Maqāșid aŝ-ŝarīʿa: Ein Interview mit dem Wissenschaftler Idris Nassery anlässlich einer anstehenden Konferenz in Paderborn

(iz). Idris Nassery, geboren in Kabul, studierte nach dem Abitur in Paderborn an der Universität Bielefeld Rechtswissenschaft. Parallel zum rechtswissenschaftlichen Studium absolvierte er ein Ergänzungsstudium in Wirtschaftswissenschaften.

Daraufhin studierte er zusätzlich als Stipendiat an der University of Oxford und an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London, islamisches Recht mit dem Abschluss Master in Islamic Law (LLM). Danach durchlief er im Rahmen des Sonderprogramms „Master in classical Islam“ an der University of Johannesburg in Kooperation mit diversen Deoband-Gelehrten und Institutionen (madāris) in einem Einzelprogramm diverse Disziplinen der Sharia.

Seit Oktober 2012 ist er Doktorand am Zentrum für Komparative Theologie an der Universität Paderborn und promoviert dort als Stipendiat der Mercator Stiftung mit einer Arbeit zum Thema „Grundlegung zur islamischen Wirtschaftsethik – Von Al-Ghazali über Kant zur Habermas“. Mit ihm sprachen wir über das Thema Maqasid Asch-Scharia. Nassery bereitet derzeit eine Konferenz zum gleichnamigen Thema im Oktober an der Universität Paderborn vor.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Nassery, vom 10. bis 12. Oktober veranstaltet die Universität Paderborn ein Kongress zum Thema Maqāșid aŝ-ŝarīʿa. Wobei handelt es sich bei dem Thema?

Idris Nassery: Um diese Frage zu beantworten, bedarf es zunächst einer kurzen Klärung was unter Scharia zu verstehen ist, so dass hieraus dann der Begriff Maqāșid aŝ-ŝarīʿa verständlich gemacht werden kann. Scharia, was häufig fälschlichweise mit “islamisches Recht” übersetzt wird, meint in einem untechnischen Sinne den “Weg zur Quelle” oder den “Weg zum Glauben”. Also ist Scharia der Weg, wie ein Muslim sein Leben nach Maßgabe des Glaubens ausrichtet. Entsprechend meint Scharia die Gesamtheit der islamischen Werte-, Normen- und Rechtslehre einschließlich der Methoden für deren Auffindung und Interpretation, mit welcher dieser Weg beschritten werden kann.

Die traditionelle islamische Jurisprudenz (fiqh), die sich der Gewichtung und Interpretation dieser Quellen widmet, beschränkte die Anwendung der Normen nicht allein auf ihren Wortlaut, sondern setzte sich insbesondere auch mit dem Sinn und Zweck (Maqāșid) der Scharia auseinander. Zu den prominentesten und viel zitiertesten Autoritäten dieser Strömung gehören u.a. neben al-Dschuwainī (gest.1085) auch sein Schüler al-Ghazālī (gest.1111). Al-Ghazālī, der den Ansatz seines Lehrers konkretisierte, hielt den Schutz fünf wesentlicher Grundgüter für unabdingbar: Religion, Leben, Vernunft, Nachkommenschaft und Eigentum. Damit kann das wesentliche Ziel der Maqāșid-Theorie in der Erforschung aller vom göttlichen Gesetzgeber festgelegten und vom Propheten etablierten Gebote und Verbote, das Gute zu fördern, den Menschen Nutzen zu bringen und sie vor dem Bösen, dem Schaden und dem daraus resultierenden Leiden zu schützen, gesehen werden.

Islamische Zeitung: Wen adressieren Sie mit Ihrem Kongress?

Idris Nassery: Adressaten der Veranstaltung sind neben der breiten Öffentlichkeit, insbesondere das Fachpublikum aus dem Bereich Recht, Theologie und Philosophie. Dadurch, dass die Veranstaltung am 10.10.2014 in deutscher Sprache allen Interessierten öffentlich zugänglich ist, möchten wir es nicht allein bei einem Fachdiskurs verbleiben lassen, sondern ebenfalls unseren externen Gästen die Möglichkeit zur Diskussion geben.

Islamische Zeitung: Welche Rolle spielt das Thema im derzeitigen muslimischen Diskurs? Warum das Interesse?

