Sind wir unpolitisch? Muslime gehören zweifellos zu den Stützen der Gesellschaft

Ausgabe 336

Politik Muslime
Wegen des jetzigen Wahlsystems werden für die neue Legislaturperiode neue Plätze geschaffen. Migranten und andere beklagen, dass derzeit sie nicht genug davon einnehmen werden. (Foto: Deutscher Bundestag, Felix Zahn, photothek)

Von Muslimen geprägte Politik muss in die Zukunft weisen, ohne ihre  Traditionen vollständig aufzugeben.

(iz). Im letzten Jahr veröffentlichte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu ein wichtiges Buch: „Bewältigung“. In der schonungslosen Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit besucht ein „Autor“, der ein Buch über Hitler schreiben will, die Originalschauplätze der deutschen Geschichte. In Bayreuth oder Dachau wird ihm der ganze Wahnsinn der Rassen-Ideologie und der Abgrund der Judenverfolgung bewusst.

Langsam verliert sich der Protagonist in der Sprache des Unheils und muss sein Experiment schließlich abbrechen. Sein deutsches Umfeld zeigt sich ignorant. Ein Freund des Autors spricht es aus: „Nicht Deine Geschichte! Dafür bist Du nicht zuständig! Mach doch was über deine Leute!“

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Muslime, die sich als Teil der Gesellschaft sehen

Für den muslimischen Leser, der seine Zuständigkeit anerkennt und sich als Teil der deutschen Gesellschaft sieht, ist das Werk ein guter Ausgangspunkt, um über den von Erfahrung geprägten Umgang mit dem Politischen nachzudenken. Die Lehre ist simpel: Was immer Islam ist – eine Religion, eine Lebenspraxis oder eine soziologische-ökonomische Ordnung –, niemals darf diese Haltung zu einem politisch-ideologischen System mutieren.

Dass der Islam keine Ideologie ist, gehört zu dem Grundverständnis ausgeübter Religion. Argumentiert man so in der Debatte mit Muslimen, wird oft die Gegenfrage gestellt: Sind wir Muslime denn ganz unpolitisch?

Die Antwort kann nur sinnvoll ausfallen, wenn die Differenzierung zwischen politischem Einsatz und ideologischer Verbohrtheit gelingt. Das Zusammenspiel muslimischer Praktiken und die Idee eines geschlossenes Systems schließen sich aus.

Muslime sind verbunden

Auf der anderen Seite haben Menschen, die wie die Muslime durch ein soziales Band verknüpft sind, eine politische Dimension. Sie nehmen – zumindest im Idealfall – wie alle anderen Gruppen der Gesellschaft gleichberechtigt an der Debatte und der politischen Willensbildung teil.

Kaum wie eine andere sprachliche Konstruktion beherrscht der Begriff des politischen Islam das Bild der Muslime in Deutschland. Die Untaten muslimischer Terroristen in Europa, die Angst und Schrecken als Teil ihrer Agenda ansehen, hat dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. Das kann in der Öffentlichkeit so weit gehen, dass jeder Versuch von Gläubigen einer Selbstorganisation unter einen politischen Verdacht fällt.

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Bezeichnenderweise sind viele Muslime froh, dass die größten Krisen der letzten Jahre, die im Zusammenhang mit Umwelt, Gesundheit und Krieg stehen, sie zeitweilig aus dem Fokus der Berichterstattung genommen hat.

Gibt es eine positive Rolle?

Es ist an der Zeit, die politische Rolle der Muslime positiv zu formulieren. Fakt ist, die Verschwörungstheorie rund um die angebliche Islamisierung Europas hält einer sachlichen Überprüfung nicht stand.

Es mag einzelne Gruppen geben, die über die Idee eines europäischen Gottesstaates fantasieren oder sich in politische Parallelgesellschaften flüchten, der großen Mehrheit der Muslime mangelt es eher an sichtbarer und akzeptierter Teilnahme im politischen Feld. Die Machtausübung im Sinne einer feindlichen Übernahme findet nur im ewigen, biopolitisch geprägten Feindbild rechtskonservativer Kreise statt. 

In den letzten Jahren erringen eine größere Zahl gut gebildeter Muslime und Muslimas berufliche Spitzenpositionen. In den Parlamenten und anderen repräsentativen Einrichtungen ist ihre Zahl dagegen überschaubar. Dieses Missverhältnis ist es, was auf Dauer Sorge macht.

