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Medina, ein ­Politikum?

Ausgabe 282

Foto: Robert Doisneau, YouTube

(iz). Der politische Islam, dieser umstrittene Begriff, bestimmt nach wie vor die aktuellen Debatten über die Gemeinnützigkeit des Islam in Europa. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass er Tücken birgt. Wie soll man überhaupt in der Praxis positiv definieren, was „Politik“ ist oder nicht, wenn man über den Kontext des Engagements von Muslimen spricht? Sind, aus gesellschaftlicher Sicht gute Muslime gar nur Menschen, die keine Politik betreiben, keine politische Meinung vertreten oder eben „politisch“ nur einer säkularen Politik nach westlichem Vorbild folgen? Fakt ist: Der Begriff des politischen Islam bleibt weiterhin unbestimmt und muss in seinem Bedeutungs- und Sinngehalt weiter aufgeklärt werden.
Der Begriff des Politischen leitet sich grundsätzlich von der Polis ab, der Stadt. Dieser Ansatz macht auch in der islamischen Historie Sinn. Nach der Auswanderung des Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm, (622 n.Chr.) nach Medina, entstand in der kleinen Stadt das erste Gemeinwesen, das sich auf den Islam beruft. Bis heute besuchen nicht nur Millionen diese heilige Stadt, sondern studieren auch die Geschichte der ersten muslimischen Gemeinschaft und versuchen so, das Ereignis nachzuvollziehen.
Es ist kein Zufall, dass dabei in der Nachbetrachtung immer wieder begriffliche Schwierigkeiten entstehen. Oft wird der Versuch unternommen, die politische Konstellation dieser Zeit mit Begriffen aus der modernen, westlichen Staatslehre zu fassen. Aus dem Propheten wird dann schnell ein Staatsmann, aus dem städtischen Gemeinwesen ein Staat und aus der Lehre des Islam ein Parteiprogramm. Diese terminologischen Fixierungen eines „Islamischen Staates“ oder einer „Islamischen Partei“ hält nicht nur der Gelehrte Wael B. Hallaq für einen paradoxen ­Widerspruch.
Unstrittig ist heute eigentlich nur die Feststellung, dass der Prophet und seine Gefolgschaft ein Modell, einen Nomos, mit sozialen, politischen und ökonomischen Wirkungen hinterließen. Wie man das historische Modell Medina und die beschreibende Terminologie zu fassen versucht, diese Stadt ist und bleibt für das Verständnis des Islam elementar. Wer die Geschichte der prophetischen Gemeinschaft studiert, wird verstehen, dass eine einseitige Politisierung der Lebenspraxis aus vielen Gründen zu kurz greift.
Heute kommt nur eine kleine, ideologische Minderheit auf die Idee, das frühmittelalterliche Leben der Stadt einfach so in die Neuzeit zu transferieren. Die brutale Episode des „Islamischen Staates“ hat das Desaster dieses Versuches vielen Muslimen schmerzlich aufgezeigt. Natürlich kann es im Zeitalter der Technik nicht um eine faktische Rückkehr zu den Verhältnissen Medinas gehen. Wohl aber bleibt der geistige Rücklauf in die Geschichte der Stadt für Muslime ­bedeutsam. Kann man insoweit gar von einem Modell sprechen, dessen Grundpfeiler auch heute noch moderne ­Gemeinwesen beeinflussen könnten?
Zunächst stellt sich die Frage, welche Prinzipien und welche Institutionen dieser Zeit für das aktuelle Verständnis des Islam noch gelten können. Hier leiten sich wichtige Gesichtspunkte aus der Persönlichkeit des Propheten ab, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Sein Leben wurde detailreich dokumentiert und ist Inhalt einer bedeutenden Wissenschaft. Eine breite Überlieferung über die Mentalität Muhammads die ihn in der Phase seines Prophetentums beschreiben, liefern uns hier nach wie vor wichtige Aufschlüsse. Zahlreich sind hier die Verweise, die beispielsweise die Ferne des Propheten zu extremen, ideologischen oder übertriebenen Positionen beweisen. Die Idee, in ihm einen „allmächtigen“ politischen Führer mit diktatorischen ­Befugnissen zu sehen, geht also fehl. Im Bereich der Ökonomie wiederum ist das Handeln des Propheten von Rationalität und Pragmatismus bestimmt.
Die komplizierte, politische und ökonomische Lage in der Region ließ für eine einseitige Politik sowieso gar keinen Raum. Die Erfolgsgeschichte des Islam, die zweifellos in Medina beginnt, hat zunächst mit der Beantwortung von sozialen, ökonomischen und politischen Fragestellungen und Herausforderungen in dieser Zeit zu tun.
In den Büchern über das Leben des Propheten kann man einige Berichte lesen, die sich in erster Linie um die Einrichtung sozialer Institutionen drehen. Sie haben zunächst nichts mit Politik, wohl aber mit den elementaren Bedürfnissen von Menschen zu tun. Nachdem der Prophet, Friede sei mit ihm, eine Moschee etabliert hatte, sah er ebenso die Notwendigkeit für einen eigenen Markt der Muslime. Der bereits bestehende Markt in Medina erlaubte Riba; darüber hinaus wurde dort auch Wein verkauft. Muhammad, Friede sei mit ihm, ging zu einem Ort in der Nähe des Marktes der Bani Qaynaqa und errichtete zunächst ein Zelt; als Symbol für den Ort, um den die Muslime sich künftig versammeln sollten, um zu kaufen und zu verkaufen.
