Organisation irakischer Turkmenen: „Irak und Syrien stehen vor einer Dreiteilung“

(Eurasianews). Im Interview mit Eurasia News äußert sich Dr. Ali al-Bayati, der Gründer der Turkmen Rescue Foundation Iraq, kritisch über die Rolle der internationalen Gemeinschaft mit Blick auf die bedrängte turkmenische Community im Irak. Aber auch mit der Antiterrorpolitik der Türkei ist er nicht glücklich.

Eurasia News: Wo wird die turkmenische Minderheit im Irak in zehn Jahren stehen?

Dr. al-Bayati: Der Irak befindet sich in einer tragischen, um nicht zu sagen unglaublich schlechten, Lage. Vor allem aber den Turkmenen geht es seit dem Ansturm des selbsternannten „Islamischen Staates“ im letzten Jahr dahingehend schlecht, weil sie, anders als die Kurden und die mehrheitlich schiitisch geprägte Zentralregierung in Bagdad, keine internationale Unterstützung erhalten. Wir erwarten daher nicht viel von unserer Zukunft als weiter vom IS, der Regierung in Bagdad und der „Autonomen Kurdenregion“ in Erbil unter Druck gesetzt zu werden.

Eurasia News: Worauf läuft die politische Situation im Irak hinaus, der seit dem Sturz von Saddam Hussein durch die Invasion der USA im Jahr 2003 nicht mehr zur Ruhe kommen möchte?

Dr. al-Bayati: Lassen sie mich das ganz ehrlich beantworten: Wir befürchten, dass die Situation auf eine Dreiteilung des Landes hinausläuft. Die konfessionellen und ethnischen Spannungen sind seit Jahren erheblich. Der Einmarsch des „Islamischen Staates“ Anfang Juni 2014 in Mosul hat die Stimmungen nochmals drastisch aufgeheizt. Ein Miteinander ist nur noch schwer denkbar, zudem hegen die Kurden des Nordirak, die mittlerweile auch wichtige turkmenische Siedlungsgebiete der Turkmenen mittels ihrer Peshmerga-Milizen besetzt halten, ohnehin Unabhängigkeitsambitionen.

Eurasia News: Was denken Sie über die Lage in Syrien? Auch dort lebt eine signifikante Minderheit von bis zu drei Millionen Turkmenen im Land…

Dr. al-Bayati: Im Falle Syriens gibt es aktuell keinen Anlass, optimistischer über die territoriale Integrität des Landes zu denken.

Eurasia News: Wie hat sich die Gründung der US-geführten Anti-IS-Koalition im Irak auf die Wahrnehmung der Turkmenen, womöglich als Partner im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz, ausgewirkt?

Dr. al-Bayati: Unsere Lage blieb auch nach der Gründung prekär. Es hat sich nicht wirklich viel für die Turkmenen des Irak geändert. So sind die meisten mehrheitlich von Turkmenen besiedelten Orte, darunter die Städte Tell Afar, Schrikhan, al-Kobba in der Provinz Mosul und Baschir in der Provinz Kirkuk nach wie vor unter IS-Einfluss.

Eurasia News: Inwiefern unterstützt die Türkei, die sich als historischer Schutzpatron der türkischen Minderheit im Irak betrachtet, die Turkmenen?

Dr. al-Bayati: Die Hilfe aus Ankara begrenzt sich auf humanitäre Fürsorge und diese nur für Binnenflüchtlinge in der Autonomen Kurdenregion im Norden, während Binnenflüchtlinge im Süden des Landes ausgeklammert werden. Wir erwarten mehr.

Eurasia News: Die Türkei hat in den vergangenen Tagen mit Operationen gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien begonnen und geht seit mehr als einem Monat gegen die verbotene kurdische PKK im eigenen Land und in den irakischen Kandil-Bergen vor. Wirken sich die Operationen der türkischen Armee auf die Sicherheit der turkmenischen Gemeinde im Irak aus?

Dr. al-Bayati: Ja, das tun sie. Die PKK ist in der Region Kirkuk und der Stadt Tuz Churmatu omnipräsent. Wir sind ein leichtes Ziel und Operationen gegen die PKK stacheln die Organisation nur dazu an, Turkmenen im Irak anzugreifen. So griff vor einigen Wochen ein Mob aus PKK-Sympathisanten das Regionalbüro der turkmenischen Partei „Irakische Turkmenenfront“ in der Kleinstadt Kifri an.

Eurasia News: Erwarten Sie also auch mehr Druck aus Ankara auf die Kurdenregierung in Erbil, den Turkmenen zumindest in Kirkuk konstitutionelle Garantien einzuräumen?

Dr. al-Bayati: Ich glaube nicht, dass die Türkei Druck auf Erbil ausüben wird. Beide Seiten pflegen ausgezeichnete Beziehungen, besonders wirtschaftlicher Art. Ankara wird das Verhältnis zu Präsident Barzani nicht für die Turkmenen in Kirkuk opfern.

Eurasia News: In Deutschland werden die Flüchtlingswellen, die vor allem aus den Bürgerkriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens kommen, besonders heiß und kontrovers diskutiert. Muss sich Europa auch auf eine große Menge an turkmenischen Flüchtlingen einstellen müssen?

Dr. al-Bayati: Das mit Sicherheit, wir werden an allen Fronten von den internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Allein im Irak befinden sich 600.000 turkmenische Flüchtlinge, die seit letztem Jahr vom IS aus ihren natürlichen Siedlungsgebieten vertrieben werden. Die Türkei hat bereits 50.000 Turkmenen aus dem Irak sowie Syrien aufgenommen und es werden immer mehr.

Eurasia News: Wofür steht die Turkmen Rescue Foundation und worauf setzt die Stiftung ihren thematischen Fokus?

Dr. al-Bayati: Die Turkmen Rescue Foundation ist eine Nichtregierungsorganisation, die eine Brückenfunktion zwischen internationalen sowie nationalen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren und dem Schicksal der seit Jahren marginalisierten turkmenischen Gemeinschaft im Irak einnimmt. Dabei versuchen wir uns unter anderem mit Hilfe der eigenen Nachrichtenagentur Turkmen, ins Bewusstsein der Medienlandschaft zu drängen.

Darüber hinaus leisten wir wichtige Dokumentationsarbeit über Kriegsverbrechen gegen Turkmenen, sei es ausgehend vom „Islamischen Staat“ oder anderen. Schließlich gehört auch die humanitäre Arbeit zu einem der wichtigsten Arbeitsfelder unserer Organisation. Bildquelle: Turkmen Rescue Foundation

Kurze Übersicht über die Demografie der Turkmenen im Irak
Laut der Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker leben im Irak rund 3 Millionen Turkmenen, die ethnisch und kulturelle eng verwandt mit den Türken der Türkei sind. Vor allem in der Provinz Kirkuk leben besonders viele Turkmenen, die mancherorts gar die Bevölkerungsmehrheit stellen. In den Großstädten Tal Afar mit etwa 200 000 Personen, in Kirkuk mit etwa 150 000 Personen sowie in Arbil und Mosul mit etwa je 100 000 Personen stellen Turkmenen bedeutende Minderheiten dar.

Dieser Artikel erschien am 1. September auf dem Fachportal Eurasianews. Das Projekt widmet sich ökonomischen, geostrategischen und politischen Fragen aus dem eurasischen Raum und darüber hinaus. Die Redaktion bedankt sich für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

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