Eine Kurzgeschichte von Ahmet Aydin über den tiefen Graben zwischen Maulanas Lehre und extremistischem Wahnsinn.
(iz). Omars. Puls. Schlug. Spürbar. Er saß im Mustang. Und war im Begriff in die Menschenmenge zu fahren. Um in dieser für die Christen so friedlichen Jahreszeit Angst und Schrecken zu verbreiten. Einmal sollte die Gesellschaft fühlen, was es heißt Angst zu haben. Er selbst musste immer Angst haben, als Terrorist bezeichnet zu werden. Es reichte, wenn er fastete im Ramadan oder wenn ihn irgendwer beten sah.
„Sie nannten mich ständig Terrorist. Sie brachten den Terror in mich. Jetzt bekommen sie ihren Terror zurück.“ Tränen füllten seine Augen. Die Worte seiner Freundin schossen ihm ins Herz: „Omar, wieso hörst du nicht auf ständig, so hässlich über die Menschen zu sprechen? Wann hörst du endlich auf? Wenn du so weitermachst, dann kann ich nicht bei dir bleiben…“
„Aahh!“ Er schrie. Denn die Menschen, die ihn krank nannten, wenn sie erfuhren, dass er betete und fastete, sie sind Schuld daran, dass er mit Wut und Zorn gefüllt wurde. Deshalb verließ ihn die einzige, die ihm je das Gefühl gab, dass er Liebe verdient… Sie war weg. Seine Freundin war weg.
Sie ging. „Sie ging wegen Zorn und Wut. Zorn und Wut werden euch treffen. Ihr habt kein Recht friedlich zu leben. Ihr habt mir meine Kindheit und meinen Frieden genommen und jetzt nehme ich euch euren Frieden. Ihr seid Ungläubige. Ihr verdient kein Leben. Ich weiß, was wahr ist. Ihr seid keine Menschen.“ Und er drückte aufs Gas. Er drückte durch. Er hörte die Schreie. „Jetzt. Schreit. Ihr. Mein Herz schreit nicht mehr. Mein Herz wird ruhig.“
Denn Omars Herz starb gemeinsam mit den Menschen, die er tötete. Keine Herzlichkeit blieb in ihm, die ihn hätte Schmerz spüren lassen können. Sie waren einst taub für seine Erklärungen. Er wollte beten und sich durch das Fasten humaner machen. So hatte es ihm der Hodscha in der Moschee beigebracht. Hodscha Ebubekir.
An ihn dachte er nicht mehr. Denn sein Islamverständnis war auch falsch. Der Hodscha schlug nicht zurück. Aber Selbstverteidigung heißt zurückschlagen. Omar hörte die Schreie. Blut spritzte auf die Scheibe und an die Fenster. Der Mustang war robust.
Nachdem er einige Menschen getötet und zahlreiche verletzt hatte, fuhr er weiter. Er wusste wohin. Er fuhr an eine Stelle, um den gestohlenen Wagen stehen zu lassen. Von dort würde er mit der Bahn zu seinem einstigen Freund, Mehmed. Er war mal sein bester Freund. Mehmed war auch Muslim. Nicht einer, der bloß behauptete, Muslim zu sein. Auch er betete und fastete.
Gemeinsam wurden sie immer wieder krank genannt. Einmal von einem Lehrer. Und ein Mitschüler sagte ihnen: „Ihr müsst doch Menschen töten, um gute Muslime zu sein. Das ist doch bei euch das, was bei uns Christen das Missionieren ist.“ Heute hatte er die Beleidigungen gerächt.
Mehmed öffnete die Tür und sah seinen Freund aus Jugendtagen. Sie hatten sich ewig nicht gesehen. Irgendwann kam Omar nicht mehr in die Moschee. Sprach immer öfter nur noch von Koran und Sunna und den Kuffar. Er begann die Gelehrten zu ignorieren und Koran und Sunna selbst zu deuten. Das hätten die Gefährten des Propheten auch so gemacht. Mehmed würde den Koran nicht kennen, denn er könne kein Arabisch. Wer kein Arabisch kann, habe kein Recht über den Islam zu sprechen.