Nachdem dieses Projekt zunächst am Widerstand des bisherigen Establishments scheiterte, ging er auf eine offene Fläche, kaufte das ganze Land von seinem Eigentümer, sprang mit beiden Füßen darauf und rief: „Das ist Euer Markt. Verweigert niemanden den Zugang darauf und erhebt dafür keinerlei Steuern.“ Tatsächlich zeigt sich in dieser Handlung bereits ein elementares Prinzip islamischer Ökonomie. Der Marktplatz war ursprünglich eine öffentliche, keine private Einrichtung. Zum Nutzen aller Händler und mit dem Anspruch verknüpft, keine monopolartigen Strukturen zuzulassen. Ähnlich wie in der Moschee, konnte kein Privilegierter auf dem Marktplatz eine Bevorzugung erwarten.
Es war wohl diese Relation zwischen Moschee und Markt – die Erfüllung von spirituellen und ökonomischen Bedürfnissen –, welche die Erfolgsgeschichte der islamischen Stadt in dieser Zeit ausmacht. Mit weiteren Innovationen im Bereich des Handels, des Marktrechts und der Vertragsgestaltung gelang es den ersten Muslimen, Medina in ein größeres Netzwerk von Handelsaktivitäten einzubeziehen. Die verpflichtende Zahlung der Zakat sowie die Einrichtung von öffentlicher Wohlfahrt sorgten für eine gerechte Verteilung des Reichtums, ohne aber den legitimen Erwerbstrieb der Menschen generell in Frage zu stellen. In der qur’anischen Offenbarung ist diese Maxime in der Sure Al Baqara (Sure 2, Vers 275) klar formuliert: „Allah hat den Handel erlaubt und Riba verboten.“ Der freie Handel wiederum, so stellte der Gesandte Allahs selbst klar, sorgt für einen Großteil der im Qur’an versprochenen Versorgung.
Wenn man davon ausgeht, dass dieses sozio-ökonomische Modell die erste Stadt der Muslime ausmachte, ist man versucht, auch heute nach Spuren dieser Zivilisation in der muslimischen Welt zu suchen. Natürlich findet man diverse Bauwerke und Einrichtungen in den historischen Stadtkernen in allen ihren großen Metropolen. In den Neubaugebieten islamischer Großstädte findet man allerdings meist nur noch Moscheen, aus dem Prinzip „Moschee und Marktplatz“ wurde schlicht „Moschee und Parkplatz“. Längst wurde das tradierte Prinzip islamischer Marktplätze durch große Einkaufszentren und Supermärkte ersetzt. Statt vielen kleinen Händlern beherrschen so einige globale Akteure den Markt. Ist das alte Modell also heute – im Rahmen moderner urbaner Entwicklung – nicht mehr tauglich?
Einige Jahrzehnte hätte man dem wohl zugestimmt. Allerdings gibt es – spätestens nach der Finanzkrise 2007 – wieder einen Trend in der muslimischen Welt, die früheren Einrichtungen in einem neuen Licht zu sehen. Gerade in Ländern wie Pakistan, Saudi-Arabien oder der Türkei, die ein enormes Bevölkerungspotential haben, wächst die Sorge über die Nachteile moderner Trabantenstädte. Es herrscht einige Sorge um die Nachhaltigkeit der heutigen Investitionen im Rahmen der typisch gewordenen Immobilienblasen.
In Pakistan hat nun der neue Regierungschef, Imran Khan, das Modell Medina wieder in die politische Sprache eingeführt. In den nächsten 20 Jahren wird das Land ein Bevölkerungswachstum von 100 Millionen zu verkraften haben und etwa 25 neue große Städte bauen müssen. Natürlich weiß der Premier, dass angesichts dieser Probleme ein romantischer Blick in die Vergangenheit nicht weiterhilft. Es bleibt eine Herausforderung, wie man den nächsten Generationen ein gutes Leben mit bescheidenem Wohlstand ermöglichen kann.
Daher versucht Khan, das Modell Medina wiederzubeleben und mit den Realitäten neuer Technologien zu versöhnen. Dabei könnte das frühere Modell von Moschee und Marktplatz – als Grundpfeiler einer islamischen Stadt – auch in den neuen Städten wieder eine Rolle spielen. Dabei gilt es natürlich, auch moderne Zahlungssysteme und virtuelle Handelsplattformen einzubeziehen.
Aber auch ein anderer Punkt ist für Khans politische Philosophie elementar: die Sorge um das Wohlergehen der unteren Schichten. Diese „Herzensangelegenheit“ prophetischen Wirkens, für die es in der Geschichte Medinas viele Beispiele gibt, ist für Khan ein zentraler Punkt einer neuen Politik. Auch er weiß: Gelingt es nicht, dem Modell Medina neues Leben einzuhauchen und den drängenden Bedürfnissen der Bevölkerung zu entsprechen, droht der Einfluss ideologischer und radikaler Parteien weiter anzuwachsen. Nicht zuletzt die richtigen Lehren aus der Geschichte der ­ersten Gemeinschaft zu ziehen, könnte vor dieser fatalen Entwicklung schützen.