
Kurz vorm Jahreswechsel ertönt der Ruf zum Gebet an einem regnerischen Abend. Zu hören ist der Adhan nicht in einer vielen Berliner Moscheen und Gebetsräume, sondern im Innenhof eines Vierseitenhofs, der im „Speckgürtel“ der Hauptstadt liegt. Die Gäste kommen zum Nachtgebet und zu einem Abend des Dhikr. Sie stammen aus verschiedenen Ortschaften von Brandenburg, Berlin und benachbarten Regionen.
(iz). Die nahegelegene Metropole nimmt beim Thema einen solch großen Raum der Vorstellung ein, dass die Existenz von Muslimen und ihrer Gemeinden im Umland in den Hintergrund gerät. Unbeachtet von vielen – auch größeren Gemeinschaften der Hauptstadt – leben sie hier spätestens seit der Wiedervereinigung. Für die meisten in Berlins Kiezen galt Brandenburg lange als dunkler Fleck – was teils am anschwellenden Rechtsextremismus lag.
Wenn überhaupt besuchten sie die Region als Ausflügler oder bei Veranstaltungen. Dabei hat Islam in Deutschland durchaus illustre Wurzeln in dem Gebiet. Bereits vor 250 Jahren lebten Muslime auf seinem heutigen Territorium. Und 1915 in Wünsdorf bei Zossen wurde die erste eigentliche Moschee auf deutschem Boden errichtet.
Die ersten kamen mit dem Mauerfall
Die frühen, zumeist einzelne Abenteuerlustige, kamen mit dem Mauerfall. Sie verkauften begehrte „Westware“ auf Wochenmärkten, eröffneten Imbisse oder Restaurants und gründeten in Folge Niederlassungen im Berliner Umland; entweder, weil Gewerbemieten vergleichsweise niedrig waren oder es größere Flächen gab. In den 1990er Jahren entstanden vereinzelte Moscheegemeinden im Bundesland.
Einen Schub bekam das südliche Umland, als beispielsweise ab 1999 in der Landeshauptstadt Potsdam eine neue Gemeinschaft – aus „Konvertiten“ und „gebürtigen“ Muslimen – wuchs, und in den Folgejahren großen Zulauf erfuhr. In den 2000er Jahren kam eine wachsende Zahl von Studentinnen und Studenten hinzu, die Alternativen zu Hochschulen der Hauptstadt suchten. Manch Häuslebauer erwarb zwischen Havel und Spree Baugrundstücke beziehungsweise Immobilien, was in Berlin längst kaum eine bezahlbare Option ist.
Lange in Vergessenheit
Lange interessierten sich wenige für die brandenburgischen Muslime. Bleibende Gemeinschaften gab es nur in Städten wie Potsdam, Frankfurt/Oder, Cottbus oder Brandenburg. Das sollte sich mit den Jahren 2015 und 2016 ändern. Nicht unterschätzt werden darf dabei der große Schub, den der „Speckgürtel“ durch den im Vergleich erheblichen Zuzug von Geflohenen erfuhr. In den letzten Jahren nahm das Bundesland zwischen 25.000 und 40.000 Geflüchtete auf; eine Mehrheit kam aus der islamischen Welt.
April 2017 sagte die Landesintegrationsbeauftragte Lemmermeier: „Der Organisationsgrad der Muslime in Brandenburg ist sehr unterschiedlich. Wie es auf dem Land, im ländlichen Raum aussieht, darüber wissen wir kaum etwas. Wir hören verstärkt von kleineren Städten, dass sich Gemeinschaften bilden: in Senftenberg und Luckau zum Beispiel.“ Aus diesem sprunghaften Anstieg ergebe sich die Notwendigkeit, dass die länger ansässigen Muslime sich mit den Neuankömmlingen verständigten.