Das hatte sie voneinander entfernt. Maulana Rumi, der sei ein Kafir. Der könne nur dichten und sei Römer. Der Name allein schon: Rumi. Das sei der Beweis, dass Rumi ein Kafir sei. Die Türken, die ihm folgen, seien alle abgeirrt. Die Araber seien die Vertreter des Islams. Das waren seine letzten Erinnerungen an seinen einstigen Bruder. Er hatte ihn geliebt. Jetzt war er überrascht ihn vor sich zu sehen.
„Bruder, ich brauche deine Hilfe. Können wir Tee trinken? Kannst du allen sagen, dass ich bei dir war in den letzten drei Stunden?“ – Mehmed durchströmte ein mehr als seltsames Gefühl. Sollte er froh sein oder nicht? Er wollte froh sein, doch wusste nicht, was es mit dem Besuch auf sich hatte. Er hätte doch zumindest Bescheid geben können.
Der Abend war zwar schon vorangeschritten, doch die Nacht schien gerade erst begonnen zu haben. Sie setzten sich. Auf dem Tisch war Tee, frisch eingegossen. Mehmed holte ein zweites Glas. Und da saßen sie sich gegenüber. Zwei Menschen. Zwei Brüder. Zwei Muslime. Sie tranken denselben Tee. Doch was der Tee aus ihnen machte, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Was der Tee beiden bedeutete, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Mehmed trank Tee, um den Moment zu genießen, um sich auszutauschen über Erlebtes, Gelesenes, Gefühltes. Mehmed liebte es die Schnelligkeit zu dämpfen. Dann fühlte er sich Allah, dem Erhabenen, besonders nah.
Seine Gegenwart war in Ruhemomenten besonders spürbar. Anders Omar. Er trank Tee, weil die verdammten Kuffar Wein und Bier tranken. Der Muslim müsse sich in allem vom Kafir unterscheiden. Das gehöre sich so. Ein Nichtmuslim musste nur irgendetwas tun oder sagen und Omar fand daran etwas auszusetzen. In allem vermutete er eine geheime Agenda. Darin glich Omar den Rechtsradikalen. Radikale ahnen in allem eine versteckte Agenda. Unzählige weitere Gedanken kamen Mehmed, doch Omar war sein Gast und diesem wollte er zuerst ein gutes Gefühl geben.
„Ich bin froh dich zu sehen, Bruder. Möchtest du über Nacht bleiben? Ich dachte, du lebst in Hamburg. Was treibt dich in deine Heimat?“ – „Erinnerst du dich, Bruder? Erinnerst du dich, wie sie uns beleidigt haben? Wie wir verdächtigt wurden, nur weil wir beteten? Erinnerst du dich daran, dass wir verheimlichen mussten, dass wir Muslime sind? Schon dass wir in die Moschee gingen, machte uns zu Verdächtigen… Erinnerst du dich daran?“ – „Kamst du deshalb irgendwann nicht mehr in die Moschee? Weil du es nicht mehr ausgehalten hast, von der Mehrheitsgesellschaft verdächtigt zu werden?“ – „Nein, Bruder. Hältst du mich für einen Feigling? Ich habe gelernt den Islam zu verteidigen. Ich habe gelernt, was es heißt, den echten Dschihad zu führen.“
Diese Worte weckten in Mehmed große Sorgen. Doch zugleich hatte er Angst ihn direkt vor den Kopf zu stoßen, er wollte sich dem Thema langsam annähern und ihr unterschiedliches Islamverständnis nicht direkt hervorheben. „Meinst du, was die früheren Sufis sagten? Meinst du Tasawwuf?“ Omar ahnte, dass sich Mehmed in die für ihn falsche Richtung entwickelte, doch er war angewiesen auf den Schlafplatz. Er hatte es bis hierher geschafft. Er wollte ihm zeigen, was für ein Glaubenskrieger er sei. Er kämpfte mit den Menschen, die ihn als Terroristen beleidigt hatten. Es würde nie wieder wehtun, wenn sie ihn so nennen.
