Nach Solingen: Mevlüde Genç ist eine große Heldin Deutschlands

(iz). Der Brandanschlag von Solingen am 29. Mai 1993, der nur ein halbes Jahr nach dem Anschlag von Mölln stattfand, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte. In der grausamen Szenerie starben fünf Menschen, 17 andere wurden teilweise schwer verletzt. Die Täter waren Rechtsradikale, sie waren Terroristen. Terroristen, die bewusst das Haus angriffen, in denen türkischstämmige Familien lebten.

Mevlüde Genç überlebte. Ein großer Teil ihrer Familie nicht. Die fünf Toten waren ihre Zöglinge. Zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Das Ereignis gäbe eigentlich Anlass, ein Stück des Herzens sterben zu lassen. Mevlüde Gençs Herz aber lebte weiter und spendete bedrohten Herzen Liebe. Auf der Gedenkfeier zum 25. Jahrestags des Anschlags erzählt die Mutter von ihrem Schmerz, wie sie nachts geweint und tagsüber dann ihre Familie angelächelt habe, damit der „Hass keinen Eingang in ihre Herzen findet”.
Solingen ist ein Schandfleck, ein Brandmahl in der Geschichte. Auch Armin Laschet (CDU), der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, erkennt das, wenn er bei der Gedenkfeier sagt: „Für das, was vor 25 Jahren geschehen ist, gibt es keine Entschuldigung.” Neben ihm sind viele gekommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält ein kurzes Gedenkwort. Viel sagt sie nicht, wahrscheinlich kann sie es auch nicht. Sie geht hart ins Gericht mit dem vergifteten Klima, das damals herrschte und heute auch erkennbar ist. Sie warnt davor, Tabubrüche zuzulassen. Bundeskanzlerin Merkel spricht Mevlüde Genç ihre tiefe Bewunderung aus und erkennt die „Schande für unser Land” an. In ihrer Gegenwart schwingt Reue mit dafür, dass 1993 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) der Trauerfeier fernblieb.
Auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu ist anwesend. Er plädiert für „eine Botschaft des Zusammenhalts” und sieht diese durch Mevlüde Genç verkörpert. Deutsche und Türken müssten „in Einheit der Plage des Rassismus entgegenstehen”, so Çavuşoğlu. Seine Worte sind herzlich. Mehrmals äußert er sich lobend gegenüber Bundeskanzlerin Merkel für ihre Anwesenheit und das damit verbundene Engagement. Verbindend sagt er: „Auch alle unsere deutschen Freunde spüren diesen Schmerz.“
Es ist wohl wahr. Wer Mevlüde Genç zuhört und sich das Verbrechen vor Augen führt, fühlt Schmerz. Ihre bloße Präsenz aber wirkt dabei wie Balsam. Die Muslimin ist in unserer von Populismus geplagten Gesellschaft wie die beruhigende Erinnerung an die Schönheit des zwischenmenschlichen Vertrauens. Sie baut Brücken aus der Asche ihres Zuhauses. Die Gedenkveranstaltung allein ist schon Beispiel dafür. Die Regierungen Deutschlands und der Türkei waren sich lange nicht mehr so nah. In Einigkeit gegen Hass finden sie unter Genç eine Sprache, die über Politik hinaus geht. Eine Sprache, die man im ständigen Breaking-News-Rummel vermisst.
Mevlüde Gençs Worte sind wie Gedichte, die es verdient haben, über Jahrhunderte zu überbleiben und Teil unserer Geschichte zu sein. Die 75-Jährige ist erhaben über Hass. Über jenen des schrecklichen Anschlags und über jenen, der bis heute andauert. Denn Stimmen, die sich der Trauer und der Verurteilung verweigern waren immer da und sind es jetzt noch. Konstant hörte man Vorwürfe gegen die Familie Genç, den Anschlag inszeniert zu haben und aus dem Anschlag nur Geld erzielen zu wollen.
Auch Versuche der Relativierungen, es handle sich nicht um einen rechtsextremen Anschlag, verstummen nicht. Erst kürzlich behauptete die AfD Solingen, der Fall werde „ideololisch ausgeschlachtet”. Der Fall solle nur von „misslungener Integration in Deutschland“ sowie „Schandtaten von Seiten gewisser Migranten“ ablenken. Hass. Hass, der in Vorurteilen, Kriminalisierung und Relativierung seinen Weg in die Tiefen des Mainstreams fand. Hass, der an Verschleierungen in den NSU-Fällen erinnert. Wohl passend ist die Anmahnung Çavuşoğlus, der NSU-Komplex solle schnell und vollständig aufgeklärt werden.
Und selbst wenn es viele Gründe dagegen gebe, beteuert Mevlüde Genç ihr Vertrauen in die deutschen Behörden. Auch im Fall Solingen habe der Verfassungsschutz laut Recherchen des ARD-Magazins Frontal unklar gearbeitet und Verbindungen der Täter in die Neonazi-Szene nicht weiter untersucht. Mevlüde Genç bleibt erhaben. Sie nennt Armin Laschet „Bruder” und nimmt Angela Merkel an der Hand. Sie appelliert an das Bewusstsein, dass wir alle Geschöpfe des gleichen Schöpfers sind und wie Geschwister leben sollten. Sie spendet Liebe, die Hoffnung schenkt und Wege ebnet, denen man bedingungslos und zuversichtlich folgen kann und möchte.
Längst fällig und doch erfreulich ist die Ankündigung Laschets, es werde nun eine Verleihung einer „Mevlüde-Genc-Medaille” für Versöhnung geben. Mit 10.000 Euro soll die neue Ehrung dotiert sein. Der Ministerpräsident hat dafür eigens einen Satz auf Türkisch einstudiert: „Liebe lässt den Menschen leben”. Die Worte Mevlüde Gençs.
Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und des Verdienstordens des Landes NRW ist zweifelsohne eine Heldin Deutschlands. Ihre neue Heimat verließ sie trotz der schmerzlichen Erfahrung nicht, nein, sie blieb ihr als Lehrerin erhalten. Als lehrende Mutter, die aus dem Herzen spricht. In einer Weise, die jedem verständlich ist, egal ob er der Sprache mächtig ist oder nicht.