu verstehen. Meine Eltern haben zum Beispiel so gehandelt, ich habe es so gelernt, aber ich grenze mich davon ab, weil ich es eben nicht für richtig halte. Meine Eltern wussten es nicht besser und ich verzeihe ihnen. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, vor allem das Verzeihen können. Erst mal die Sache okay sein lassen und dann für sich selbst bewusst Entscheidungen treffen. Die Selbsterkenntnis zu sagen: Ich befinde mich nicht in einer Ohnmacht. Nein, ich habe die Dinge in der Hand, ich kann sie beispielsweise bei meinen Kindern anders machen. Und zwar so, wie ich es für richtig halte und wie sie vielleicht auch objektiv richtig sind. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung, weil ganz viele traumatisierte Menschen Depression und internalisierte Affektstörungen aufgrund dieser erlebten Traumata entwickeln. Ich kann mich dabei ertappen, dass ich immer wieder in eine Falle gerate wie zum Beispiel eine Gewaltspirale. Die Großeltern haben Gewalt gegenüber den Eltern angewandt. Also werden Eltern die Gewalt an die eigenen Kinder weitergeben. Irgendeiner muss es schaffen, innerhalb dieses Prozesses zu sagen: Stopp! Ja, ich habe Gewalt erlebt. Es war nicht okay. Aber ich setze sie nicht fort! Wenn ich mich dabei ertappe, dass ich gewalttätig werde: immer wieder Stopp und Halt – sich bewusst werden – ich bin ein eigenständiger Mensch mit einer eigenständigen Handlungsfreiheit, ich befinde mich nicht in einer Ohnmacht – Ich will nicht so sein wie meine Eltern. Ich entscheide mich bewusst als erwachsener, denkender Mensch, der Entscheidungen fällen kann, dagegen, Gewalt anzuwenden. Selbstwirksamkeit ist sehr wichtig und aus dieser Ohnmacht herauszutreten.
Ayşe Gerner: Sie haben Ratgeber erwähnt. Es gibt für Familie und Erziehung jede Menge, die auch beliebt sind. Können Sie ein paar empfehlen?
Ayşe Gerner: Die Landschaft der Ratgeber ist weit gefasst – besonders in Deutschland. Es gibt viele, die nicht umsonst bekannt sind. Ein Beispiel sind die Bücher von Stefanie Stahl. Die kann ich uneingeschränkt empfehlen. Viele ihrer Bücher, die gerade millionenfach verkauft werden, sind zu Recht beliebt. Es sind Leute, die sollte man nicht geringschätzen. Sie arbeiten teilweise 20 bis 30 Jahre als Therapeuten und Psychologen. Es ist immens wichtig, dass es jeder verstehen kann. Das Großartige an den Ratgebern ist, dass sie für jedermann geschrieben wurden, verständlich sind und in einer Sprache gehalten sind, bei der jeder einigermaßen davon profitieren kann. Neben Stahl würde ich auch Philipp Perry als Elternratgeber nennen oder John Goodman. Gary Chapman und Michael Lukas Möller haben ebenso gute und inspirierende Bücher verfasst. Das sind gut verständliche Bücher über Kommunikation in der Partnerschaft. Ich kann sie uneingeschränkt empfehlen. Ich vermisse muslimische Ratgeber, von denen es noch viel zu wenige gibt, die mir bekannt sind und die ich uneingeschränkt empfehlen kann. Ich möchte auch Muslime animieren, Bücher über ihre Erfahrungen und ihre Ratschläge zu schreiben.
Islamische Zeitung: Einer der Standardratschläge lautet, man solle doch gefälligst „Quality Time“ mit dem Nachwuchs verbringen. Muss der dauerbespaßt werden oder gibt es andere Modelle?
Ayşe Gerner: Meine klare Antwort dazu lautet: Nein, Kinder müssen nicht dauerbespaßt werden. Sie müssen nicht immer unterhalten werden. Da geraten wir als Eltern in einen Teufelskreislauf. Wenn wir beginnen, ist es schwer, wieder herauszukommen. Ich bin eine Verfechterin davon, dass Kinder lernen müssen, mit sich etwas anzufangen und auch lernen sollten, Langeweile zu ertragen. Sie müssen auch akzeptieren können, dass Eltern gerade keine Zeit haben oder nichts geplant haben. Sie müssen damit umgehen können, dass auch mal Leerlauf ist und zwar ohne den Konsum von digitalen Medien.