Idris Nassery: Wenn man nicht kurzsichtig den Blick für den muslimischen Diskurs allein auf die arabische Staatenwelt oder den Vorderen Orient beschränkt, sondern sich insbesondere den südostasiatischen Ländern zuwendet, bemerkt man schnell wie fortgeschritten die Debatte gegenwärtig um die Maqāșid aŝ-ŝarīʿa etwa in Indonesien und Malaysia ist. In der westlichen Debatte sind immer wieder vereinzelte wissenschaftliche Auseinandersetzungen von muslimischen Juristen, Menschenrechtstheoretikern oder auch Philosophen zu vernehmen. Von einer ernstzunehmenden Renaissance der Maqāșid-Theorie kann jedoch nicht die Rede sein.

Daher erhoffe ich mir hier als Teil, der in Deutschland entstehenden islamischen Theologie, einen Beitrag zur Förderung der Diskussion um die Maqāșid aŝ-ŝarīʿa auch hierzulande zu leisten und so eventuell interessante und weiterführende Denkanstöße für die Muslime im Westen zu entwickeln, die im besten Fall in einen fruchtbaren Dialog mit der islamischen Welt eintreten könnten. Ebenso erhoffe ich mir, dass die Diskussion um die wesentlichen Zwecke der Ŝarīʿa gerade in der gegebenen politischen Situation, in dem die Scharia zum Schreckensbegriff schlechthin avanciert ist, die medialen Akteure zu mehr Sachlichkeit bewegt.

Islamische Zeitung: Welche Rolle spielt dabei die klassische Vorarbeit von Gelehrten wie aš-šāțibī?

Idris Nassery: Ich möchte so weit gehen und behaupten, dass aš-šāțibī als der Architekt der fundierten Maqāșid Theorie gesehen werden. Zwar unterscheidet sich sein Vorstoß nicht in der Fachterminologie von seinen Vorgängern al-Dschuwainī (gest.1085) und al-Ghazālī (gest.1111), jedoch kann zweifelsohne in seinem vierbändigem Werk al-Muwāfaqāt fi ușūl aš-šarī’a (die übereinstimmenden Prinzipien in der Methodenwissenschaft der Scharia) die erste systematische Abhandlung mit dem Thema der Maqāșid aŝ-ŝarīʿa gesehen werden.

In seinem Werk „al-Muwāfaqāt“ gelang es aš-šāțibī, das Thema der Maqasid nicht nur den fundamentalen Grundlagen der Methodologie der Rechtslehre anzunähern und die systematische Induktion (istiqrā) als die stärkste Form eines rechtlich verlässlichen Arguments zu erklären, sondern die Maqāșid-Theorie gänzlich zu revolutionieren. Daher verwundert es nicht, dass aš-šāțibīs Werk al-Muwāfaqāt in Fachkreisen als das Standardwerk der Maqasid-Theorie gehandelt.

Islamische Zeitung: Gelegentlich hört man die Idee, hier handle es sich um eine „Alternative“ zum bisherigen mehrheitlichen Verständnis von Scharia und Fiqh. Stimmt das?

Idris Nassery: Nein. Denn wer unter Verkennung der Meinungsvielfalt und Ergebnisvielfalt, die der Scharia immanent ist, von sich gegenseitig ausschließenden „Alternativen“ spricht, übersieht nach meinem Dafürhalten sowohl den Charakter islamischer Normativität mit ihren zahlreichen rechtlichen Einzelfragen und ihrer umfangreichen rechtlichen Kasuistik als auch die juristisch anspruchsvollen Argumentations- und Darlegungstechniken.

Diese Techniken erst ermöglichen den Wandel und die Dynamik juristischer Maßnahmen, welche zur Herstellung einer gerechten Gesellschaftsordnung im Sinne der koranischen Botschaft erforderlich sind. Als Zeugnis dieser Vielfalt gelten insbesondere die schulbedingt divergierenden Ansichten zu unterschiedlichen Rechtsfragen, die gerade ein starres und statisches Verständnis der Normen verhindern soll.

Daher bin ich davon überzeugt, dass die Frage nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen Norm die stete Anpassung der juristischen Maßnahmen an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse erfordert und so die eigentliche Botschaft nach einer gerechten Gesellschaftsordnung ins rechte Licht rückt.