(iz). Jeder Einstieg in die islamischen Wissenschaften steht und fällt mit Kenntnis der ersten Quelle unserer Religion und ihrer Lebensweise: dem Qur’an. Obwohl heute oft von ignoranten oder oberflächlichen Menschen als „bloßes Auswendiglernen“ verschrien, ist die Beherrschung der offenbarten Laute, Verse und Suren das Fundament, auf dem alles Weitere aufbaut.
Mit Material von Laila Massoudi
Ein Blick in die Biografien der größten Gelehrten des Islam – und nicht nur bei ihnen – zeigt, dass das erlernte Wissen der Offenbarung am Anfang ihrer Suche nach Wissen steht. Und wie jede Sache fällt auch das Erlernen des Qur’an leichter, wenn man jung ist. Auch aus diesem Grund ist es heute für viele muslimische Eltern wichtig, dass ihre Kinder im Vorschul- beziehungsweise Grundschulalter eine geeignete Einrichtung besuchen, in der sie unter anderem den Qur’an oder einen Teil davon erlernen können.
Die Offenbarung wurde immer schon auswendig gelernt – von der frühesten Zeit, als er unserem geliebten Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, offenbart wurde, bis zum heutigen Tage. Der erste, der ihn lernte, war der Gesandte Allahs, Frieden und Heil auf ihm. Während er die Offenbarung durch den Engel Dschibril erhielt, Friede sei mit ihm, war er eifrig bemüht, ihn mehrfach zu wiederholen aus Furcht, er könnte ihn vergessen. Darauf sprach Allah ihn im Qur’an an und schaffte ihm Sicherheit mit den Worten: „Bewege deine Zunge nicht damit, um ihn übereilt weiterzugeben. Uns obliegt es, ihn zusammenzustellen und ihn vorlesen zu lassen.“ (Al-Qijama, 16-17) Und Er, der Erhabene, sagte in der Sura Al-’Ala: „Wir werden dich lesen lassen, und dann wirst du nichts vergessen, außer dem, was Allah will.“ (87, 7-8)
Allah hat es einfach gemacht, den Qur’an auswendig zu lernen. Er sagt darüber in Seinem Edlen Buch: „Und Wir haben den Qurʾan ja leicht zum Bedenken gemacht. Aber gibt es jemanden, der bedenkt?“ (Al-Qamar, 17) Diese Leichtigkeit wird an der großen Anzahl von Muslimen erkennbar, die das Buch Allahs erlernt haben. In der Umma gibt es Millionen Männer und Frauen, die den Qur’an auswendig beherrschen; viele von ihnen, ohne überhaupt Arabisch sprechen zu können. Ein Beispiel dafür ist die zweite Generation der muslimischen Gemeinschaft Spaniens, in der es zwölf junge Männer gibt, die den Qur’an auswendig lernten, ohne vorher Arabisch gesprochen zu haben.
Es gibt im Wesentlichen zwei Methoden des Lernens. Die eine ist das direkte Lesen des Mushaf (arab. für Kopie). Sie ist meistens im östlichen Teil der muslimischen Welt anzutreffen. Die zweite Methode geschieht durch das Diktieren und Schreiben auf Holztafeln. Sie wird im Wesentlichen in Nordafrika, Mauretanien und dem Senegal praktiziert. Auch wenn beide Methoden zum gleichen Ergebnis führen können, wenn es um das Ergebnis der Erinnerung geht, so ist die zweite Technik der traditionelle Weg seit den frühen Tagen. Sie beinhaltet auch eine umfassende Unterweisung vom Lehrer an den Schüler, deren Zweck die Aneignung edler Charaktereigenschaften ist. Das in sich ist Teil des Qur’an, der Charakter des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Er sagte: „Ich wurde nur entsandt, um die guten Charaktereigenschaften zu perfektionieren.“ Sein Charakter war der Qur’an. Das war auch die Antwort seiner Ehefrau ‘Aischa, als sie nach dem Propheten befragt wurde.
Marokko ist einer der Orte, an dem mehr Menschen als anderswo den Qur’an auswendig gelernt haben. In vielen Moscheen unterrichten die Imame die Kinder der Umgebung. Dazu gibt es zudem die Madrassen, die ausschließlich für diesen Zweck gegründet wurden. In ihnen erhalten die Studenten freie Kost und Logis und leben in Gemeinschaft zusammen.
Einige Schüler beginnen ihren Weg in jungen Jahren, manche gar im Alter von vier oder fünf Jahren. Wir haben 11-jährige kennengelernt, die den Qur’an von Anfang bis Ende kannten. Die ersten Suren, die jeder Muslim lernt, erhält man in der Regel von den Eltern. Dabei handelt es sich vor allem um die Schutz-Suren (Nr. 113 und 114), die sie den Kindern vor dem Schlafengehen vorlesen.
Gehen die Kinder in die Moschee oder in die Madrassa, um vom Imam zu lernen, dann wird ihnen als erstes das Lesen beigebracht. Der Lehrer oder der Imam schreibt Buchstaben auf eine Holztafel, die zuvor angefeuchtet und mit Lehm bestrichen wurde, damit sie weiß ist. Geschrieben wird mit einer Feder oder Zuckerrohr und die Tinte besteht aus verbrannter Wolle oder Olivenmark. Der Lehrer liest dem Schüler den Inhalt der Tafel vor und wiederholt ihn einige Male mit ihm. Dann setzt sich der Lernende hin und lernt die Passage auswendig.