In den Jahren 2017 und 2018 wollten Forscher der Universität Potsdam unter Leitung des Religionswissenschaftlers Prof. Dr. Johann Hafner den vorher geringen Wissensstand zur Lage verbessern. Im Auftrag des zuständigen Ministeriums (MWFK) ging ein Forschungsteam „unter die Leute“. Ihnen war es dabei wichtig, keine Einzelpersonen zu befragen, „sondern zu untersuchen, wie sich muslimische Gemeinden entwickeln“. Die größte Dichte bei den Freitagsgebeten fände sich in Potsdam (400-500 Teilnehmer) und Cottbus (300-500).
Den meisten Gemeinschaften fehlen Räume
Bei der Erhebung der Daten seien laut Hafner „zwei große Probleme“ zu Tage getreten. Zum einen würden den meisten Moscheegemeinschaften angemessene Räume fehlen – für Gebet und soziale Aktivitäten. Außer einer kleinen Minderheit gäbe es keinen eigenen Immobilienbesitz. Darüber hinaus fehle häufig das entsprechende Personal zur mittel- und langfristigen Leitung der Arbeit. „Die Zukunft von muslimischen Gemeinden hängt demnach entscheidend davon ab, ob es genügend Imame gibt, die der Moscheegemeinde vorstehen und die Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft pflegen.“
Dieser Aspekt betrifft nicht nur das Bundesland Brandenburg, sondern den Großteil des muslimischen Gemeindelebens in Ostdeutschland. Lange wurden Moscheen beziehungsweise Gebetsräume – mit Ausnahmen von Ballungsräumen wie Rostock, Leipzig oder Dresden – von Studenten und Geflohenen getragen, was langfristige Strategien verunmöglichte. Zum Stand des religiösen Lebens veröffentliche die Universität Leipzig einen Reader.
Im Vergleich: Westdeutschland hat ca. die doppelte Fläche und vier Mal so viele Einwohner. Der geringste muslimische Anteil entfällt auf Sachsen (0,6 Prozent), der größte auf Sachsen-Anhalt (1,1) und Thüringen (1,0). Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern liegen dazwischen. Diese Zahlenverhältnisse wirken sich auf die Anzahl von Gemeinschaften aus: Während „gut 50 Moscheevereine“ in allen ostdeutschen Bundesländern existieren sollen, seien es alleine in Baden-Württemberg fast 600.
Nicht nur Nachteile
Die vorliegende Gemengelage hat nicht nur Nachteile. Was viele Communitys zwischen Erzgebirge und Ostsee unterscheidet, ist der Fakt, dass nicht jede „noch so kleine ethnische beziehungsweise sprachliche Gruppe (…) ihre eigene Moschee auf die Beine“ gestellt habe. Ähnlich wie in manchen westdeutschen Kleinstädten oder abgelegenen Ortschaften zwingen die Tatsachen ostdeutsche Muslime dazu, den innewohnenden Drang zur ethnischen Abgrenzung und Volkstümelei zu überwinden. „Dieser Umstand prägt die gemeinsame Verkehrssprache Deutsch (…) und das kulturell-religiöse Leben im Osten deutlich anders als im Westen“, schreibt Ayşe Almıla Akca.
Sie zitierte den Vorstandsvorsitzenden eines kleinen Moscheevereins vor den Toren Berlins. Demnach sei es schwierig, die Gemeinde zu betreiben. Die allermeisten Mitglieder seien relativ neu in Deutschland und das Vereinswesen für viele noch fremd. Trotz einem unklaren Aufenthaltsstatus für viele, Mittelmangel und den individuellen Hürden bei der eigenen Beheimatung wäre ein Großteil motiviert. Wie andere habe der Verein bei Moscheen und Geschäftsleuten im benachbarten Berlin um Hilfe angefragt. Allerdings hätten die meisten der Moscheegemeinden in der Hauptstadt wegen ihrer Beschränkungen „kaum hilfestellend“ wirken können.
