Abu Bakr Rieger stellt Ibn Battutas Eindrücke vom damaligen Syrien vor. Und stellt Lehren aus der Vergangenheit vor.
(iz). Am 9. August 1326 erreicht Ibn Battuta Damaskus zu einem günstigen Zeitpunkt. Die Stadt steht in ihrer vollen Blüte und ist ein pulsierendes geistiges Zentrum. Der Reisende bezieht eine Unterkunft in der Rechtsschule der Malikiten und beginnt seine denkwürdige Entdeckungstour. In dem Reisebericht beschreibt er begeistert über seine Eindrücke.
Damaskus übertrifft für ihn alle anderen Städte, die er bisher gesehen hat, an Schönheit und Vollkommenheit: „Jede Beschreibung, sei sie noch so lang, ist immer zu kurz für ihre Pracht.“ Und: Die Stadtgesellschaft kümmert sich um ihre Gäste. „Wer als Fremder dort ist, fühlt sich gut aufgehoben und wird mit Achtung behandelt, und man trägt Sorge, ihn vor allem zu schützen, was sein Ansehen verletzen könnte.“
Ibn Battuta ist tief beeindruck von Damakus‘ Moscheen
Die Zivilisation entfaltet sich – wie in allen islamischen Zentren der Vergangenheit – rund um die Moschee und den Marktplatz. Die materielle und spirituelle Dimension ist in der urbanen Entwicklung islamischer Städte miteinander verknüpft.
Ibn Battuta ist tief beeindruckt von der wundervollen Moschee der Umayyaden. „Unaufhörlich, von Tagesanbruch bis ins erste Drittel der Nacht, werden in dieser Moschee Gebete verrichtet und Koranlesungen gehalten. Beides trägt zum Ruhm dieser gesegneten Moschee bei.“
Das sakrale Gebäude im Herzen der Stadt erzählt von einer Metamorphose. Im späten 4. Jahrhundert n. Chr. wurde hier ein dem Gott Jupiter geweihter römischer Tempel durch eine christliche Basilika ersetzt. In der Kirche wurde gemäß der Überlieferung der Kopf Johannes’ des Täufers aufbewahrt.
Nach der arabischen Eroberung von Damaskus im Jahr 636 diente der Ort noch ungefähr sieben Jahrzehnte beiden Konfessionen als religiöse Kultstätte. Danach beanspruchte die Regierung das ganze Gebäude und entschädigte die alten Eigentümer für den Verlust ihres Gebetsraumes.
Das Leben in der Moschee mit ihren siebzig Muezzinen hinterlässt einigen Eindruck auf den Reisenden. Die verschiedenen Rechtsschulen sind mit den führenden Gelehrten ihrer Zeit präsent. Das Niveau der Lehre ist hoch: Ibn Battuta kümmert sich um seine eigene Bildung und erwirbt – wie er stolz anmerkt – über ein Dutzend Lehrerlaubnisse.
Kontroversen um Ibn Taymiyya
Er wird aber auch Zeuge von religiösen Kontroversen, die um einen der wichtigen Lehrer in Damaskus kreisen: Ibn Taymiyya. Er ahnt nicht, dass dessen Bedeutung weit in die Zukunft reichen wird. Die steigende Popularität des Gelehrten wird ab dem 18. Jahrhundert zunächst Muḥammad bin ‘Abd Al-Wahhab zugeschrieben. Die Doktrinen des Wahhabismus weisen in einigen wesentlichen Aspekten eine große Nähe zu ihm auf.
Das Gedankengut wird zudem im weiteren Verlauf der Geschichte gerne in den Kreisen umstrittener Reformer wie Muhammad ‘Abduh und Raschid Rida zitiert. Ihre politischen Forderungen werden zum Teil mit Verweis auf diese Quellen gerechtfertigt. In der Ideologie von Sayyid Qutb, im Anschluss an sein Verständnis von Ibn Taymiyya, sei es die primäre Aufgabe eines islamischen Staates, für die Durchsetzung der Schari’a zu sorgen.
Damit nicht genug, teilweise sollen Muslime, bei ihrer Auseinandersetzung mit dem von den Alawiten getragenen Baath-Regime auf Ibn Taymiyyas Verurteilung dieser Religionsgemeinschaft zurückgegriffen haben. Sicher ist: Im 21. Jahrhundert wird in Syrien und anderswo die Debatte über die Rolle und Quellen des sogenannten politischen Islam, im Kontext von Diktatur, Terrorismus und Bürgerkrieg nach wie vor aktuell sein.
