Debatte: Politische und ideologische Gruppen wollen mit dem Ruf nach einem „islamischen Staat“ insbesondere Jugendliche mobilisieren.
(iz). „Khilafah, Khilafah!“, rufen dieser Tage Protestler auf einigen propalästinensischen Demonstrationen. Was hat das Kalifat mit der leidvollen Situation der Palästinenser zu tun, deren Städte infolge des Hamas-Israel-Konfliktes gerade dem Erdboden gleichgemacht werden?
Auf Schulwegen, in Bussen, auf Youtube, Instagram und TikTok; Propagandisten der Organisation Hizb ut-Tahrir werben im Gewand ihrer Nachfolgeorganisationen Generation Islam, Realität Islam und Muslim Interaktiv um die Köpfe und Herzen junger Muslime. Sie sollen überzeugt werden von der Heilsnotwendigkeit eines „Islamischen Staates“.
Foto: User:EPO, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0
Hizb ut-Tahrir mobilisiert mit Rufen nach „islamischem Staat“
Nur dieser könne die Einheit der Muslime wiederherstellen, Israel vernichten und dem Leiden der Palästinenser ein Ende bereiten. Wer die Existenz eines solchen ablehne, lehne einen Bestandteil des islamischen Monotheismus ab und könne kein Muslim sein.
Mit einer solchen Argumentation setzt man Menschen unter Druck. Welcher Muslim möchte schon vom Islam abfallen? Und irgendwie hat das Kalifat ja etwas mit dem Islam zu tun, schließlich gab es doch ein solches einst, oder? Und mit einem Male wird man aufnahmebereit für die Argumente der Hizb ut-Tahrir.
Betrachtet man aber die Texte und Reden von Apologeten eines solchen Staates genauer, so zeigt sich sehr schnell, wie oberflächig und extremistisch ihr Denken ist. Ihre Argumente zu hinterfragen, impft vor ihrer zersetzenden Wirkung.
Analyse der Argumente
Zunächst einmal ignorieren sie gerne sämtliche Versuche seit Mitte des 20. Jahrhunderts, einen solchen zu gründen. Es findet keine kritische Auseinandersetzung mit den Diktaturen Iran, Pakistan unter Zia-ul-Haq, Afghanistan unter den Taliban oder dem IS (Islamischer Staat Irak und Syrien) statt. Schließlich würde dies ein Nachdenken provozieren, ob ein solcher Staat für die Muslime überhaupt eine gute Idee ist.
In Texten von Befürwortern eines Islamischen Staates finden sich immer wieder Begriffe, die undefiniert bleiben. Eine kleine Auswahl:
Umma: Was ist damit genau gemeint? Umfasst der Begriff alle Muslime, also Sunniten und Schiiten oder nur jeweils eine Konfession? Islamische Menschen: Was sind islamische Menschen? Weshalb verwendet man nicht das Wort Muslime? Islamische Gesellschaften: Was sind islamische Gesellschaften? Wodurch zeichnen sich diese aus?
Staat: Worin liegen die Unterschiede zwischen dem vormodernen und dem modernen Staat? Warum wurde das vormoderne Staatskonzept durch den modernen Staat ersetzt? Welche Schwächen hatte das alte Modell? Knüpft ein Islamischer Staat an das vormoderne Modell an oder bedient er sich beim modernen Modell? Wenn Letzteres, auf welcher Grundlage geschieht dies? Und was wird historisch unter einem Islamischen Staat verstanden? Medina zur Zeit des Propheten Muhammad, das Kalifat der ersten vier Kalifen, die Herrschaft der Umayyaden, Abbasiden, Moghul, Osmanen u.a.?
Scharia: Was wird unter Scharia eigentlich verstanden? Handelt es sich dabei nicht um zwei Quellen, dem Qur’an und der Sunna oder dem Hadith, deren arg begrenzte Anzahl an Bestimmungen durch die Rechtsgelehrten mittels unterschiedlicher Methoden weitergedacht wurden, was zur Entstehung der Wissenschaft von der Normenlehre (arab. fiqh) und unterschiedlichen Rechtsschulen führte? Gerade diese Entwicklung belegt, dass Religion stets Interpretation ist und es somit keine sterile Scharia gibt.
Auffällig ist auch, dass Vertreter dieser Idee tunlichst Begriffe vermeiden, die negative Assoziationen hervorrufen könnten. Einerseits wird erklärt, dass in einem solchen Staat die Souveränität allein Gott gebührt, andererseits verzichtet man darauf, diese Herrschaftsform korrekt als Theokratie zu benennen.