Ansätze zur Verstetigung
Ein Ansatz zur Verstetigung des Gemeinschaftslebens im Bundesland und besseren Informationen ist die 2017 gegründete Fachstelle Islam im Land Brandenburg. Getragen wird sie vom RAA Brandenburg. Sie versteht sich als „Ansprechpartnerin für staatliche und nicht-staatliche Einrichtungen“ und bietet Fortbildungen zum Thema „Islam“ an. Zu den Schwerpunkten gehören: Gemeindeleben, Informationen zu Geschichte, Religion, Kultur und Herkunftsländer, Prävention von Radikalisierung und Extremismus sowie Beratung von Einzelnen und Gemeinden. Zusätzlich hat die brandenburgische Landesregierung ihr Integrationskonzept angepasst, die meisten Landkreise und kreisfreien Städte zogen nach.
Laut dem Autorenduo Schliephack und Yaldiz in der Leipziger Anthologie sähen sich insbesondere Muslime im ländlichen Raum „mit mehreren Herausforderungen“ konfrontiert. Trotz vieler lokaler Initiativen und Vereine vor Ort würden Geflüchtete „von einem Defizit an Kontakten zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft“ sprechen. Es fehle zusätzlich an nahegelegenen Gebetsräumen sowie Angebotenen für „Halal-Lebensmittel“. Hinzukämen die allgemeinen Alltagsprobleme von Flüchtlingen und Diskriminierungserfahrungen.
Das sind berechtigte Zustandsbeschreibungen. Das andere ist, dass gerade im Berliner Umland längst diverse Ansätze und Angebote wachsen. Insbesondere weil die für westdeutsche Ballungsräume nicht unübliche Struktur ethnisch oder weltanschaulich verorteter Gemeinden fehlt, sind Aktive von Anfang als Netzwerker innermuslimisch sowie zur Zivilgesellschaft unterwegs. Wenn beispielsweise in Potsdam die lokale Moscheegemeinde seit Jahren beim Freitagsgebet aus allen Nähten platzt, dann lassen sich Herausforderungen wie diese nur durch eine aktive Kommunikation aller Stakeholder meistern. Mittlerweile hat sich auch mit Hilfe der Stadt ein größeres Domizil gefunden.
Beispiel Ludwigsfelde
Ein anderes Beispiel ist das elf Kilometer vor Berlin gelegene Ludwigsfelde. Nahe der Kleinstadt liegt eine Fertigung von Mercedes Benz, in der einige Neu-Brandenburger Arbeit gefunden haben. Längst leben hier so viele Muslime, dass es einen Bedarf an Räumen für ein regelmäßiges Freitagsgebet gibt. Wie uns lokale Aktivisten mitteilten, sei man mit Ansprechpartnern im Gespräch, ein Objekt für diesen Zweck zu nutzen. Eine entsprechende Anfrage sei bereits gestellt worden.
Ebenfalls aktiv ist das 2021 gegründete Muslimas Netzwerk Brandenburg. Eingerichtet wurde es von engagierten Musliminnen aus verschiedenen Städten des Bundeslandes. Sie wollen „die Gesellschaft mitgestalten“ sowie eine wichtige Funktion bei der Integration spielen und bauen „Brücken zur Aufnahmegesellschaft“. Zu seinen Zielen gehört unter anderem: Unterstützung der Eigeninitiative muslimischer Frauen, gesellschaftliche Beteiligung, politische Bildung und Engagement sowie „Empowerment für muslimische Frauen“. Zu den Partnern zählen das RAA Brandenburg und die Fachstelle Islam. In Kooperation mit der Deutschen Islam Akademie (DIA) und einem lokalen Verein bietet das Netzwerk ab August dieses Jahres eine Seelsorgeausbildung für Interessierte an. Das Angebot richtet sich an Menschen, die ehrenamtlich und nebenberuflich seelsorgerliche Gespräche führen. Am Ende soll in Potsdam ein mehrsprachiges Seelsorgeangebot verstetigt werden.
Berlin und sein Umland sind historisch, wirtschaftlich, politisch und demografisch nicht voneinander zu trennen. Alltäglich überqueren Unzählige die Stadtgrenzen von und zur Arbeit. Auch die muslimische(n) Community(s) ist/sind von diesem „kleinen Grenzverkehr“ nicht ausgenommen. Es ist deutlich realitätsnäher, von „Islam in Berlin“ nicht nur als Phänomen einiger Kieze zu denken, sondern als etwas viel Größeres.