Künstliche Intelligenz: Vormarsch kündigt eine Revolution an

Ausgabe 335

Künstliche Intelligenz KI AI
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Dass Sorgen beim Thema Künstliche Intelligenz berechtigt sind, zeigt der Blick nach China. Aber lässt sich das Rad zurückdrehen?

(iz). Bedeutsame technologische Innovationen werden immer auch von politischen Debatten begleitet. Seit Jahren diskutiert die freie Welt über Chancen und Risiken neuer Technologien – oft im Zusammenhang mit bedrohten Bürgerrechten, perfektionierter Überwachung und totalitären Systemen.

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Künstliche Intelligenz: China als abschreckendes Beispiel

Dass diese Sorgen berechtigt sind, zeigt der Blick nach China. Hier nutzt der moderne Staat uneingeschränkt neue Techniken, um das Modell eines autoritären Kapitalismus rigoros durchzusetzen.

Keine Region der Welt wird seit 2017 nur annähernd so intensiv elektronisch überwacht wie Chinas westliche Provinz Xinjiang. Der große Andere benutzt allgegenwärtige Kameras zur Gesichtserkennung und Spionage Apps, geht jedem sozialen Kontakt nach und markiert in einem Bewertungssystem Widerwillige. Der Journalist Mathias Bölinger spricht inzwischen von einem „High Tech Gulag“ und mahnt im Verhältnis zu China, nicht wieder zur Tagesordnung zurückzukehren.

Die Herausforderungen der neuen Maschinen betreffen längst nicht nur Diktaturen. Der Technikphilosoph Armin Grunwald erinnert auf „Telepolis“ daran, dass Algorithmen und Rechenprogramme weder Intentionen noch Machtinstinkt besitzen. „Ihre Macher jedoch haben diese reichlich“, warnt er.

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Probleme der KI-Entwicklung

Das Problem aktueller KI-Entwicklung sei nicht der drohende Machtverlust an Algorithmen, sondern die intransparente Machtkonzentration über die künftige Gesellschaft in den Händen weniger. Der Einfluss der Technikkonzerne auf gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse wird enorm sein. Grunwald gibt zu bedenken: „Selbstverständlich sind zur zukünftigen Entwicklung der KI vorausschauende Überlegungen, Folgenforschung und Ethik gefragt. Aber diese bleiben zahnlos, wenn sich an der genannten Machtkonstellation nichts ändert.“

Die Macht der oft in den USA ansäßigen Global Player hat längst nicht ihren Zenit erreicht. Eine Innovationswelle löst aktuell der ChatGPT Betreiber OpenAI aus. Im Angebot ist eine neue Variante einer Suchmaschine, die nicht nur auf Quellen verweist, sondern eigenständige Texte verfasst und in einer Art Dialog mit den Nutzern eintritt.

Die Möglichkeiten sind vielfältig: Die KI schreibt zum Beispiel journalistische Beiträge, formuliert Schriftsätze für Rechtsanwälte, Urteile für Gerichte und schafft Fakten in der neuen Informationsgesellschaft. Zunehmend werden diese Dienste eine Definitionshoheit über Begriffe beanspruchen oder bestimmte Personen mit Merkmalen charakterisieren.

Tesla Chef Elon Musk beklagt eine mögliche Flutwelle von Falschinformationen und plant – aus seiner Sicht – eine Alternative. „Ich werde etwas starten, dass ich TruthGPT nenne, eine maximale wahrheitssuchende künstliche Intelligenz, die versucht die Natur des Universums zu verstehen“, verriet Musk dem Fernsehsender Fox News.

Die Beherrschung gigantischer Datenmengen und die Gestaltung oder Manipulation menschlichen Verhaltens regt die Fantasie der Macher an. Angesichts der Probleme des Planeten sind die Meinungen gespalten, ob die KI Teil des Problems oder der Lösung ist.

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Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen

Die Idee, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ist angesichts technologischen Fortschritts keine wirkliche Alternative. Es geht vielmehr darum, einen gelassenen Umgang mit der Technik einzuüben, die Chancen und Risiken abzuwägen.

Hierzu bietet sich ein Selbstversuch mit den neuen Programmen an. Um die Funktionsweise und Möglichkeiten der Software besser zu verstehen, beginnt man am besten mit Themen in einem Feld, in dem man sich auskennt. „Was ist Islam?“, fragte ich in dem Dialogfenster an.

Die Maschine antwortet nach ein paar Sekunden: „Islam ist eine monotheistische Religion, die im 7. Jahrhundert in der arabischen Region entstanden ist und von dem Propheten Muhammed gegründet wurde. Die Anhänger des Islam werden als Muslime bezeichnet und glauben an einen einzigen Gott, Allah, der als allmächtig und barmherzig verehrt wird.“

Der Benutzer ist überrascht über die vernünftig klingende Antwort, die nebenbei den Islam als eine Religion, aber immerhin nicht im Sinne einer Ideologie definiert. Der Nutzer kann nun beliebig lange Texte verfassen lassen oder tiefer nachfragen. Ich frage zum Beispiel: „Welche Säule des Islam ist am wichtigsten?“

Die künstliche Intelligenz antwortet diplomatisch: „Alle fünf Säulen des Islam sind von gleicher Bedeutung und tragen dazu bei, das Leben eines Muslims zu einem ausgewogenen, moralischen und gottesfürchtigen Leben zu machen. Es gibt jedoch oft Diskussionen darüber, welche der fünf Säulen die Wichtigste ist.“

Diese Art von Austausch kann endlos fortgeführt werden, in nachvollziehbarem Deutsch, hin und wieder mit kleinen Fehlern: So wird in weiterem Verlauf die Zakat als Spende bezeichnet und nicht als Pflichtabgabe. Ich beende das „Gespräch“, bedanke mich und werde von der KI freundlich informiert, dass man (wer immer man ist) gerne weiter zur Verfügung steht. Eines Tages wird der Nutzer nach dem Abschluss derartigen Dialogs eine Brille aufsetzen und im Metaverse in die virtuelle islamische Welt eintauchen.