Des Weiteren lassen sich gewichtige Widersprüche finden, die typisch für Islamischer Staat-Advokaten sind. Die Ablehnung des Nationalstaates wird damit begründet, da dieses Konzept die Volkssouveränität vertritt. In ihren Texten wird schließlich erklärt, dass die Souveränität im Islamischen Staat bei der Umma liegt, ausgeführt von den Rechtsgelehrten.
Foto: OsamaK, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0
Wer ist Souverän?
Moment einmal, bei wem liegt nun die Souveränität im Islamischen Staat: bei Gott oder der Umma? Hier wird ein Problem dieser Befürworter deutlich. Einerseits plädieren sie dafür, dass alle Macht bei Gott liegt, andererseits besteht die offenkundige Tatsache, dass Gott diese Herrschaft niemals ausgeführt hat. Gott spricht nicht im Parlament. Er hält keine Ansprachen an die „islamische Gesellschaft“. Und Engel fungieren im Islamischen Staat auch nicht als Polizisten oder Soldaten.
Da Gott im „Islamischen Staat“ durch Abwesenheit glänzt, braucht es notwendigerweise den Menschen. Islamischer Staat-Propagandisten versuchen nun, ihr Konzept von der Souveränität Gottes notdürftig zu retten, indem der Mensch auf ein ausführendes Organ der Offenbarung reduziert wird.
Die gesamte islamische Geschichte zeigt jedoch, dass es einen objektiven und sterilen Zugang zu dieser nicht gibt. Religion ist Interpretation. Folglich rutschen im politischen Bereich die Juristen in die Rolle des Souverän, da Gott ihnen nicht mitteilt, was die richtige Interpretation ist.
Ebenso wenig teilt Er ihnen neue Normen mit, etwa Regeln für den modernen Straßenverkehr. Demnach ist der „Islamische Staat“ ein Staat der Rechtsgelehrten wie es im Iran der Fall ist.
Monolithisches Weltbild
Auch fällt auf, dass die Befürworter dieses Ordnungsmodells Gesellschaft stets als ein monolithisches Gebilde denken, indem es keine unterschiedlichen Interessen gibt. Gesellschaften sind jedoch plural und setzen sich aus verschiedenen Gruppen zusammen, die unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft und Staat haben.
Aufgabe von Politik ist es, einen Konsens zwischen den Gruppen herzustellen, damit diese als eine Gesellschaft voranschreiten können. In diesem Denken fehlt jedoch jegliche Spur einer innerislamischen Pluralität wie sie in Gestalt von Sunniten und Schiiten nun einmal eine Realität ist.
Nichtmuslimische Religionsgemeinschaften oder der zunehmend größer werdende Anteil säkular eingestellter Menschen in den muslimischen Ländern werden ebenso wenig thematisiert. Auf die Herausforderung von Pluralität haben diese Aktivisten und ihr Staatsentwurf also keine Antwort.
Folglich würde dies bei einer Überführung von der Theorie in die Praxis schon den Weg in die Diktatur weisen, da alles von der Theorie Abweichende unterdrückt werden muss.
Da Gesellschaft stets nur als „islamische Gesellschaft“ gedacht wird, haben demnach nicht alle gesellschaftlichen Gruppen das Recht auf Teilhabe. Aber was ist dann mit diesen „Landesbewohnern“? Sind sie Untertanen der staatstragenden Gesellschaft? Ewige Bürger 2. Klasse? Immerwährende Geduldete?
Foto: Sushil Nash, Unsplash
Was soll der Staat?
Was ist schließlich oberste materielle Aufgabe eines Islamischen Staates? Vielleicht für das Allgemeinwohl der Umma zu sorgen und soziale Gerechtigkeit herzustellen? Mitnichten. In den Texten von Denkern eines Islamischen Staates heißt es, oberstes Gebot sei der Schutz der Religion, da diese den Staat trägt, und alles abzuwehren, was ihr in irgendeiner Form Schaden könnte.
Mittels dieser Schwert- und Schildfunktion des Staates können Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden. Die Mitglieder der „islamischen Gesellschaft“ dürften hieran keinen Anstoß nehmen, da sie ja nichts zu befürchten haben.