Beherrscht der Schüler sein Pensum, geht er zum Lehrer zurück und trägt es ihm vor. Wenn sichergestellt ist, dass der Stoff sitzt, erhält der Schüler die Erlaubnis, die Tafel abzuwaschen und mit dem nächsten Abschnitt zu beginnen. Indem die Schüler zuerst die Buchstaben des Lehrers nachzeichnen, lernen sie auch, arabisch zu schreiben. So ist der Vorgang des Auswendiglernens mit dem Schreiben- und Lesenlernen verbunden. Ist der Lehrer von den Fähigkeiten des Schülers überzeugt, geht er zum Diktat über.
Im gesamten Vorgang des Lernens des Qur’an – angefangen von der Reinigung der Tafel, dem Lehrer zuhören, aufschreiben, auswendiglernen und der Vortrag vor dem Imam – ist eine Übermittlung des Verhaltens enthalten. Der Unterhalt seiner Lehrmaterialien lehrt den Schüler den richtigen Umgang mit den Dingen. Wenn es Zeit wird, auf die Tafel zu schreiben, geht der Schüler zum Lehrer und küsst dessen Hand als Zeichen des Respekts, bevor er sich setzt.
Das Auswendiglernen des Qur’an besteht in der andauernden Wiederholung, bis das Erlernte Teil des Gedächtnisses wird. Man sagt, das Gedächtnis sei ein Muskel. Durch die Übung wird es stärker. Und so stärkt der Schüler sein Gedächtnis und lernt leichter auswendig. Manche beginnen mit einem Thumun, dem Achtel eines Hizb (der 60. Teil des Qur’an). Später kann er ein Rubu’ auswendig lernen, zwei Viertel eines Hizb. Es ist allerdings empfohlen, weniger zu schreiben, wie beispielsweise ein Thumun, damit man es sehr leicht lernen kann. Das Programm der Madrassa sieht vor, dass der Student jeden Tag eine Tafel leert.
Nachdem er sie auswendig gelernt hat, aber bevor er sie wieder löscht, trägt er das Erlernte dem Lehrer vor. Das ist ein sehr wichtiger Moment und eine gute Übung für den Schüler, der seine Tafel sehr gut kennen muss, denn er rezitiert unter dem Druck des Lehrers, der ihn korrigieren könnte, wenn er einen Fehler macht. Sollte der Student noch Nachholbedarf haben, gibt ihm der Lehrer ein bisschen mehr Zeit oder sagt ihm, am nächsten Tag wiederzukommen. Das geht schrittweise voran, bis die Schüler den ganzen Qur’an beendet haben.
Diese Aufgabe nimmt Jahre in Anspruch und braucht eine große Anstrengung, aber die Herzen mit Himma (spirituelle Sehnsucht) erfüllen sie, wenn sie auf der Suche nach Allahs Wohlgefallen sind.
Ein Schlüsselelement im Auswendiglernen des Qur’an besteht in der Durchsicht. Die Schüler müssen ständig das Erlernte nachprüfen, um nicht zu vergessen. Dafür braucht es starkes Durchhaltevermögen und viel Geduld. Diese Durchsicht ist von Bedeutung, denn ohne sie kann der Qur’an vergessen werden. Hierzu sagte der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Der Qur’an flüchtet leichter als das Kamel, das nicht angebunden wurde.“ In Marokko geschieht das Überprüfen in einer Gruppe. In allen Moscheen ist es etablierte Tradition, täglich zwei Hizb des Qur’an zu rezitieren. Eines nach dem Morgengebet und das andere nach dem Abendgebet. So wird der Qur’an jeden Monat einmal im Ganzen gelesen und der Imam kann ihn in seinem Gedächtnis behalten. Die Madrassen haben ihr eigenes Programm für die Durchsicht – mindestens fünf Hizb pro Tag. Das hilft einem starken Auswendiglernen.
Der gesamte Qur’an wurde in der Zeit seiner Offenbarung durch das Diktat des Propheten niedergeschrieben. Dies wurde von einigen seiner gebildeten Zeitgenossen getan. Der bekannteste von ihnen war Zaid ibn Thabit. Unter den anderen Schreibern waren Ubaij ibn Ka’b, Ibn Mas’ud, Mu’awija ibn Abu Sufjan, Khalid ibn Al-Walid und Zubair ibn Awwam. Die Verse des Qur’an wurden auf Leder, Pergament, Tierknochen oder Palmblättern festgehalten.
Die Sammlung des Qur’an (in Form eines Buches) wurde nach der Schlacht von Jamamah während des Kalifats von Abu Bakr begonnen. Viele der Huffaz des Qur’an – diejenigen, die ihn auswendig beherrschten – starben in dieser Schlacht. Aus Furcht vor dem Risiko, dass so Teile des Buches verloren gegangen wären, wurde eine Kommission unter Zaid ibn Thabit bestimmt, die Niederschriften des Qur’an in einem Mushaf zu sammeln. Sobald die Sammlung vollendet und von den Prophetengefährten einstimmig angenommen wurde, blieb sie in den Hängen Abu Bakrs und kam dann zu seinem Nachfolger Umar beziehungsweise zu dessen Tochter Hafsa.
Der dritte Khalif, ‘Uthman ibn ‘Affan, bat Hafsa, ihm das Manuskript zu überbringen. Er ordnete die Anfertigung einiger exakter Kopien an. Nach dem Abschluss dieser Arbeit gab er das Original an Hafsa zurück und schickte Kopien in die wichtigsten islamischen Provinzen.