Niemals wieder würde es wehtun, wenn jemand sagt, er würde immer die Rassismuskarte ziehen oder in die Opferrolle gehen. Denn heute war er der Täter. So hatte er es im Seminar auf der Arbeit gelernt. Opfer sein oder Täter – jeder Mensch müsse sich entscheiden. So wurde es im Westen vermittelt. Omar entschied sich dafür Täter zu sein. „Wir dürfen die Konfrontation nicht scheuen! Das meine ich. Und ich habe heute an der Front gekämpft. Ich habe meine Pflicht erfüllt.“ Mehmed schaute ihn verwirrt an. Um es zu demonstrieren holte Omar das Smartphone hervor und gab in der Suchleiste „Weihnachtsmarkt“ ein.
Rumis Weg. Mehmed sah auf das Smartphone. „13 Tote. 25 Verletzte.“ Er konnte nicht fassen, was er gerade sah. Es war, als sei er in einem Film. In einer App. Eine Animation. Das musste irgendetwas dergleichen sein. Omar stand vor ihm. Kein Lächeln. Kein Ausdruck der Trauer. Omar war tot. Zu keinen Gefühlen mehr fähig. Sein Freund aus Jugendtagen war ein lebender Toter. Er hatte den großen Dschihad verloren. Er hatte gegen den Schmerz verloren und ließ sich vom Schmerz, den andere ihm zufügten, in einen Menschen verwandeln, der herzlos war.
Es war nur der Körper, die Hülle, die übrig war. Sein Freund war tot. 13 Menschen hatte er umgebracht. 13. Er kannte sie nicht mal. Es waren nicht die Menschen, die Omar und ihm Schmerz zufügten. Es waren nicht die Menschen, von denen sie in ihrer Jugend so beleidigt und gedemütigt wurden. Es waren willkürliche Menschen. Menschen, deren Namen sie nicht kannten.
Mehmeds Augen füllten sich mit Tränen, sein Herz mit Wut und Zorn. Er begann zu brüllen: „Sag mir ihre Namen! Sag mir ihre Namen!“ – Omar erschreckte sich. Mehmed konnte sich nicht beruhigen – „Du sollst mir ihre Namen sagen. Los! Sag mir Ihre Namen!“ – Omar schrie zurück: „Es ist mir scheiß egal, wie sie heißen. Sie tolerieren es, dass Muslime beleidigt und gedemütigt werden. Sie tolerieren es, dass wir keine friedliche Kindheit hatten, obwohl wir nicht einmal in einem Kriegsgebiet leben. Sie gehören zu denen, die den Krieg in mich brachten und jetzt sollen sie in der Hölle brennen.“
In der Hölle brennen. Mehmed musste sich besinnen. Er suchte in seinen Gedanken nach einem Weg. DER WEG. Was war der Weg? DER WEG. „Ich weiß, du bist müde, doch komm: Das ist der Weg.“ Scheikh Rumis Worte… Scheiße, er hat Menschen getötet. Vor ihm stand ein Mörder, der glaubte etwas Richtiges getan zu haben. „Allah!“, dachte Mehmed… „Allah! Hilf mir! – Ja, Allaah!“ Mehmed ist was aufgefallen: „Omar, du hast heute nicht einmal Allah erwähnt. Du hast nur darüber gesprochen, was uns angetan wurde und was die anderen verdient haben. Dein Motiv war Rache. Was ist mit Allah? Muss die Absicht eines Muslims nicht die Zufriedenheit Allahs sein? Muss unsere Absicht nicht sein, Allahs Wohlgefallen zu erlangen?“
Omar fühlte sich getroffen. Was seine Wortwahl betrifft, hatte Mehmed recht. Er hat keine Sekunde über Allah gesprochen. Wenn er ehrlich war, hatte er nichtmal an Allah gedacht. Wie passte das zusammen? Er brauchte eine Erklärung. Ohne Erklärung, wäre er nichts weiter als ein Mörder. „Allah hasst die Kuffar. Das weißt du!“ – „Nein. Sie sind Menschen. Das weißt du.“ – „Wir sind im Krieg.“ – „Du bist im Krieg mit dir selbst.“ – „Ihr seid scheiß Philosophen, ihr verdammten Türken!“
Urplötzlich stürmten Polizisten die Wohnung. Omar zog seine Waffe und schoss auf einen Polizisten. Die anderen Polizisten schossen auf Omar und Mehmed. „Die Terroristen wurden unschädlich gemacht. Sofort einen Krankenwagen. Wir haben eine Verletzte.“