Damit wird deutlich, dass der islamische Staat als ein totalitärer ideologischer Staat konzipiert ist. Da in diesem Staat Religion und Regierung eins sind, ist jede Kritik an der Regierung auch Kritik an der Religion und somit Sünde und Apostasie.
Jetzt wird auch erkennbar, was sich hinter nebulösen Worthülsen wie „islamische Menschen“ und „islamische Gesellschaft“ versteckt. Sie markieren und unterscheiden zwischen den systemtreuen „wahren“ Muslimen und den systemfeindlichen, abtrünnigen Muslimen.
Freilich wird mit keinem Wort erwähnt, was mit Letzteren geschehen muss. Dies könnte nämlich potenzielle Rekruten abschrecken. Aber es liegt auf der Hand, Systemfeinde müssen mit der ganzen Macht des Staates ausgemerzt werden.
Psychologisch betrachtet haben diese Befürworter eines solchen Modells nekrophile Charakterzüge, da sie sich von der Macht zu Töten wie auch überhaupt vom Töten angezogen fühlen. Ihren genozidalen Träumen verleihen sie verbal Ausdruck, wenn sie alle muslimischen Länder samt der dort lebenden Muslime als Bestanteil des Dar Al-Kufr verunglimpfen.
Der Staat selbst bleibt eine abstrakte Angelegenheit. Wie sieht sein Innenleben aus? Über welche Institutionen verfügt er? Wie werden die Rechtsgelehrten bestimmt, die die „Scharia“ ausführen? Werden sie von der Umma gewählt? Auf welche Weise und wie oft? Wie wird der Kalif, also der oberste Rechtsgelehrte, bestimmt und über welche Befugnisse verfügt er?
Es gibt keine Gewaltenteilung
Gibt es zwischen den Institutionen eine Gewaltenteilung? Hier zeigt sich eine weitere Schwäche von Denkern eines Islamischen Staates. Einerseits erklären sie, dass dieser ein fundamentaler Bestandteil des islamischen Glaubens sei, andererseits können sie keine einzige Blaupause aus den islamischen Quellen ableiten.
Wenn aber der Staat eine solch enorme Bedeutung für das Muslimsein innehat und mit metaphysischen Weihen versehen wird, weshalb hat Gott nicht erklärt, wie ein solcher Staat ausgestaltet werden soll?
Da der Staat essenziell ist, muss ja jeder Prophet einen solchen gegründet haben. Waren Noah, Abraham, Ismail, Isaak Josef, Moses, Johannes oder Jesus die Staatengründer? Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Propheten dies eben nicht war, widerlegt diese These. Verschwiegen wird gerne auch, dass der Prophet Josef in einem nichtislamischen Staat ein Regierungsamt innehatte.
Wenn die Einheit von Islam und Staat so eindeutig ist, weshalb gab es nach dem Tod des Propheten Muhammad zwischen den Prophetengefährten unterschiedliche Vorstellungen davon, wie es weitergehen sollte? Weshalb gab es unterschiedliche Modelle, die von verschiedenen Prophetengefährten favorisiert wurden? Weshalb wurden diese Auffassungen dann zum Konfliktherd zwischen ihnen, die zum ersten Bürgerkrieg führte, der von einem Teil von ihnen ausgeführt wurde?
Gerade dieser Konflikt ist ein Lehrstück, dass es sich schon bei den Gefährten des Propheten um keine monolithische Gruppe handelte. Noch dass es nach seinem Ableben einen Plan gab. Das Kalifat war ihre Antwort für ihre Zeit. Diese ist aber nicht verpflichtend für spätere Generationen.
Hier offenbart sich eine weitere eklatante Schwäche dieser Aktivisten. Sie behaupten zwar immer wieder, dass ihre Thesen in der islamischen Geschichte wurzeln, aber diese Geschichte endet anscheinend mit dem Tod des Propheten Muhammad (s).
In der Regel sind sie unfähig, islamische Geschichte über das 7. Jahrhundert hinaus zu betrachten. Es gab niemals in der klassischen Zeit eine Herrschaft der Rechtsgelehrten.
Eher nahmen diese eine Distanz zur Politik ein, was sich an den Biografien von Gelehrten wie Abu Hanifa und Malik ibn Anas sehr gut nachweisen lässt. Und Kalifen waren niemals oberste Rechtsgelehrte.
Islamischer Staat? – Dieses Denken stellt die Saat der Gewalt dar, unter der wir Muslime heute so immens leiden.