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Unterschied von Mensch und Maschine

Auch wenn man die Abgründe dieser Verfahren ahnt, wie die Entpersönlichung des Wissens, üben sie dennoch eine gewisse Faszination aus. Schließt sich hier ein Kreis, seit wir die platonischen Dialoge studiert und die Deutung der Wissenschaft des Aristoteles erlernt haben? Die Beschäftigung mit der Seinsgeschichte von Worten ist ein notwendiges Korrektiv, um an den Unterschied des Gesprächs zwischen Menschen und Maschinen zu erinnern.

Beinahe seherisch hatte Platon dem persönlichen Dialog auf der Suche nach der Wahrheit den Vorzug gegenüber der Schriftform gegeben. Im siebten Brief erinnert der Philosoph daran, dass aus „familiärer Unterredung“ und „innigem Zusammenleben“, die entscheidende Idee plötzlich wie ein Feuerfunken entsteht.

Übersetzt in die islamische Erfahrung korrespondiert dieser Gedanke mit dem Grundsatz, dass man echtes Wissen über diese Lebenspraxis nicht nur aus Büchern zieht. Der negative Einfluss, den „Schaikh Google“ auf die Lehre hat, ist bis heute nicht vollständig erfasst.

In seinem neuen Buch „die unfassbare Vielfalt des Seins“ bezieht sich der Autor und Künstler James Bridle auf den Zusammenhang modernster Technologie mit unserem griechischen Erbe. Das Orakel von Delphi war für viele Jahrhunderte der Bezugspunkt ganzer Generationen auf der Suche nach der sich offenbarenden Wahrheit.

Hier wurde verkündet, dass kein Denker weiser sei als Sokrates und dieser formulierte, „dass der weiseste Mensch derjenige ist, der sich seiner eigenen Unwissenheit bewusst ist“. Die Einsicht über die Begrenzung menschlichen Wissens wird heute durch die Allmachtsfantasien der Big-Data-Propheten in Frage gestellt.

Bridle kritisiert heutige Machenschaften, die Intelligenz vor allem als Mustersuche und Gesichtserkennung zu begreifen und als Teil eines Profitstrebens in der Ölsuche, Finanzarbitrage oder autonomer Waffensysteme, die zur Beherrschung der Welt dient. Er sucht nach einem neuen Weg, der Menschen und künstliche Intelligenzen in eine kreative Zusammenarbeit führt.

Hierzu gehört, die Macht der binären Codes zu hinterfragen und die Denkfähigkeit dafür einzusetzen, die Existenz anderer Realitäten zu erforschen. Er schreibt: „Wenn alle Intelligenz ökologisch ist – d. h. verwoben, beziehungsreich und weltbezogen –, dann bietet uns die künstliche Intelligenz eine ganz andere Möglichkeit, mit all den anderen Intelligenzen zurechtzukommen, die den Planeten bevölkern und sich durch ihn manifestieren.“

Der Sinn nicht-binärer Maschinen oder sogenannter Orakelmaschinen ist es, unsere Vorstellung davon zu befreien, dass Wahrheit und Wissen ausschließlich berechenbar ist. Bridle erzählt in seinem Buch über neue Typen von Apparaten, die Teil der Welt sind und von Pflanzen, Tieren und biologischen Systemen lernen.

Wer sich nicht durch die vierhundert Seiten des Buches arbeiten will, kann sich auf ChatGP die wichtigsten Thesen des Autors zusammenfassen lassen.

„Dass die niedrigste aller Geistestätigkeiten die arithmetische sei, wird dadurch belegt, daß sie die einzige ist, welche auch durch eine Maschine ausgeführt werden kann“, lehrte einst Arthur Schopenhauer. Autoren wie James Bridle versuchen, diesen alten negativen Ansatz zu überwinden und eine sinnvolle Symbiose zwischen menschlichen, biologischen und technischen Fähigkeiten anzudenken.

Die Kernfrage über die Zukunft künstlicher Intelligenz wird sein, in wessen Dienst diese Maschinen stehen, inwieweit sie selbst lernen und ob sie sich potenziell verselbstständigen. Begreift man Macht als die Beherrschung und Umsetzung von Daten sind die Apparate dem Menschen zweifellos überlegen.

Fakt ist, der Welt steht eine Revolution bevor, die sich unter anderem in der radikalen Umgestaltung der Arbeitswelt zeigen wird. Der globale Aufmarsch der Roboter mag bedrohlich wirken. Aber, so argumentiert der Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin, das Phänomen wird auch überraschende Wendungen mit sich bringen: „Das Ergebnis wird ein neuer ‘Localism’ sein, eine Renaissance der lokalen Gemeinschaften und der Familien- und Sozialbeziehungen.“