Leserartikel von Sherin Nagib

(iz). Am 30.05.2013 ging die seit vier Jahren wohl abwechslungsreichste Islamwoche der IHg Kiel (Islamische Hochschulgemeinde Kiel) zu Ende. Das Motto der Woche „Beyond Sense and Science“ versprach den Philosophen, Skeptikern, Kunst- und Wortliebenden ein vielfältiges Programm zu den unterschiedlichsten Themen: Am Montag begeisterte die Gäste nicht nur das IHg-Buffet, sondern auch der Vortrag über „Das Verhältnis zwischen Glaube und Wissenschaft“.

Dr. Ali Özgür Özdil erläuterte, Glaube und Wissen seien im Islam keine sich ausschließenden Gegensätze. Stattdessen sei das Streben nach Wissen und Wissenschaft eine religiöse Pflicht, die allerdings nicht immer leicht zu erfüllen sei. Denn eigne man sich erst einmal Wissen an, stehe man vor der Verantwortung, dies richtig und gewissenhaft anzuwenden, denn „sind die, die wissen, denen gleich, die nicht wissen?“, heißt es im Qur’an (39, 9). Dies bedeute, so Dr. Özdil, dass der Qur’an, die Vernunft bestätigt. Muslime sollten vernünftig sein, ihren Verstand benutzen und reflektieren.

Glaube und Wissen gingen Hand in Hand und brächten also Verantwortung mit sich: Die Verantwortung, seine gottgegebene Gabe, die Hikma (arab. Weisheit und Entscheidungskraft), sinnvoll zu nutzen. Zum Beispiel, indem heutzutage islamische Regeln und Hadithe, dem Wandel der Zeit entsprechend, reinterpretiert werden müssen. So befehle also der Islam, sein Wissen anzuwenden, statt, wie es Dr. Özdil formulierte, der Devise zu folgen: „Kopieren ohne zu kapieren!“

Am Dienstag entführte der Künstler Lahsen Azougaye sein Publikum in die Welt der großen Kaligraphen und Künstler. Er erzählte von der Geschichte Ibn Muqlas (885/886 – 940), einem Kalligraphen und Politiker, der zur Zeit der Kalifen in Ungnade fiel. Als ihm zur Bestrafung deshalb der rechte Arm abgehackt Worte sei, um fortan nicht mehr kalligraphieren zu können, habe er er sich nicht beirren lassen. Aus Liebe und Treue zu seiner Kunst habe er sich ein Schreibrohr an den Armstumpf gebunden und sei zu einem der wichtigsten Kalligraphen der Geschichte geworden. Bis heute würden Künstler, und so auch Azougaye, seine Techniken befolgen.

So gab Azougaye auch Geheimtipps, aus welchen Pflanzen und Lebensmitteln Farbe gewonnen werden können – dies reiche von Safran bis zu Kaffee, Früchten und im Grunde allem – und erklärte, wie diese dann in einem längeren Prozess zu Tinte verarbeitet würden.  Mit einem letzten Showeffekt endete dieser spannende Abend, als Azougaye seine selbst entwickelte Technik einer unsichtbaren Tinte präsentierte, mit der er geheimnisvoll ein Wort aufzeichnete, das erst durch ein paar Farbkleckse, wie durch Zauberhand, auf dem Papier Gestalt annahm und zu einer wunderschönen Kalligraphie des Wortes „Bismillah“ (Im Namen Gottes) wurde.  Als Geschenk kalligraphierte der Referent 15 Namen der Gäste umsonst.

Den Höhepunkt dieser Islamwoche stellte am Mittwoch eine weitere Kunst, nämlich die des Dichtens, dar. Neben den Gründern des i,slams (einem in seiner Art in Deutschland einmaligen Poetry-Slam speziell für Muslime nach dem Konzept von Younes Al-Amayra und Youssef Adlah), reisten weitere 6 Slammer aus ganz Deutschland an. Unglaublich humorvoll moderierten die Gründer Younes und Youssef durch den Abend, animierten das Publikum und gaben den „Slammern“ in zwei Runden die Chance, sich mit ihren Texten zu behaupten und die Stimmen des Kieler Publikums zu gewinnen. So „slammte“ Narges humorvoll über uns „Trotzdem-Frauen“ (sich eingeschlossen, wie sie sympathisch erklärte), entführte uns Kübra in die Nostalgie der Kalendersprüche, rüttelte Hana uns wach und appellierte in einem  besonders eindrucksvollen Text an unser Mit- und Gemeinschaftsgefühl für die komplette Menschheit. Nach zwei Runden siegte Sami, der mit seinen schelmischen Texten und gesanglichen Nuancen den Beifall und die Lacher des Publikums gewann. Vor allem sein zweiter „Slam“, den er „[s]einer Freundin, [s]einem Schatz“ widmete, sorgte zunächst für Empörung:   „Es war Liebe auf den ersten Blick / ich geb' dich nie mehr zurück / du hast jetzt einen Platz in meinem Herzen / du bist mehr als Glück (…) Mich stört, dass viele Jungs mit dir rumlaufen / meine große Liebe funkelt und umtauschen – käme nicht in Frage / ich zähle die Tage – an denen wir vereint sind / denn leider kommt die Zeit in der du alt bist und hässlich und dreckig und peinlich. / (…) Heute küsst du jeden Tag meine Füße / (…) Ich trete dich mein Schatz, dein Leben ist hart!“ Sami widmete diesen „Slam“ seinem „Schatz“, seinem Schuh.