Kinder sollten dazu angeregt werden, kreatives Denken zu etablieren. Wir können nicht von Kindern kreatives Denken verlangen, wenn immer nur andere für sie planen, strukturieren und Unterhaltung etablieren. Das geht nicht. Sie werden ihre Kreativität höchstwahrscheinlich nur dann aktivieren können, wenn Leerlauf ist. Wenn ich Eltern sehe, die um 16:00 Uhr ihre Kinder von der Schule abholen: Was genau will man bis 19:00 Uhr noch machen? Es ist in Ordnung, wenn diese drei Stunden bis zum Abend nichts geplant worden ist. Es ist okay: Wenn man nach der Schule feststellt, dass gutes Wetter ist und wir einfach nur auf den Spielplatz gehen und sie sich noch ein bisschen austoben können, bevor wir nach Hause gehen. Die Kinder sind fast darauf trainiert, dass sogar in diesen zwei, drei Stunden innerhalb der Woche eine Aktivität stattfinden muss. Es ist vollkommen in Ordnung und auch in den Phasen, in denen keine Schule stattfindet, muss keine Dauerbespaßung stattfinden.
Wir sollten uns als Eltern vornehmen, uns täglich eine halbe Stunde effektiv mit unserem Kind zu beschäftigen. Echte Quality Time von einer halben Stunde ist ausreichend. Also wirklich 1:1, sodass wir tatsächlich mit dem Kind etwas machen – kommunikativ und spielerisch. Hierbei ist auch das Zuhören wichtig: Was liegt meinem Kind auf dem Herzen? Was wünscht es, was fühlt es? So kann ich optimal auf mein Kind eingehen. Den Rest der Zeit muss sich das Kind an die Aktivitäten anbinden, die die Eltern vorhaben. Das heißt, ich folge meinen Eltern und bin nicht Entertainment-Objekt, sondern muss mal mitziehen, weil meine Eltern Folgendes geplant haben oder erledigen müssen. Das wird sich nur dann etablieren können, wenn wir nicht permanente Dauerbespaßung mit den Kindern machen. Wenn die Kinder lernen, meine Eltern haben immer etwas für mich geplant, werden sie auch in den Zeiten, in denen wir dringend etwas erledigen müssen, mit Quengeleien Stress verursachen.
Islamische Zeitung: Wie wichtig ist für diese halbe Stunde, von der gesprochen wurde, der gemeinsame Tisch? Der Familientisch als Ort, bei dem man mindestens einmal am Tag eine gemeinsame Mahlzeit einnimmt und danach dann vielleicht Zeit hat, eben runterzukommen…
Ayşe Gerner: Das gemeinsame Essen und Zusammensitzen einmal täglich ist eine gute und wertvolle Tagesstruktur und Family-Time. Es schweißt die Familie zusammen und gibt Zeit für Kommunikation. Ich halte sehr viel davon, dass man es schafft, einmal am Tag gemeinsam zusammenzusitzen. Das ist fast mittlerweile ein Idealzustand geworden. Ich kenne eine Menge Familien, wo das leider nicht funktioniert. Wenn man zum Beispiel schafft, das Abendessen zusammen vorzubereiten und an einem Tisch für eine halbe Stunde zu sitzen, ist das eine sehr schöne Zeit – und vielleicht noch eine halbe Stunde gemeinsames Spielen. Das ist aber auch das Maximum.
Es gibt eine warme Mahlzeit. Das können sich sogar Kinder daran beteiligen, ein bisschen mit Schnibbeln. Und dann isst man gemeinsam. Genau das meine ich. Das ist, was eine Familie zusammenhält. Und auch Jugendliche mit einzubinden, ist wichtig, weil sie dazu tendieren, einfach die Zeit in ihrem Zimmer zu verbringen.
Islamische Zeitung: Eltern machen nicht selten die Erfahrung, dass mit Ankunft der Kinder auch die gemeinsame Intimität leiden kann, weil die Kleinen beispielsweise nachts bei ihnen schlafen wollen. Haben Sie da Tipps?
Ayşe Gerner: Ich knüpfe an den vorherigen Schwerpunkt an. Eltern müssen bei diesen Prozessen, denen wir mittlerweile in unserem Arbeits- und Familienleben ausgesetzt sind, Quality Time für sich etablieren. Es ist so ein inflationär verwendetes Wort, aber es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, dass ein Ehepaar für sich sorgt und seine Beziehung nicht aus den Fugen geraten lässt. Irgendwann sitzen genau diese Paare dann in der Beratung und sagen sich: Ja, irgendwie haben wir uns auseinandergelebt. Das heißt, diese Zeit von Intimität, Partnerschaft und Kommunikation muss sich genommen werden.
