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Rezension: Maradona und die Krise

Ausgabe 336

Maradona
Foto: Stefano Tammaro, Adobe Stock

Maradona wird bei Karimi zu einem Symbol. Dem Symbol des göttlichen Eingriffs, um den Glauben an die Lebenspoesie in den menschlichen Herzen zu beleben.

(iz). Was hat der verstorbene Fußballer Maradona mit unseren gegenwärtigen Krisen in Europa zu tun? Ahmad Milad Karimi schreibt ein Buch darüber, in Situationen der Ungewissheit den Zauber des Lebens zu erkennen, anzunehmen und lieben zu lernen: Maradona und das göttliche Spiel.

Trost in Krisenzeiten?

Krieg in Europa. Inflation. Und andere heraufbeschworene Katastrophen. Unsicherheit ist zurück. Wir leben nun auch in Europa wieder mit Ungewissheit. Konfrontiert mit den Ängsten und Sorgen wie wir es sind, fällt mir der muslimische Dichter Yunus Emre ein. In Krisenzeiten beschenkte er die Menschen mit Gedichten, die von Mund zu Mund weitergetragen wurden und den Menschen Hoffnung spendeten.

Es ist eine muslimische Sitte, insbesondere in Krisenzeiten Hoffnung zu spenden. Der ehrwürdige Rumi lebte auch in Krisenzeiten. Er flüchtete aus Balkh, dem heutigen Afghanistan, nach Konya. In Konya dichtete er sein Meisterwerk, das Mathnawi. In diesem heißt es: „Gib dein Herz nur der Liebe zu denen, deren Herzen froh sind. Gehe nicht in die Nähe der Verzweiflung; es gibt Hoffnungen. Gehe nicht in Richtung Dunkelheit: es gibt es Sonnen.“

Wo sind in heutiger Zeit, im heutigen Deutschland, Menschen, die uns Hoffnung spenden und uns als Sonne und Lichtquelle, Wärme und Zuversicht spenden? Ein Mensch, der es tut, hat eine Gemeinsamkeit mit Rumi: Er kommt ebenfalls aus dem Raum Afghanistan. Er flüchtete mit seinen Eltern im Alter von 13 nicht nach Konya, aber nach Deutschland. 

Sein Name ist Ahmad Milad Karimi. Heute Professor an der Uni Münster. Wovor flüchtete Karimi? Das sagt er uns in seinem Buch, in dem er uns Einblick in seine Kindheitserinnerungen gewährt: „Menschen starben vor meinen kindlichen Augen nicht nur durch gezielte Angriffe, sondern auch durch Splitter oder einfach, weil sie dort waren, dort lebten, wo eine Bombe hochging oder eine Rakete eintraf.“

Karimi führt uns vor, dass er höchste Notstände und ein Leben in Angst hautnah erlebte. Doch er belässt es nicht dabei uns seine Kriegserfahrungen vor unserem geistigen Auge abzuspielen. Er teilt mit uns zugleich eine Lösung. Sein Mittel um den Zauber des Lebens, die Magie, das Göttliche am Leben zu erhalten. Wie ist das überhaupt möglich im Krieg? Karimi fragt zunächst: „Ist der Krieg ein Zeichen der Abwesenheit Gottes?“

Eben diese Frage stellte sich auch ein Künstler. Ein Künstler am Ball: Diego Maradona. Maradona gewann 1986 trotz politischer Krisen im Heimatland mit Argentinien die Weltmeisterschaft, und wer davon weiß, weiß auch, dies geschah mit göttlicher Einwirkung. Ein entscheidendes Tor machte Maradona mit der Hand statt mit dem Kopf, wie es vom Schiedsrichter wahrgenommen wurde. Zauber und Magie, eine göttliche Gabe trotz der Krisen. Das mache Maradonas Spiel aus.

Anklage Gottes

Das Fußballspiel werde fast schon zu einem religiösen Akt: „Während andere Spieler vor dem Spiel miteinander gezielte Aufwärmübungen machten, jonglierte Maradona einfach nur mit dem Ball, alleine, als wollte er den Ball zähmen. Genau genommen tanzte der Ball um ihn herum. Diese gegenseitige Hingabe zwischen ihm und dem Ball hatte eine eigene Ästhetik, die auf mich wie ein himmlisches Ritual wirkte, mit Leichtigkeit und Rhythmus die Fußballgeister zu beschwören.“

Damit also etwas kunstvoll ist, ist Hingabe nötig. Hingabe und göttliche Hilfe. Auch dann, wenn das Leben abseits vom Fußball alles andere als himmlisch zu sein scheint. Ja, wenn es gottlos, das heißt ohne Magie und Zauber, zu sein scheint: „Wir verloren nicht unser Leben, aber die Poesie des Lebens, die Leichtigkeit, die Süße, das unerwartete Lächeln.“

Foto: Diego Torres Silvestre, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0

Das ist ein Leben ohne Hoffnung. Ohne Hoffnung, dass es besser werden könnte… Und in eben dieser tristen Welt tritt Maradona auf und fordert die Profanität heraus: „An keinem Zeitpunkt konnte man am Bildschirm erahnen, was geschehen würde, wenn er den Ball am Fuß hatte.“

Maradonas Fußballspiel ist ein Hadern mit keinem geringeren als Gott persönlich. Er hadert nicht individuell, sondern er hadert für uns alle. Wenn Maradona daran scheiterte, ein kunstvolles Tor zu schießen und Begeisterungsstürme auszulösen, „sah er meinen Himmel an, beschwor ihn, schüttelte verzweifelt seine Hände in seine Richtung, ja er gab erneut unserem Schmerz Ausdruck, aber indem er den Himmel anklagte, machte er ihn wieder existent“.

