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Interview: Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf Augenhöhe begegnen

Junge Muslime Zuwanderung Jugendliche
Foto: Daniel M. Ernst, Shutterstock

Berlin (KNA). Cordula Heckmann (64) ist seit mehr als 30 Jahren Lehrerin. Sie leitet die Gemeinschaftsschule Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Dort gelang ihr gemeinsam mit ihrem Team der Wandel von einer bundesweit bekannte Problemschule zu einem Erfolgsmodell. Jetzt hat sie – kurz vor dem Ruhestand – ein Buch geschrieben, in dem sie auf ihre Arbeit zurückblickt und mögliche Wege der Integration aufzeigt. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihr am Dienstag über fehlenden Wagemut an deutschen Schulen – und was man besser machen kann. Von Nina Schmedding

Frage: Frau Heckmann, Sie kritisieren in Ihrem Buch „die Untertanenmentalität“ an deutschen Schulen. Was meinen Sie damit?

Cordula Heckmann: Ich bemerke bei Lehrkräften, Schulleitern oder in der Schulverwaltung oft die Haltung: Besser schlechte Schule als falsche Schule. Soll heißen: Womöglich bleiben weniger Kraft und Zeit für den Unterricht oder die Begleitung von Schulen, aber jedes Formular ist korrekt ausgefüllt, um nicht angreifbar zu sein. Die Angst vor der Grenzüberschreitung, dem Fehlverhalten, dem Scheitern ist groß. Schade, denn das hemmt.

Frage: Hemmt was?

Cordula Heckmann: Dass man mutig voran geht. Das Regelwerk im Schulsystem ist zwar gut, aber man muss auch die Möglichkeiten sehen, mal nach rechts und links zu schauen. Meiner Meinung nach muss man gerade im Bereich der Bildung immer wieder Wagnisse eingehen.

Frage: Der Campus Rütli hat eine Reihe ungewöhnlicher Kurse: Arabisch, ein Kurs Glaube und Zweifel – sind das solche Wagnisse? Warum bieten Sie so etwas an?

Cordula Heckmann: Kinder mit Zuwanderungsgeschichte leben in zwei verschiedenen Welten: Auf der einen Seite die Herkunftsfamilie, die eventuell auch von Flucht geprägt ist, und auf der anderen die Mehrheitsgesellschaft. Mir ist es wichtig, dass es in der Schule zu einem Dialog von beiden Welten kommt – einem Dialog auf Augenhöhe, in einer vertrauensvollen Umgebung. In den schulischen Lehrplänen wird die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten zu wenig berücksichtigt, und es bleibt den einzelnen Schulen überlassen, ob sie solche Angebote schaffen.

Im Kern geht darum, die beiden Milieus gewinnbringend zueinander zu bringen. Integrationsarbeit ist ein Kontinuum und sollte deshalb nicht erst stattfinden, wenn es einen Skandal gibt. Deshalb sind diese Kurse, die entweder freiwillig und zusätzlich oder wählbar – aber dann verpflichtend – sind, wichtig: Wir wollen den jungen Menschen das Gefühl geben, dass sie dazu gehören und auch, dass ihre Sichtweise wahrgenommen wird – um sie für die Möglichkeiten, die die Gesellschaft als Chance für sie bereithält, zu öffnen.

Frage: Arabisch in der Schule – sollten die Kinder nicht lernen, Deutsch zu sprechen?

Cordula Heckmann: Natürlich ist und bleibt die Bildungssprache Deutsch. Es handelt sich um zusätzlichen, freiwilligen muttersprachlichen Unterricht. Die Forschung geht davon aus, dass eine Zielsprache besser gelernt wird, wenn die Familiensprache gut beherrscht wird. Aber natürlich ist es auch eine Geste an die Kinder und Jugendlichen, dass sie sich wiederfinden in unserem Angebot.

Frage: Immer wieder gibt es an Schulen Vorfälle religiöser Diskriminierung – gerade in Problembezirken wie Neukölln. Schülerinnen, die von anderen unter Druck gesetzt werden, ein Kopftuch zu tragen, oder Kinder, die zum islamischen Fasten aufgefordert werden. Wie gehen Sie damit um?

Cordula Heckmann: Um all das wissen wir. Darum haben wir etwa den Kurs Glauben und Zweifel eingerichtet. Wir brauchen einen konstruktiven Dialog, der schwierige Themen anspricht und Werte wie die Religionsfreiheit ausdrücklich einschließt. Wir haben erfahren, dass wir so die Jugendlichen gewinnen können. Leider nie alle. Dann muss auch mit Sanktionen gearbeitet werden, aber erfolgreicher erscheint uns ein Erkenntnisprozess. Das ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt essenziell. Und wir brauchen die jungen Leute auch auf dem Arbeitsmarkt.

Frage: Die Rütli-Schule wurde 2006 durch einen Brandbrief bundesweit bekannt, in dem Lehrkräfte den Berliner Bildungssenator aufforderten, das Gewaltproblem an der Schule zu lösen. Danach wurde die Schule völlig umgekrempelt, der Campus Rütli entstand, Sie übernahmen die Schulleitung. Wie ist die Situation heute? Gibt es Gewalt an Ihrer Schule?

Cordula Heckmann: Wenn ganz viele pubertierende Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, gibt es natürlich Konflikte. Das war auch in meiner früheren Schule in Dahlem so, in einem eher bürgerlichen Umfeld. Und das ist bei uns so. Wir nehmen Konflikte sehr ernst und bearbeiten das auf vielen verschiedenen Ebenen, im Lehrplan, in Projekten. Wenn allerdings die grundlegende Grenze zur Gewalt überschritten wird, dann holen wir uns auch Akteure wie das Jugendamt und die Polizei an unsere Seite. Unsere Schüler wissen, dass ein solches Verhalten nicht ungesehen und nicht unbeantwortet bleibt. Das trägt zur Befriedung bei.

Frage: Was müsste sich ändern, um Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Startbedingungen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen?

Cordula Heckmann: Was für Schulen in herausfordernden Lagen vor allem wichtig ist, ist Zeit. Meine Kolleginnen und Kollegen müssen sich dem einzelnen Kind widmen. Und da unterscheiden wir uns wesentlich von Schulen, wo sozusagen die Eltern als Nachhilfelehrer eingepreist sind. Um die Begleitung und Unterstützung der Schülerinnen und Schüler dennoch zu gewährleisten, brauchen die Lehrkräfte Zeit, und wir brauchen den Ganztag. Das föderale Schulsystem sollten wir nutzen, um Synergien zu schaffen. Ein wichtiges Thema wäre etwa, wie organisieren wir zusammen mehr Bildungsgerechtigkeit. Leider geht es aber allzu oft um Konkurrenzen zwischen den Ländern.

Und ich bin auch für längeres gemeinsames Lernen an Schulen, um alle Schichten und Milieus zusammenzubringen. Dazu gehört das Lernen im Sozialraum. Das würde ein Stück helfen, den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen unabhängiger von ihrer sozialen Herkunft zu machen.

Frage: Macht die Arbeit an einer Schule in einem Problembezirk unter schwierigen Bedingungen zufriedener – weil die Kinder ihre Lehrkräfte hier mehr brauchen als anderswo?

Cordula Heckmann: Für mich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen ist das so. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, ich bin richtig hier. Ich habe hier die Möglichkeit, Kindern, die es nicht ganz so einfach im Leben haben, ein Angebot zu machen. Und es ist ja auch ein Projekt, das hoffen lässt: Viele Schülerinnen und Schüler von uns haben ihren Weg gemacht.