Was heißt das? Damit meine ich, dass ein Paar es schaffen muss, dass es sich gegenseitig so viel wert ist, dass es zum Beispiel innerhalb einer Woche anderthalb Stunden Zeit intensiv miteinander verbringt. Damit meine ich, dass ein Abend gemeinsam verbracht wird; sei es, dass man im Wohnzimmer sitzt, die Kinder sind im Schlaf und sich entscheidet, bewusst mit dem Partner zu kommunizieren. Was meine ich mit Kommunikation? Hier geht es nicht darum, dass wir die nächsten Termine planen und sagen, wer morgen die Kinder von der Kita abholt. Was ich hier beschreibe, ist, dass man über sich selbst spricht, dass man sich in diesen anderthalb Stunden Zeit nimmt, über sich selbst zu reden, seine Gefühle, seine Wünsche und Sorgen. Diese Zeit sollte so genutzt werden, dass jeder der Partner sich selbst jeweils dem anderen Partner mitteilt. Was beschäftigt mich gerade? Wie fühle ich gerade? Was geht gerade in meinem Kopf vor? Was denke und fühle ich? So in der Art sollte die Kommunikation ablaufen. Das heißt, über sich sprechen, von sich selbst erzählen, über seine Gefühlslage, Emotionen, dem anderen etwas mitteilen; das heißt, den Partner an sich selber teilhaben lassen. Nur so kann die Beziehung wachsen.
Auch die Intimität hängt davon ab. Wenn ich nicht die Zeit für solche Gespräche habe und eine gewisse Zweisamkeit zulasse, wird sich daraus auch keine Intimität entwickeln. Das ist die Basis dafür, dass sich etwas entwickelt, sodass es mir wert ist, intim mit meinem Partner zu sein – wenn es geht, an erster Stelle über Kommunikation. Man muss mit anderen kommunizieren und Emotionen mitteilen. Und dann kommt der Schritt auch von allein, dass man intim werden kann.
Wenn diese Vorarbeit erkaltet, nimmt auch die Intimität zunehmend ab. Innerhalb des Familienlebens muss man auch so weit kommen, dass man die Kinder irgendwann ausquartiert. Hierbei meine ich nicht, dass man böse oder gefühlskalt mit ihnen umgeht, sondern – wenn der Raum gegeben ist – dass man es wirklich schafft, Wert auf die eigene Intimsphäre als Ehepaar zu legen. Mit einem Baby geht das eventuell nicht, jedoch sollte man mit zunehmendem Alter des Kindes beharrlich an der Ausquartierung arbeiten – seinem Eheleben zuliebe. Mit dieser Art von Problemen habe ich häufig zu tun. Die Intimität ist so weit auseinandergedriftet, dass kein Zusammenkommen mehr möglich ist. An der richtigen Stelle muss auch insbesondere die Mutter realisieren, dass sie auch Zeit mit ihrem Partner verbringen muss und dass es nicht nur das Kleinkind als Lebensfokus gibt. Es sollte kontinuierlich daran gearbeitet werden, dass das Kind sich in seinem Raum aufhalten kann, ohne Ausnahmen. Wenn Kinder wahrnehmen, dass die Eltern nicht beharrlich sind, kommen sie immer wieder zurück ins elterliche Zimmer. Und das verschließt wiederum die Tür für mehr Intimität. Sie ist aber sehr erforderlich, wenn ich eine langfristige Beziehung etablieren und glücklich sein will.
Weil wir gerade über Ratgeber gesprochen haben, möchte ich sagen, dass das bloße Lesen wirklich nur ein Teil der Thematik ist. Wenn ich diese lese, kann ich mich in diesen erwähnten eineinhalb Stunden über sie austauschen. Solche Bücher können gemeinsam auseinandergenommen werden. Man kann sich sagen: Hör zu, ich habe mir auf der Seite soundso was markiert. Was meinst du denn dazu? Können wir das irgendwie etablieren? Also die Kommunikation über die Ratgeber wäre interessant, nicht nur die Lektüre an sich.
Islamische Zeitung: Liebe Ayşe Gerner, vielen Dank für das Interview.