Krisenphänomene: Weltweit Zunahme von Unruhen auf globaler Ebene

Ausgabe 328

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Risikoberater sagt „beispiellose Zunahme innerer Unruhen“ in vielen Staaten weltweit voraus; ein hohes Risiko bestehe in Deutschland. Erste Massenproteste gegen breite Verarmung haben in Großbritannien begonnen.

(GFP.com). Weiten Teilen der Welt steht eine „beispiellose Zunahme innerer Unruhen“ bevor. Zu diesem Ergebnis kommt das Risikoberatungsunternehmen Verisk Maplecroft mit Hauptsitz in Bath (Großbritannien) in der jüngsten Ausgabe seines Civil Unrest Index, einer Untersuchung, die aktuelle globale Risiken analysiert. Wie es in der Untersuchung heißt, stieg bereits im vergangenen Vierteljahr die Wahrscheinlichkeit an, dass es zu inneren Unruhen kommt, in der Mehrheit der untersuchten 198 Länder. In den nächsten sechs Monaten sei in einer großen Zahl an Staaten mit „einer weiteren Verschlechterung“ zu rechnen, schreibt die Firma: In „mehr als 80 Prozent aller Länder weltweit“ liege die Inflation oberhalb von sechs Prozent; die „soziökonomischen Risiken“ erreichten „kritisches Niveau“.

Rund die Hälfte aller Länder würden im Civil Unrest Index als Länder mit „hohem“ oder „extremem Risiko“ eingestuft. Während sich in einer wachsenden Zahl an Staaten die Bedingungen für innere Unruhen herausbildeten, könne man davon ausgehen, dass „der Ernst und die Häufigkeit von Protesten und von Arbeiteraktivismus sich in den kommenden Monaten weiter intensivieren“, erklärt das Unternehmen.

Veritas Maplecroft weist darauf hin, dass sich die Lage weltweit bereits während der Krisen der vergangenen Jahre stärker zugespitzt hat als vermutet. Das Unternehmen hatte Ende 2020 prognostiziert, bis August 2022 werde das „Risiko innerer Unruhen“ in 75 Ländern zunehmen. „Die Realität ist viel schlimmer gewesen“, konstatiert Veritas Maplecroft: 120 Länder hätten einen Anstieg der Spannungen in der eigenen Bevölkerung erlebt.

Von der aktuellen Prognose seien in hohem Maße die Staaten Europas betroffen. In der Tat spitzen sich die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent infolge des Kriegs in der Ukraine und der westlichen Russland-Sanktionen erheblich zu. Am stärksten vom Risiko innerer Unruhen betroffen sind laut Veritas Maplecroft etwa Deutschland, die Niederlande, die Schweiz, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine.

Mit Blick auf Europa geht Veritas Maplecroft fest davon aus, die betroffenen Regierungen würden versuchen, Unruhen mit Ausgabenprogrammen zu verhindern. Wo das nicht möglich sei, könne blanke Repression zur „hauptsächlichen Antwort auf Proteste gegen Regierungen“ werden. Repression berge freilich ihre eigenen Risiken: Sie hinterlasse „unzufriedene Bevölkerungen mit weniger Mechanismen“, ihren Unmut „zu kanalisieren“.

Es komme noch hinzu, dass sich das Wetter als entscheidender Faktor erweisen könne: „Ein kalter Herbst und Winter in Europa würde eine schon gravierende Energie- und Lebenshaltungskostenkrise verschlimmern.“ Dabei werde schon jetzt damit gerechnet, dass die Inflation im kommenden Jahr diejenige des laufenden Jahres übersteigen werde. „Nur eine signifikante Reduzierung der globalen Lebensmittel- und Energiepreise kann den negativen globalen Trend beim Risiko innerer Unruhen stoppen“, sagt Veritas Maplecroft voraus; andernfalls könnten sich „die kommenden sechs Monate als noch disruptiver“ erweisen als vermutet.

Als erstes Land Europas ist Großbritannien von einer Streik- und Protestwelle erfasst worden. Dort hat vor kurzem eine Umfrage ergeben, dass sich 23 Prozent der volljährigen Briten darauf einstellen, im kommenden Winter aus Kostengründen ihre Heizung überhaupt nicht anzuschalten. 70 Prozent geben an, sie wollten weniger heizen als zuvor. Seit einigen Wochen mobilisiert eine von Gewerkschaftern und mehreren Initiativen getragene Kampagne („Enough is Enough“) gegen die „cost of living crisis“ („Lebenshaltungskostenkrise“); hat Enough is Enough innerhalb von nur 24 Stunden mehr als 100.000 Unterstützer gewinnen können, so haben mittlerweile eine halbe Million Menschen per Unterschrift ihre Beteiligung an der Kampagne erklärt. Der Protest schlägt sich in zahlreichen Streiks nieder – etwa im Nah- und Fernverkehr, bei der Post oder in Häfen; sogar ein Generalstreik ist im Gespräch. Eine weitere Initiative („Don’t Pay UK“) fordert dazu auf, im Herbst die Lastschrifteinzüge für Energieversorger zu kündigen und gegebenenfalls die Energierechnungen nicht mehr zu begleichen, sollte eine ausreichende Zahl an Unterstützern – eine Million – zustandekommen. Einer aktuellen Umfrage zufolge kann die Initiative bereits auf 1,7 Millionen Unterstüzer hoffen.

Vor einigen Wochen kam es nun erstmals auch in der EU zu Massenprotesten gegen die drohende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. In Prag gingen rund 70.000 Menschen auf die Straße – mit der Forderung, die Regierungskoalition solle endlich die Energiepreise unter Kontrolle bringen. Ansonsten drohten sie noch „in diesem Herbst unsere Wirtschaft zu zerstören“, wurde der Organisator der Veranstaltung zitiert.