Viele junge Muslime könnten sich in ein permanentes Außenseitertum verabschieden, ihre Motivation verlieren, statt in den gesellschaftlichen Prozessen aktiv teilzunehmen. Die Demokratie ist gut beraten, sich um dieses Klientel zu kümmern und ihnen Wege der Partizipation aufzuzeigen.

Probleme eines gesonderten Engagements

Natürlich ist es für Muslime so legitim wie naheliegend, sich in politischen Parteien einzusetzen. Diese Option stößt auf zwei Schwierigkeiten. Zum Einen sind die Parteien nicht sehr bemüht, dass VertreterInnen der muslimischen Community auf ihren Wahllisten auftauchen.

Zum anderen gibt es wohl keine Partei, der es gelingt, wesentliche Überzeugungen der muslimischen Wählerinnen umfassend abzubilden. Die Dialektik zwischen Liberalen und Konservativen ist überholt, Muslime sind, um nur ein paar Beispiele zu nennen, in der Familienpolitik konservativ, im ökonomischen Interessenfeld liberal und in gesellschaftlichen Fragen solidarisch.

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Hin und wieder taucht in Deutschland die Utopie einer islamischen Partei auf. Diese Absicht wäre demokratiepolitisch legitim, besonders chancenreich ist sie zumindest auf der nationalen Ebene nicht. Real ist die Option, auf kommunalpolitischer Ebene erfolgreich Politik zu gestalten.

Muslime fehlen auf europäischer Ebene

Bedauerlich ist die fehlende Präsenz auf der Ebene der Europäischen Union, wäre es doch die europäische Idee, die eine große Mehrheit der Muslime gegenüber dem Rückfall in alte Nationalismen bevorzugen. Es sind hier die antiquierten ethnischen Trennungen und weniger eine gesellschaftliche Intrige der anderen, die einer europäisch-muslimischen Bürgerliste die Aussicht auf Erfolg nehmen.

Zweifellos vertritt der Islam moral-ethische Maximen, deren Umsetzung Politik erfordert. Dieser Ansatz wird besonders in der Außenpolitik deutlich. Viele Muslime sind von Erfahrungen geprägt, die mit ihrer Herkunft oder Familienbeziehungen zusammenhängen.

Sie beklagen Doppelstandards im Umgang mit der muslimischen Welt. Sie sind aber auch politisch gebildet, schätzen die Idee freier Meinungsäußerung hierzulande. Es fällt ihnen durchaus auf, dass viele sogenannte islamische Staaten über gar keine Standards verfügen. 

Es gibt ja kein Zweifel, dass in Deutschland NGOs und muslimische Gemeinschaften sich frei entfalten können und ihren Einfluss der Zahl ihrer MitgliederInnen entsprechend ausbauen. Warum sollte dies ein Grund für Hysterie sein? Der politische Einsatz für die Ziele der Muslime, auch wenn sie Kontroversen anstoßen, darf weder ein Tabu sein noch der Sicherheit des Schweigens weichen.

Zakat

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Was sind unsere Themen?

Themen, zum Beispiel im Dialog mit der Regierung, gibt es genug. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: die Zakatnahme und die zunehmend lokale Verteilung in Deutschland wirft steuerpolitische Fragen zum Beispiel für die Empfänger dieser Sozialleistung auf. Daneben gehört es längst zum Konsens, dass Imame besser die Sprache des Landes sprechen, in dem sie wirken wollen.

Wie für alle anderen Religionen misst sich die Relevanz einer Überzeugung unter anderem daran, ob sie in wichtigen politischen Fragen Antworten anbietet. Politisches Denken agiert in Europa seit Jahrhunderten nicht völlig losgelöst von metaphysischen Einflüssen.

Muslimisch geprägte Politik muss in die Zukunft weisen, ohne ihre Traditionen vollständig aufzugeben. Wer aus der Religion heraus die Grenzen der Technik definiert, die Bewahrung der Schöpfung anmahnt oder die Ethik der Geldproduktion hinterfragt, wird in diesen Debatten Gehör finden. Dann wird auch klar, dass der Islam mit den Begriffen des Politischen nicht vollständig erfasst werden kann.