„Wir erleben Ablenkungsmanöver vom härtesten Polizeigesetz seit 1945"

ADN-ZB-Archiv Deutschland 1933; Polizeirazzia am 3.3. 1933 in der Kösliner Strasse in Berlin, Passanten werden durchsucht. [Scherl Bilderdienst]

(iz). Als Bayern im August 2017 das Polizeiaufgabengesetz reformierte und das sogenannte Gefährdergesetz eingeführt wurde, blieb Kritik nicht aus. Heribert Prantl, Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“ nannte die Änderung eine „Schande” und eine „Unendlichkeitsstrafe“. Schon da stand es der Polizei Bayerns zu, Personen, die sie für potenziell gefährlich hält, in Gewahrsam zu nehmen. Die Faktoren für eine solche Gefahrenlage gelten weiterhin als fragwürdig.
Es dauerte nicht lange bis der Freistaat im Frühjahr 2018 plante, weitere große Änderungen am Polizeiaufgabengesetz vorzunehmen. Die CSU schien von Anfang an um eine geringe Aufmerksamkeit um die Änderungen bemüht gewesen zu sein. Im bayrischen Landtag, wo die Unionspartei eine absolute Mehrheit inne hat, winkt die CSU regelmäßig Gesetze durch, wobei sie nicht ausführlich auf Argumente der Opposition eingehen muss.
An der Öffentlichkeit gingen die Pläne aber nicht vorbei. In München kam es zu einer der größten Demonstrationen gegen eine Regierung in Deutschland seit den 90ern. 40.000 Bürger protestierten und zwangen den bayrischen Innenminister Joachim Hermann zu einer Stellungnahme. Er machte den Willen seiner Partei zur Diskussionsbereitschaft insofern deutlich, als dass er Demonstranten vorwarf, unter dem Banner von „Lügenpropaganda“ zu stehen.
Die CSU blieb unbeeindruckt. Vorwürfe seitens der Opposition, es sei keine parlamentarische Auseinandersetzung möglich, blieben unerhört. In aller Eile sollte das Gesetz seinen Weg in die Umsetzung finden – in einer komplexen Form, die eigentlich eine ausführliche Beschäftigung benötigt. So eilig und so komplex, dass selbst ausgewiesene Experten anmahnen, es handle sich um unzumutbare Ausmaße. Markus Möstl, sachverständiger Juraprofessor aus Bayreuth, äußerte, die Fülle der Gesetzesvorschläge führe ihn „an Grenzen“. Wie also soll ein Nichtjurist mit den Änderungen inhaltlich umgehen?
Am besten gar nicht, wenn es nach der CSU gehen soll. Und deshalb verwundert es nicht, dass das neue Polizeiaufgabengesetz am 15. Mai seinen Weg durch den Landtag fand. Nicht widerstandslos. Anscheinend war es aber schon der Beginn der Wirklichwerdung der Phrase „Widerstand ist zwecklos”.
Grundlage
Der Vorstoß der CSU kommt nicht von ungefähr. Das Bundesverfassungsgericht entschied Anfang 2016, Polizeibehörden dürften bei einer „drohenden Gefahr” Daten verarbeiten. Die Entscheidung fiel im Kontext Terrorismus und war auch da schon umstritten. Experten werfen der bayrischen Landesregierung nun vor, diese Grundlage maßlos auszunutzen. Markus Löffelmann, Richter am Landgericht München, meint, das Gesetz mache keinen Unterschied zwischen Terrorismus und Kriminalität allgemein und würde auf „beinahe sämtliche polizeiliche Befugnisse angewendet werden“. Auch der Jura-Professor Kyrill-A. Schwarz von der Universität Würzburg findet, dem Polizeigesetz gelinge es, den neuen Leitbegriff der „drohenden Gefahr“ weit über den vom Bundesverfassungsgericht diskutierten Fall des Terrorismus auszuweiten.
