
(iz). Am 15. Juli starteten Mitglieder des türkischen Militärs einen Putschversuch gegen die Regierung und Führung des Landes. Allerdings hatten sie im Gegensatz zu früheren Jahren die Bevölkerung, Teile des Militärs sowie die zivilen Sicherheitskräfte gegen sich. Bei dem – später gescheiterten – Putschversuch ging es alles andere als unblutig zu. 290 Menschen starben bei anschließenden Kämpfen und Protesten, 173 davon waren Zivilisten.
Auch wenn sich die militärische Lage beruhigt hat, werden die Nachwirkungen die Lage in der Türkei wohl auch in absehbarer Zeit beeinflussen. Kritiker der regierenden AKP und des Präsidenten befürchten den Weg in eine „zivile Diktatur“. In der Zeit nach dem gescheiterten Staatsstreich kamen mehrheitlich Kritiker der Erdogan-Regierung zu Wort. Wir sprachen mit dem Politiker und Juristen Mustafa Yeneroglu über seine Sicht der Dinge. Yeneroglu kam als Kleinkind nach Deutschland, wo er studierte und sich in diversen Projekten der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs engagierte. Seit 2015 ist er AKP-Parlamentarier im türkischen Parlament und leitet dessen Menschenrechtsausschuss.
Islamische Zeitung: Sehr geehrter Herr Yeneroglu, die Ereignisse vom Freitag, den 15. Juli in der Türkei haben weltweit für Aufregung gesorgt. Über die Vorgänge und ihre Interpretation wird ebenso weltweit gestritten. Wie würden Sie diese unseren Lesern zusammenfassen?
Mustafa Yeneroglu: Um die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei vernünftig einzuordnen, müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, welche außerordentlich große Gefahr für die Demokratie abgewendet wurde. 290 Menschen haben ihr Leben verloren und mehr als 1500 wurden verletzt. Die Putschisten haben neben der Zivilbevölkerung, die sich ihr beherzt entgegengestellt hat, allen voran die Organe der türkischen Demokratie angegriffen. Sonderkommandos hatten den Auftrag, den Staatspräsidenten zu exekutieren, Parlament und Sicherheitsbehörden wurden bombardiert. Teile der Armee haben zum Teil mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Panzern immer wieder das Feuer auf Zivilisten eröffnet. Dennoch sind weder die Bevölkerung noch ihre gewählten Repräsentanten einen Millimeter zurückgewichen. So konnte innerhalb weniger Stunden die öffentliche Ordnung wiederhergestellt werden und die Ermittlungsbehörden begannen, die Hintergründe dieses blutigen Umsturzversuches auszuleuchten. Derweil wacht die Zivilgesellschaft im Schulterschluss mit Politik und Sicherheitsbehörden über ihre Demokratie.
Islamische Zeitung: Gleichermaßen Uneinigkeit herrscht in der Benennung der Verantwortlichen. Wie stellt sich die Faktenlage aus Sicht der Regierung dar?
Mustafa Yeneroglu: Seit vergangenen Freitag arbeiten die Ermittlungsbehörden mit Hochdruck daran Putschisten, ihre Hintermänner und die Helfershelfer in Bürokratie, Sicherheitsbehörden, und Justiz dingfest zu machen. Beschlagnahmte Dokumente und Zeugenaussagen der Verdächtigen geben Aufschluss über das Ausmaß des Komplotts und die personellen Verwicklungen. Im Übrigen wurde schon vor Jahren jeder Art von kriminellen Parallelstrukturen im türkischen Staatsapparat der Kampf angesagt. Alle Bereiche des Staatswesens haben Ermittlungs- und Disziplinarverfahren gegen Bedienstete angestrengt, deren pflichtgemäße Loyalität nicht dem türkischen Staat, sondern außerstaatlichen Strukturen galt. Wie wir jetzt wissen, wollte man mit dem blutrünstigen und niederträchtigen Putsch dem Eingreifen des Staates zuvorkommen.
Islamische Zeitung: Nicht nur die Parteien der Türkei stellten sich auf die Seite der Regierung, auch weite Teile der Bevölkerung nahmen – ganz handfest noch in der Putschnacht – aktiv Anteil an der Verhinderung des versuchten Staatsstreichs. Ist das nicht – angesichts der hiesigen Aufrufe zur aktiven Partizipation – ein optimistisch stimmendes Zeichen für die türkische Zivilgesellschaft?
Mustafa Yeneroglu: Die türkische Bevölkerung hat mit ihrer beispiellosen Zivilcourage und Opferbereitschaft bereits ein Denkmal gesetzt und Geschichte geschrieben. Über alle politischen und ideologischen Grenzen hinweg haben sie sich ausnahmslos überall in der Türkei auf die Straßen und Plätze begeben, wohlwissend, was sie erwarten würde, wenn die skrupellosen Putschisten Erfolg gehabt hätten.
Islamische Zeitung: Während die Putschnachwehen abklingen, dominieren sicherheitspolitische Aspekte beziehungsweise die anlaufende Strafverfolgung. Wäre jetzt nicht zeitgleich der Augenblick, gefährliche Differenzen und Risse in der Gesellschaft durch eine versöhnliche Politik aufzuheben?