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Die innere Balance der Gesellschaft
Neben dem religiösen und ökonomischen Leben in der Stadt beeindruckt Ibn Battuta eine andere, für die innere Balance der muslimischen Zivilgesellschaft entscheidende Institution. „Es ist unmöglich die vielen Arten frommer Stiftungen, die es in Damaskus gibt, aufzuzählen oder ihren Aufwand anzugeben, so zahlreich sind sie“, berichtet er. Noch entzieht sich diese zweckgebundene Infrastruktur jeder politischen Einflussnahme.
Der Reisende zählt einige Beispiele von lokalen Einrichtungen auf, die der Gastfreundschaft, der Mitgift, der Auslösung von Gefangenen oder dem Unterhalt der Wege gewidmet sind: Besonders gefällt ihm die „Fromme Stiftung für Hausgeschirr“, die Bediensteten, die aus Versehen wertvolles Geschirr ihrer Arbeitgeber zerstören, bei der Erstattung des Schadens zur Hilfe kommt.
Wo immer er auf seinen zehntausenden Kilometern durch die islamische Welt Rast macht, erzählt er von der sozialen Bedeutung und den Segnungen der Stiftungen. Moderne politische Bewegungen zeigen wenig Interesse an diesen bewährten Einrichtungen einer freien Zivilgesellschaft. Ein Phänomen, das zum Nachdenken anregt.
Seine Schilderungen der ethnischen und religiösen Vielfalt von Damaskus überraschen den modernen Leser. Sie sind so gewichtig wie glaubwürdig. Denn Ibn Battuta nimmt auf seinen Reisen kein Blatt vor den Mund. Prangert, wenn geboten, ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse Missstände, Widersprüche oder Ungerechtigkeiten an.
Die Romantisierung und Idealisierung der islamischen Welt, die er beinahe 30 Jahre lang bereiste, liegen ihm fern. Im Gleichklang mit den soziologischen Überzeugungen Ibn Khalduns zweifelt er an der Logik steten Fortschrittes und dokumentiert vielmehr nüchtern das Auf und Ab der Geschichte, die einer Wellenbewegung gleicht.
Die Reisen von Ibn Battuta inspirieren bis heute: Erich Follath auf den Spuren des Abenteurers
Reisen, die den Spuren des Gelehrten aus dem Maghreb folgen, inspirieren bis heute. Das Leitmotiv zahlreicher Bücher ist dabei die aktuelle Entwicklung der Welt mit den alten Zeiten zu vergleichen. 700 Jahre nach seinem Aufenthalt in der syrischen Hauptstadt begab sich zum Beispiel der langjährige SPIEGEL-Autor Erich Follath auf die Spuren des großen Abenteurers. Er berichtet in seinem Bestseller „Jenseits aller Grenzen“ von der alten Infrastruktur der ehrwürdigen Stadt, ohne die radikal anderen politischen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts zu übersehen.
In Syrien fand eine Revolution statt: Es herrscht der Sozialismus. Bereits im Jahr 1969 besucht er als junger Tourist die Stadt und wird von studentischen Freunden ins Bild gesetzt. „Sie erzählten, dass Oppositionelle im Gefängnis säßen, das gefoltert würde, aber auch, dass es wirtschaftlich aufwärts ginge und sie froh über ihren unabhängigen Staat seien.“
Ganz anders zeigt sich für den Autor die Lage in Syrien einige Jahrzehnte später. Das Land wird immer häufiger zum Thema politischer Reportagen. Im Jahr 2008 ist Baschar al-Assad an der Macht und „wird in Europa regelrecht umworben“. Follath interviewt den Diktator, der auf der internationalen Bühne moderat wirken will.
Er hat in Wirklichkeit keinerlei Illusionen über die Machthaber: „Die Assads dachten gar nicht daran, das Land zu reformieren. Der Machterhalt der Clans, die Nähe zu den Generälen und den Geheimdienst-Claqueuren, stand über allem. Und so unterdrückten sie ganz im Stil ihres Vorgängers jede oppositionelle Meinung und ließen eine pluralistische Zivilgesellschaft nicht einmal im Ansatz zu.“
Im Jahr 2011 reist der Journalist ein letztes Mal nach Aleppo und trifft dort den damaligen Großmutfti Schaikh Ahmad Badr ad-Din Hassoun. Die Rolle der islamischen Lehre unter dem Regime ist längst pervertiert und mit dem Pluralismus der Vergangenheit ist es vorbei.