Überwachung und Verfolgung
Die Politikwissenschaftlerin Marie Bröckling begleitet im Onlinemedium „netzpolitik“ die Entwicklungen rund um das Polizeigesetz. Ihr Urteil, es handle sich um das „härteste Polizeigesetz seit 1945“ ist ein alarmierendes Signal für jeden, der Rechtsstaatlichkeit für einen hochzuhaltenden Wert hält. Ist diese Darstellung zu übertrieben? In Anbetracht der neuen realen Befugnisse der Polizei, wohl kaum.
Die Gesetzesänderung stattet die bayrische Polizei mit Zuständigkeiten und Bevollmächtigungen aus, wie sie keine Landes- oder Bundespolizei in Deutschland seit 1945 hatte.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes steht es der Polizei zu, ohne konkreten Verdacht Ermittlungen gegen Personen einzuleiten. Die Behörden dürfen praktisch jeden Bürger in ihrem Zuständigkeitsbereich mit allen bereitstehenden Mitteln überwachen. Das bedeutet: Totaler Eingriff. Der Polizei ist es möglich, auf private Daten in elektronischen Geräten von Bürgern zuzugreifen, diese zu speichern, auszuwerten und sogar zu löschen oder zu verändern. Das beinhaltet auch private und geschäftliche Kommunikation – jede Kommunikation.
Es ist nicht nur Überwachung, es ist auch Verfolgung. „Die Polizei wird künftig eingreifen dürfen, lange bevor eine Straftat begangen wurde. Und eingreifen heißt in diesem Fall: Die Polizei darf der Person, von der sie vermutet, dass sie eine Straftat begehen wird, Aufenthaltsgebote und -verbote aussprechen, (…) elektronische Fußfesseln anlegen, sie darf die Konten dieser Person sperren“, erklärt Marie Bröckling auf der re:publica-Konferenz. Mit anderen Worten, die Polizei darf zukünftig Aufenthaltsorte vorgeben, Personen überwachend verfolgen und in ihre Finanzen eingreifen. Und das ohne, dass ein illegales Verhalten vorliegt.
Ändern sollen sich auch die möglichen Polizeianalysen. In der DNA-Untersuchung sollen zukünftig auch Haare, Augen und Hautfarbe eine Rolle spielen. Dass sich hierbei ein offenkundig rassistisches Potenzial ankündigt, erkennt man, da im neuen Polizeiaufgabengesetz von Merkmalen wie „biogeographischer Herkunft“ die Rede ist, welche in Analysen und Datenbanken miteinbezogen werden sollen. Bröckling schlussfolgert deshalb, die Polizei werde zu einer Datensammelbehörde ausgebaut. Auch insgesamt, so Bröckling, führe das Polizeigesetz somit zu einem Verschwimmen zwischen Polizei und Geheimdienst.
Die bayrische SPD-Chefin Natascha Kohnen nennt das Gesetz ein „Überwachungsgesetz“, das unbescholtene Menschen in den Verdacht stelle, Gefährder zu sein. Viel Zeit für Kritik blieb nicht, wie Kohnen offen anklagt. Das Parlament sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden, eine echte Debatte habe es nie gegeben, heißt es. Nicht nur von ihr.
1945
Eine vergleichbare Ausweitung von Befugnissen ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht zu finden. Wenn es sich tatsächlich um das härteste Polizeigesetz seit 1945 handelt, was existierte dann davor?
Die Reichstagsbrandverordnung von 1933, die unter dem Titel „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ verabschiedet wurde, war ein Gesetz der totalen Aufhebung von Freiheitsrechten. Das Ausmaß geht in einigen Punkten weit über das neue bayrische Polizeigesetz hinaus. Einzelne Gesetzespunkte sind sich dennoch erschreckend ähnlich, vor allem, weil es sich um ein Polizeigesetz handelt.
Die Verordnung ermöglichte es der Geheimen Staatspolizei, kurz Gestapo, Personen ohne Gerichtsverfahren festzunehmen beziehungsweise ihren Aufenthaltsort zu bestimmen, was beispielsweise auch ein Konzentrationslager hat sein können, oder sie ohne Straftat in „Schutzhaft” zu nehmen. Der Gestapo stand es darüber hinaus frei, jede Person, die in der sogenannten A-Kartei als „Staatsfeind“ klassifiziert wurde, ständig zu überwachen.