Mustafa Yeneroglu: Jetzt, da die öffentliche Ordnung wieder hergestellt ist, reagiert der Staat gemäß seiner verfassungsmäßigen Ordnung. Gemäß Artikel 120 der türkischen Verfassung hat er nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, den Ausnahmezustand aufzurufen. Es geht darum, gegen den brutalen Übernahmeversuch des Staates mit allen Möglichkeiten des Rechtsstaates zügig zu reagieren und damit die Demokratie und die Freiheitsrechte in der Türkei zu schützen sowie zu stärken. Dies bedarf Maßnahmen, die im gewöhnlichen Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen würden. Durch die Abkürzung des Gesetzgebungsverfahrens wird die Handlungsfähigkeit der Führung gestärkt, ohne dem Parlament seine Aufsichtspflicht vorzuenthalten. Darauf legen wir besonderen Wert. Es muss aber schnell und zielgerichtet gehandelt werden. Selbstverständlich kann ich die Sorgen vieler Menschen nachvollziehen. Aber der Ausnahmezustand ist gerade die Antwort auf diese Sorgen. Außerdem wird es in der Meinungs- und Versammlungsfreiheit keine Einschränkungen geben. Die Menschen werden in ihrem Alltag von den eingeleiteten Maßnahmen nichts spüren.
Islamische Zeitung: Es wurden nach dem Scheitern des Putsches Befürchtungen laut, wonach der versuchte Staatsstreich eine Vorlage für eine weitere Festigung der Macht von Regierung und AKP darstelle. Dementsprechende Titel kursierten ja schon in Massenmedien. Können Sie solche, bis ins Verschwörungstheoretische reichende, Kolportagen entkräften?
Mustafa Yeneroglu: Für meinen Geschmack fallen in diesem Zusammenhang viel zu oft die Begriffe „dilettantisch“ und „stümperhaft“ bei der Berichterstattung über einen niederträchtigen Coup, der beispiellos in seiner Brutalität war. Unüberhörbar ist aber der nicht hinzunehmende „Unterton“ einer vorgeblichen Inszenierung, wohlwissend, dass es dafür nicht den Hauch eines Indizes gibt. Man enthält der Öffentlichkeit die eigentlich wirkmächtigen Bilder und Emotionen der vergangenen Tage vor. Stattdessen fokussiert man die Debatte auf marginale Übergriffe auf die Putschisten oder auf die Forderung der Bevölkerung, noch unter dem massiven Eindruck der Gewalt, deren Zeuge sie wurde, wieder die Todesstrafe einzuführen. Teilweise kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere in der aktuellen Berichterstattung auch eine gewisse Enttäuschung darüber mitschwingt, dass gewählter Präsident und die Regierung nach wie vor im Amt sind. Auch wenn diese Ignoranz irritiert, wirklich überraschend ist sie dann doch nicht. Der Umgang der deutschen Medien und Politik mit dem Putsch in Ägypten hat uns doch schon vor Jahren vor Augen geführt, dass die Wertegemeinschaft, von der immer die Rede ist, ab ihren Außengrenzen mit anderen Maßstäben hantiert und sich durchaus auch mit Putschisten arrangieren kann, wenn es denn den eigenen Interessen nützt.
Islamische Zeitung: Wie sieht es in dem Kontext mit der angeblich erwähnten Wiedereinführung der Todesstrafe oder der Massenentlassung von Richtern und anderen aus? Spielt das den überzeugteren Kritikern der Regierung und Ihres Landes nicht direkt in die Hände?
Mustafa Yeneroglu: Obwohl eine parlamentarische Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe noch nicht einmal begonnen hat, baut sich derzeit eine Drohkulisse auf politischer Ebene auf, die nicht hinnehmbar ist. Ob eine Verschärfung der Gesetzgebung im Angesicht der besonderen Brutalität der Putschisten verschärft werden muss, wird Gegenstand unserer Beratungen im Parlament sein. Es sei aber die Anmerkung erlaubt, dass die Türkei eben keine Bananenrepublik ist, sondern ein demokratischer Rechtsstaat. Er ist an seine Rechtsnormen gebunden und wird innerhalb der Grenzen dieser Normen agieren. Hartnäckige Kritiker wird keiner der Schritte unserer Regierung überzeugen. Gleichwohl müssen auch diese sich fragen lassen, ob sie sich von ihrer Aversion gegen den Staatspräsidenten und die Regierung nicht verleiten lassen, existenzielle Gefahren für die türkische Demokratie bewusst kleinzureden.
Islamische Zeitung: Seit einiger Zeit wird die deutschtürkische und die deutschmuslimische Community durch Konflikte in und über die Türkei aufgeheizt. Sehen Sie die Gefahr, dass dieser Putschversuch das noch einmal beschleunigen wird? Wenn ja, wie könnte dem entgegengewirkt werden?
Mustafa Yeneroglu: Auch die außerhalb der Türkei lebende Zivilgesellschaft ist noch in der Nacht des Umsturzversuches vor die Vertretungen der Türkei geströmt und hat friedlich für die Wahrung der Demokratie demonstriert. Damit es auch weiterhin so friedlich bleibt, sind wir alle in der Pflicht, wachsam zu bleiben und Provokateuren keine Chance zu geben. Bei allem Verständnis für das vitale Interesse an den politischen Entwicklungen in der Türkei, dürfen wir aber die Themen, die unseren Alltag hier betreffen nicht aus dem Fokus verlieren. In diesem Sinne können wir uns eine weitere Spaltung der Gesellschaft gar nicht leisten, weil NSU Terror, wachsender Rassismus und Islamophobie uns gleichermaßen bedrohen. Darüber hinaus muss uns allen daran gelegen sein, auch zur Entspannung in den Beziehungen zur Türkei beizutragen. Dabei kommt der deutsch-türkischen Freundschaft eine besondere Schlüsselrolle zu. Sie muss das Fundament sein, um aus der Spirale gegenseitiger Beschuldigungen und Mutmaßungen herauszubrechen und uns wieder gemeinsam, angefangen bei der Lösung der Syrienkrise, der Flüchtlingsproblematik bis hin zur Integrationspolitik, den Herausforderungen unserer Zeit zu widmen.
Islamische Zeitung: Lieber Mustafa Yeneroglu, wir danken Ihnen für das Gespräch.