Mabel Berezin über Folgen der Pariser Attacken

Ausgabe 236

(euro-islam.info). Als Antwort auf das Massaker beim französischen Magazin „Charlie Hebdo“ haben US-Präsident Obama und andere öffentliche Figuren, sogar die rechtsgerichtete Politikerin Marine Le Pen, das Recht auf „Meinungsfreiheit“ als demokratischen Kernwert verteidigt. In ganz Frankreich sowie in vielen europäischen Hauptstädten kam es zu Demonstrationen aus Solidarität mit den Opfern. In den sozialen Netzwerken zirkulierte der Slogan „Je suis Charlie Hebdo“. Twitter war voller Statements über die politische Macht der Satire und Bilder von Demonstranten, die Stifte in die Luft hielten.

Die politische Stimmung in Europa verdunkelt sich. Sprunghaftigkeit wird immer mehr zu einer Konstante. Im Dezember geriet Schwedens Regierung in eine Krise, die durch die nationalistischen Schwedendemokraten hervorgerufen wurde. Diese lehnen weitere Einwanderung kategorisch ab. Die Führer der Partei behaupten, Juden, Kurden und Sami (auch Lappen) seien keine richtigen Schweden, solange sie sich nicht assimiliert hätten. Ein Kompromiss der wichtigsten Parteien brachte die Wende in Schweden, aber die Schwedendemokraten – deren Anteil an Wählerstimmen 2014 auf 13 Prozent anstieg – werden so leicht nicht verschwinden.

In Griechenland, wo die offen neonazistische Partei Goldene Morgendämmerung seit 2012 im Parlament sitzt, zerfiel die pro-europäische Regierung und der Premierminister musste Neuwahlen für den 25. Januar ansetzen. In Deutschland organisiert die Gruppe Pegida große Demonstrationen in Dresden gegen die „Islamisierung des Abendlandes“. In ihrer Neujahrsansprache rief sie zum Ende der Märsche auf, aber Pegida machte trotzdem weiter.

Le Pens Ziel, seit sie 2011 die Führung der Front National übernommen hat, war es, die Partei in den Mainstream zu führen. 2014 erzielte sie bei Wahlen einen Durchbruch nach dem anderen. Im März gewann die FN Bürgermeisterwahlen in vier französischen Städten, dazu die traditionell sozialistische Stadt Hénin-Beaumont. Im Mai erreichten sie in Frankreich den ersten Platz bei den Europawahlen. Bei diesen stiegen die Wahlgewinne der rechten, nationalistischen Parteien in ganz Europa an.

In der letzten Zeit hat Le Pen durchgehend gut als Herausforderin bei Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen 2017 abgeschlossen. Selbst vor den Angriffen auf „Charlie Hebdo“ war es mehr als wahrscheinlich, dass sie einen zweiten Wahlgang erreichen würde. In einer Umfrage vom Oktober 2014 lag sie 15 Prozent vor dem amtierenden Präsidenten, François Hollande. Ihr engster Rivale war der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy, und sie lag sogar vor ihm.

Internationale Medien stellen sie oft als engstirnige Kandidatin vor, die auf die Themen Fremdenfeindlichkeit und Einwanderung fixiert sei, aber die Positionen Le Pens und ihrer Partei haben erheblich an Umfang gewonnen. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, ehemaliger Chef der Front National, begann eine starke Kampagne gegen eine weitere europäische Integration und eine französische Beteiligung an der Wirtschafts- und Finanzunion. Mittlerweile ist in Umfragen das Thema Arbeitslosigkeit wichtiger als Einwanderung.

Aber Politiker suchen nach Gelegenheiten, wo sie sich bieten. Und Wähler tendieren dazu, sich an dramatische Ereignisse genauso zu erinnern wie an ihre Alltagssorgen. Nichts könnte dramatischer sein, als die öffentliche Ermordung von 12 Menschen im Zentrum von Paris. Das könnte auch der Umschlagpunkt sein – eine Version des Moments von Sarajevo für das 21. Jahrhundert. Europa krümmt sich seit einigen Jahren. Die Staatsverschuldung, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und das Scheitern, eine gerechte und vernünftige Flüchtlingspolitik zu kreieren: All diese Fragen können sich um die Ereignisse von Paris kristallisieren. Dabei ist es egal, ob sie direkt mit ihnen in Verbindung stehen oder nicht.

Die nationalistische Rechte Europas wurde bestärkt durch diese Themen. Das Massaker an „Charlie Hebdo“ könnte nicht nur Marine Le Pen helfen, sondern allen nationalistischen Parteien in ganz Europa einen Schub geben. Von Nord nach Süd wählen normale europäische Bürger Parteien, die sie in der Vergangenheit ignoriert hätten. Wenn dieser Trend anhält, dann wird es keine Kanonen im August [Anspielung auf Beginn der Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg, Anm. d. Red.] geben; nur der stille Angriff eines nationalistischen Wahlerfolgs nach dem anderen.