Vergleicht man andere Punkte der Verordnung von 1933 mit aktuellen Kontexten, werden Ähnlichkeiten deutlicher. Der zukünftig erlaubte Zugriff auf private Kommunikation erinnert stark an die damalige Einschränkung des Postgeheimnisses, welches der Gestapo erlaubte, private und geschäftliche Briefe zu lesen. Die Erleichterungen zu Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von 1933 werfen außerdem einen weiteren Schatten auf die kommenden Befugnisse der bayrischen Polizei, die ähnlich rasch und ohne richterlichen Beschluss durchsuchen und beschlagnahmen darf. Die Faktoren „Staatsfeind“ oder „Gefährder“ unterscheiden sich nur bedingt.
Ablenkung
Die Brisanz ist unbestreitbar. Beobachter weisen deshalb zurecht darauf hin, dass die CSU um wenig Aufmerksamkeit für das Gesetz bemüht war. Nicht zufällig und nicht ausnahmsweise. Bayern steht nicht allein da. Auch die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Niedersachen diskutieren über ein neues Polizeigesetz nach dem Vorbild Bayerns. Armin Laschet, der Ministerpräsident NRWs erklärte kürzlich, das neue Polizeigesetz werde im Sommer kommen. Dabei muss er mit Klagen der Oppositionsparteien rechnen, die im Gegensatz zu den Verhältnissen in Bayern ein parlamentarisches Gegengewicht aufbauen können, wenn die FDP als Koalitionspartner einer bürgerrechtlichen Linie treu bleibt. Gerhart Baum (FDP), ehemaliger Bundesinnenminister kündige bereits an, Klage gegen das Gesetz einzureichen. Auch andere FDP-Politiker äußerten sich kritisch. Nach dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) glaubt auch der FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki, dass das Gesetz rechtlich nicht haltbar ist. „Das Polizeiaufgabengesetz wird spätestens durchs Verfassungsgericht gestoppt“, sagte er. Es bleibt dennoch zu befürchten, dass Horst Seehofer, unter dessen Führung die CSU die Änderung des Polizeigesetzes einleitete, als Bundesinnenminister versuchen könnte, die Mechanismen für Überwachung, Einschränkung und Verfolgung bundesweit zu einzuführen.
Die Unionsparteien wissen um das Potenzial der Gegenstimmen. Egal ob Bayern, NRW oder Bund. Also lenken sie ab – und das auf eine außerordentlich pervertierte Weise.
Es ist nur schwerlich als Zufall hinzunehmen, dass, als im Frühjahr 2018 die Debatten um das Polizeigesetz in Bayern begannen und die Änderungen der breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden, der ehemalige bayrische Ministerpräsident und derzeitige Bundesinnenminister Horst Seehofer mit einem Paukenschlag in die öffentliche Wahrnehmung trat, als er in der „Bild“ erklärte, Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass sämtliche ranghohe CSU-Politiker ihm nicht nur aktiv beipflichteten, sondern die Betrachtung weiter verschärften, wie zum Beispiel der CSU-Landesgruppenchef Dobrindt, der Seehofer übertreffen wollte und sagte, der Islam gehöre in jeglicher Form nicht zu Deutschland.
Es macht ebenfalls nicht den Eindruck, dass sich hier Zufälle ereignen, wenn die CDU in Nordrhein-Westfalen in der Zeit, in der ihr Vorhaben um eine Veränderung des Polizeigesetzes publik wurde, eine neue Kopftuchdebatte anfachte. Eine Analyse der öffentlich wirksamen Äußerungen von Vertretern der Landesregierung, in Form von Medienberichten bringt zum Ergebnis: Es wurde rund zwanzigmal öfter über das Kopftuch diskutiert als über das Polizeigesetz. Ist es Zufall, dass die CDU ausgerechnet während der Vorbereitung eines neuen Polizeigesetzes die Notwendigkeit sieht, über Kopftücher bei Kindern zu sprechen, einem Phänomen mit verschwindend geringem Anteil in der Bevölkerung?
