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Komentar: Leben wir im Land der Empörungsfreudigen?

Ausgabe 317

Foto: andyller, Adobe Stock

(iz). So viel Empörung im Lande – und seinen Parallelgesellschaften – war nie. Nichtprofessionellen Mediennutzern und „Diskursteilnehmern“ dürfte es schwerfallen, die diversen Shitstorms – vom Sänger Gil Ofarim bis zum Bayern-Kicker Kimmich – überhaupt noch zu verfolgen, einzuordnen und gleichzeitig das wirklich Wichtige im Blick zu behalten.

„Es ist womöglich nur sehr wenig geschehen und doch gleichzeitig unendlich viel passiert“, schrieb Bernhard Pörksen über „Die große Gereiztheit“ (Hanser 2017). Es sei eine Zeit der Empörungskybernetik, in der „miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse“ einen Zustand der großen Gereiztheit erzeugen würden. „Es vergeht kein Tag ohne Verstörung“, so Pörksens Analyse, die momentan wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge passt. „Keine Stunde ohne Push-Nachrichten, kein Augenblick ohne Aufreger. Man könnte, selbst wenn man wollte, den digitalen Fieberschüben nicht entkommen.“

Ähnliches beklagte der Journalist, Autor und Herausgeber Jakob Augstein im letzten Jahr gegenüber dem Sender 3sat angesichts seiner Dokumentation „Die empörte Republik“. Wer immer nur mit Leuten rede, die der eigenen Meinung seien, verlerne „demokratische Grundtechniken“. Grundvoraussetzung eines funktionierenden Gesprächs ist für ihn: „Wenigstens für den Moment sich in die Position des Gegenübers hineinzuversetzen. (…) Den Anderen so zu verstehen, als man selbst dieser ist. Das geht gerade komplett verloren.“

Was an den Mist-Tornados, Empörungen und Aufwallungen der letzten Zeit auffällt: Der rhetorische Colt ist stets griffbereit. Statt mit dem Andersdenkenden zu streiten (dessen Status in unserer Gesellschaft eigentlich geschützt sein sollte) oder gar in einen Austausch mit ihm zu treten, wird auf allen Seiten zum allerorten beliebten Vorwurf eines „-ismus“ gegriffen. Das gilt gerade und vor allem auf dem Bereich, der in den USA als „Kulturkrieg(e)“ bezeichnet wird. Hier können – je nach Mentalität – entweder die aktuelle Sprecherin der Grünen Jugend, Sarah Lee Heinrichs, oder eine altgediente „Literaturpäpstin“ wie Elke Heidenreich für nicht enden wollende Empörung sorgen.

Besonders überkandidelt wirkt das, wenn wir solche Stürme im Wasserglas mit realen Skandalen wie dem Welthunger vergleichen. Es besagt einiges, wenn selbst ein christdemokratischer Politiker wie Entwicklungshilfeminister Müller einen Satz wie diesen formuliert: „Hunger ist Mord, denn wir haben das Wissen und die Technologie, alle Menschen satt zu machen.“

Ein anderes Kennzeichen der grassierenden Empörungsfreude ist die Unfähigkeit zur Differenzierung, wenn nicht gar der bewusste Wille, diese zu verunmöglichen. Das führt dazu, dass manche Diskurse der sich für gut und fortschrittlich haltenden Stimmen teilweise manichäisch und hermetisch geworden sind. Wen wollen sie eigentlich außer denen ansprechen, die ihnen sowieso schon zustimmen?

Schaut man sich die Unrat-Tornados der vergangenen Zeit an, begreift man leicht, warum der Schandpranger im Mittelalter und der frühen Neuzeit ein „Bestseller“ war. Nichts bekommt der eigenen Seele sowie dem Zusammenhalt der jeweiligen In-Gruppe besser, als einen Buhmann zu haben. Je nach Marktsegment kann dieser Flüchtling, muslimischer Mann, Konservativer oder „alt“ und „weiß“ sein. Diese vermeintlichen Eigenschaften sind austauschbar, denn Empörung und Feindbildkonstruktion funktionieren überall gleich.

Muslime in Deutschland sollten nicht glauben, dieser Trend hätte uns nicht erreicht. Auch hier werden die algorithmischen Gesetze von Empörung und Aufmerksamkeitsökonomie befolgt. Gerade im aktivistischen Segment haben diese Sprechformen Einzug gehalten. Das fällt beispielsweise an der Terminologie auf, wenn alles zum „antimuslimischen Rassismus“ wird, oder wenn eine Wortmeldung von intellektuell zweitklassigen „Kritikern“ mit Gusto aufgegriffen und im Lichte der Erregung behandelt wird. Bei manchen könnte gar der Verdacht aufkommen, dass ihnen außer der Aufwallung und ihrer Quelle nicht mehr viel vom Muslimsein geblieben ist.

Muslime betonen – zu Recht – häufig das Vorbild des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben und vergessen manchmal dabei, dass er in seinem Wirken vor allem Gelassenheit im Umgang mit Kritik praktiziert hat.