Die Slammer bewiesen, dass Muslime sich über wichtigere Dinge als durchgekaute  Integrationsdebatten den Kopf zerbrechen wollen, so zum Beispiel über Liebe, Weltgeschehen, die Menschheit – oder nun mal auch über – Schuhe! Nach diesem stimmungsvollen Abend luden die IHg Kiel und die i,slam-Crew das Publikum ein, den Abend bei Unterhaltungen und Abendessen gemeinsam ausklingen zu lassen.

Die passende Abrundung der diesjährigen Islamwoche, die sich diesmal durch ihre Balance zwischen Kunst, Wissenschaft, Unterhaltung und Poesie besonders auszeichnete, bot der letzte Veranstaltungstag mit dem ethischen Thema: Organtransplantation, Sterbehilfe und Hirntod? Die Medizinethik im Islam.

Dr. Abdulnasser Al-Masri (unter anderem Buchautor, Projektleiter und Referent im Ausbildungskurs „Seelsorge für muslimische Patienten“) hob hervor, dass ein Arzt zu sein kein Beruf, sondern eine Berufung sein sollte. Dass diese eine Amana, eine Treuhand, vor dem Schöpfer ist, für die jeder Arzt am jüngsten Tag zur Rechenschaft gezogen wird. Neben dieser großen Verantwortung würden die Ärzte allerdings einen hohen Wert beim Schöpfer genießen, denn sie stünden bei Gott nach dem Theologen an zweiter Stelle, da sie nach Allah verantwortlich für das Wohl seiner Diener auf Erden seien. So sollten die Ärzte ihren Patienten motivierend und optimistisch gegenüber treten, statt die Schmerzen und Ängste ihrer Patienten arrogant zu ignorieren und sie beispielsweise monatelang auf einen Termin warten zu lassen. Dies entspräche nicht der islamischen Medizinethik, kritisierte Dr. Al-Masri enttäuscht und hob den Optimismus, der der islamischen Medizinethik zugrunde läge hervor: So heißen die Krankenhäuser in der gesamten islamischen Welt nicht Krankenhäuser, sondern Heilhäuser (arab. Mashfa). Der Name Heilhaus soll den Patienten  Hoffnung schöpfen lassen, in diesem Heilhaus zur Genesung zu finden. Für noch mehr Optimismus in der islamischen Medizinethik sorgte der andalusisch-arabische Chirurg Albucasis  (936-1013) (arab. Abu Al-Qassim Al-Zahran), der in Spanien das Schenken von Blumensträußen bei Patienten eingeführt habe, um diese aufzuheitern und zu erfreuen. In der angeregten Frage- und Diskussionsrunde ging der sympathische Al Masri mit Witz und Energie auf weitere Themen wie künstliche Befruchtung, embryonale Stammzellforschung, Klonen, Abtreibung und Organtransplantation ein. Al Masri verurteilte den Missbrauch der Medizin und des menschlichen Körpers. Der Islam verbiete das Stehlen und/oder Verkaufen von Spenderorganen, genauso wie das Bevorzugen oder (Aus-)Sortieren von Organspendeempfängern. Wiederholt stellte er sich und dem Publikum die unbeantwortete Frage: „Sind wir Menschen zu Ersatzteillagern geworden?“

So endete die Islamwoche der Islamischen Hochschulgemeinde Kiel nach vier ereignisreichen Tagen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die vier völlig verschiedene Perspektiven über den Islam und seine Muslime boten.

*Das Finale des deutschlandweiten i,slam-Contests findet am 08. Juni 2013 in Berlin statt. Weitere Informationen dazu auf islamm.de und facebook.com/islamm