Und wie zufällig wählte Markus Söder, der nachgefolgte Ministerpräsident Bayerns, seinen Vorstoß, in allen Behörden seines Landes Kreuze anzubringen, während sich breiter Widerstand gegen das Polizeigesetz organisierte?
Kann es wirklich ein Zufall sein, dass sich am Abstimmungstag mehr CSU-Politiker bezüglich des Zusammentreffens der Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan äußern, als über das bevorstehende Gesetz, das sie am späten Abend kurz angesetzt durch das Parlament peitschten? Oder wurde die vermeintliche Debatte bewusst mitgetragen, gespeist und angeheizt, damit das fragwürdige Vorgehen weniger beachtet bleibt?
Nichts davon ist zufällig. Wir erleben mit Kopftuch und Kreuz Ablenkungsmanöver vom härtesten Polizeigesetz seit 1945. Und einige Teile der Gesellschaft haben sich an diesen Ablenkungsmanövern ausgiebig beteiligt. Es wirkt, als sei gänzlich unhinterfragt, woher und weshalb mediale Debatten kommen. Wenn selbst das politische Fuielleton von Kopftuchdebatten dominiert wird, parteiübergreifend mitgeredet wird und jedes Medium im Land den Diskurs mitbedient, sind die Ablenkungsmanöver schließlich erfolgreich, obwohl das Schema hinter ihnen erkennbar ist.
Nicht nur, dass sie alle in eine und die selbe Kerbe schlagen und „Spaltung, Unruhe und Gegeneinander“ verursachen, wie es der Präsident der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx im Falle der Kruzifix-Entscheidung ausdrückte. Es kommt hinzu, dass sie im Sinne der lückenhaften Argumente für das Polizeigesetz künstliche Gefahren vorhalten. Durch einen islam- und muslimkritischen Diskurs der Politik und die symbolische Abgrenzung von Minderheiten in Form von Kruzifix-Verordnungen entsteht ein Nährboden für das Verständnis von Einschränkungen der Freiheit, wenn Bürger durch die Omnipräsenz der vermeintlich Anderen durch Fremddebatten davon ausgehen, dass nur „die Anderen“ von dem Gesetz betroffen seien. Sprich, Muslime seien anders und dürften deshalb auch anders behandelt werden.
Fakt ist aber, dass jeder Bürger gleichermaßen betroffen ist. Wenn keine höhere juristische Instanz diese Gesetze aushebelt und dem Überwachungswahnsinn Einhalt geboten wird, dann blicken wir in eine Zukunft, in der sich Deutschland nicht mehr so einfach Rechtsstaat nennen kann. Bereits jetzt, in den verabschiedeten Gesetzen, hat jeder Bürger essentielle Bestandteile seiner Freiheit eingebüßt. Die private Kommunikation ist zugänglich, sämtliche Daten, darunter auch Fotos und Videos.
Der Vizechef der Polizeigewerkschaft GdP, Jörg Radek, warnte in einem Interview mit der „Berliner Zeitung”, das Gesetz werde nicht dazu dienen, „das Vertrauen zwischen Bevölkerung und der Polizei zu stabilisieren“. Es drohe stattdessen, „mehr Misstrauen in den Staat zu säen“ und sei mit einer „bürgerlichen Polizei nicht mehr in Einklang“ zu bringen.
Das Vertrauen in die Landesregierungen Bayerns und NRWs ist bereits stark beschädigt. Zusätzlich wohl auch jenes in viele der Akteure, die sich bewusst oder unterbewusst an den Ablenkungsmanövern der Politiker beteiligten. Schlimmeres sollte abgewendet werden, dafür bedarf es eines neuen Auftretens seitens der drei Gewalten und der inoffiziellen vierten Gewalt.
Dieser Artikel ist ein Meinungskommentar und Debattenbeitrag