„Der Großmufti hatte sich ganz auf die Seite des Präsidenten geschlagen, er wirkte – ob aus Überzeugung oder aus politischem Kalkül und Überlebensinstinkt – über weite Strecken wie ein Sprachrohr Assads“. Die Politik bestimmt das Recht, eine der Wurzeln jedes ungerechten Systems.
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Kermani nannte seinen Bericht „Eingang der Hölle“
Bald werden Reportagen über das Land, das hinter dem eisernen Vorhang der Gewalt abgeriegelt ist, nicht mehr möglich sein. „Eingang zur Hölle“ lautet die Überschrift eines der letzten Reiseberichte aus dieser Zeit. Navid Kermani erzählt in seinem Buch „Reisen in eine beunruhigte Welt“ über seinen Besuch in Damaskus im Jahr 2012. Das Land befindet sich im Ausnahmezustand, die friedlich begonnene Revolution wird inzwischen mit brutaler Härte vom Staatsapparat zurückgeschlagen.
Es gibt in der muslimischen Gemeinschaft durchaus Diskussionen über den Sinn des Einsatzes von Gewalt. Kermani zitiert einen Vertreter dieses Standpunktes, der in der Strategie der militärischen Konfrontation eine Falle sieht. „Die Regierung will einen Konfessionskrieg anzetteln, um die Opposition als Gotteskrieger anzusehen“, warnt er. Die Kritik am wachsenden Einfluss radikaler, ausländisch finanzierter Akteure auf die diversen Oppositionsgruppen wird bereits in dieser Phase der Auseinandersetzungen ebenso offen angesprochen.
Der Schriftsteller sammelt Erzählungen, registriert Perspektiven der verschiedenen Parteien, die, mit totaler Überzeugung vorgetragen, sich in ihrem Gehalt und Bedeutung gegenseitig ausschließen. Der syrische Apparat operiert derweilen voller Zynismus, schürt den Terror, indem er hinter den Kulissen seine Geheimdienste einsetzt und brutale Milizen bewaffnet, um Oppositionelle zu ermorden und zu töten. Die Idee eines gewaltfreien Widerstandes hat keine Chance mehr.
Kermani sammelt in der verworrenen Lage in Damaskus eine Auswahl paradoxer Sachverhalte: Ein weltliches Regime hat als Hauptsponsor eine islamische Theokratie. Der demokratische Westen bewaffnet unterschiedliche, radikal-religiöse Gruppen, um ihre diversen geopolitischen Interessen zu wahren. Bärtige Männer und verschleierte Frauen setzen ihre Hoffnungen auf die Demokratie und appellieren an die Menschenrechte.
Nach einem furchtbaren Krieg, der hunderttausende Tote verursacht und Millionen Flüchtlinge mit sich gebracht hat, ist endlich die Hoffnung in Syrien zurückgekehrt. Eine kleine Gruppe hochmotivierter Akteure hat – zumindest aus ihrer Sicht – die Revolution vollendet. Die Aufgabe der Befriedung des Landes mit seinen hunderten Oppositionsgruppen unter den Bedingungen der permanenten Einmischung ausländischer Mächte ist eine Jahrhundertaufgabe.
Während die Schuld des Regimes eindeutig und offen zu Tage liegt, stellt sich die Frage nach der Aufarbeitung der eigenen Taten und die Klärung der langfristigen Absichten der am Sieg Beteiligten. „Wer Revolutionen wie Bekenntnisse vorträgt, beichtet auch ihre Gewalttaten als ob sie unvermeidlich gewesen wäre“, kommentiert Peter Sloterdijk über die Philosophie der Selbstentlastung von Revolutionären. Kann man den Einsatz von Gewalt künftig vermeiden? Wie werden die Lehren aus der syrischen Geschichte von den Eliten formuliert?
Die Welt Ibn Battutas wird nicht wiederkehren. Aber sein Bericht liefert – aus muslimischer Sicht – einige zeitlose Indizien, von denen sich eine positive Entwicklung ableitet. Hierher gehört die freie Lehre, die Stärkung der Zivilgesellschaft, der Schutz von Minderheiten, die Freiheit des Bekenntnisses, die Wahrung von Frauenrechten und die Ablehnung jeder Form von Ideologie.
Ohne ökonomische Gerechtigkeit entwickelt sich ein Gemeinwesen ebenso wenig. Warten wir ab. Ein freies Damaskus wird bald wieder Ziel vieler Reisender aus aller Welt werden. Man ist gespannt darauf, was sie berichten werden.