Die Anklage Gottes geschieht hier nicht aus einer Ablehnung heraus. Sondern aus einer tief empfundenen Liebe! Es ist als würde Karimi uns mittels Maradona mitteilen: „Gott, Du bist da, ich weiß das, aber warum, warum lässt du die Magie nicht geschehen, wir alle wissen doch, dass Du es kannst!“ Die Anklage selbst wird hier zum Gottesdienst, weil es Ergebung ist. Eine Ergebung, die um die Allmacht des Göttlichen weiß. Ergebung, die darum weiß, Zauber ist möglich! Die Magie ist möglich! „Ich bemühe mich und strenge mich an, wieso lässt Du, o Gott! wieso lässt Du zu, dass es nicht geschieht! Ich will, dass es geschieht und spiele dafür!“

Dafür spielt Maradona. Er lässt sich auf das göttliche Spiel ein: „Hier ging es um alles und, wenn man seinen Blick nach oben richtig deuten konnte, um das, was mehr ist als alles. Maradona spielte um die Wiederbelebung, um die Erfindung des Himmels.“

Das geschieht nur selten. Doch wenn, dann war es, als ob die Schönheit auf Erden ist, als ob Gott persönlich gerade gesprochen habe und sich zu erkennen gegeben habe: „Ich, ich existiere! Bestaunt den Moment, den ich erschuf.“ 

Zauber des Lebens 

Maradona wird bei Karimi zu einem Symbol. Dem Symbol des göttlichen Eingriffs, um den Glauben an die Lebenspoesie in den menschlichen Herzen zu beleben. Damit das Leben mehr ist als bloßes Überleben. Damit das Leben lebendig ist, Leben besitzt. Darum geht es. Die Schwere des Lebens mit einem Lächeln tragen zu können, das heißt im Einklang damit zu leben, dass es ungewiss ist, dass es, „unverfügbar“ ist.

Aber wir wollen über alles verfügen. Wir wollen alles kontrollieren und besitzen und können immer erklären, warum was wieso nicht funktionierte. Wir leben in Deutschland. Wir haben auch dann noch Grund zu klagen, wenn es funktionierte, wenn wir etwas geschafft haben. Sogar dann dürfe, so der Eindruck, wenn man hier lebt, dürfe sich nicht gefreut werden.

Karimi ruft uns dazu auf, die Kontrolle abzugeben.

Er ruft uns dazu auf, die Unverfügbarkeit anzunehmen. Denn dann, genau dann, wenn wir das tun, dann ist es tragbar. Denn wir wissen, so zitiert Karimi unter vielen großen Namen auch Rilke, wir wissen, auch dann, wenn wir fallen beim Versuch etwas zu bewerkstelligen, dieses Fallen ruht in den Händen. Mein Fall wird aufgefangen. Er ist schön. Schwer, aber schön.

Diese schwere Schönheit präsentiert uns Karimi. Und wer das Buch liest, und liest, was Karimi selbst als Kind erleben musste, der staunt. Ja, bei der Lektüre halten wir uns vor Augen, dass der Poet dieses Buches, Deutsch nicht als Kleinkind lernte. Dass er nicht schon immer dieser Professor war, der es sich leisten kann der bestgekleidetste Philosoph seit Oscar Wilde zu sein. Wir mögen im Sinn behalten, der Weg bis hin zu diesem Buch, dieser Poesie, war anstrengend und beschwerlich. Es war schwer, aber: schön. Schöne Schwere. Schwere Schönheit.

Montage: Patmos Verlage (links), Fotodienst, Mike Kampitsch (rechts)

Karimi selbst hat etwas, was für Maradona der Fußball war. Fußball sind bei ihm philosophische Gespräche. Ein Jonglieren mit Wörtern statt mit Bällen. Maradona lässt sich auf das göttliche Spiel ein, indem er Fußball spielt, Karimi, indem er es wagt, dass seine Kindheitserinnerungen, die Verluste, nicht determinieren, wer er heute ist und was er tut.

Er lässt uns Anteil haben an seinem inneren, seelischen Reichtum, uns, die wir mehrheitlich nie fürchten mussten zu hungern oder durch eine Bombe zu sterben. Ist unser Leben nicht eben darum monoton? Weil wir es uns vorhersagbar eingerichtet haben. Verfügbar. Das Gegenteil der Lebenspoesie. Karimi versucht uns an Eichendorff zu erinnern. „Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.“ Eichendorff nahm durch Gedichte teil am göttlichen Spiel.

Teilnehmen am göttlichen Spiel

Wodurch nehmen wir teil? Ziehen wir uns feiner an, um die Schönheit des Lebens zu feiern, unabhängig davon, was andere Menschen sagen? Haben wir den Mut, die Magie zu beleben? Den Himmel zu berühren? Diese Frage stellte ich mir während der gesamten Lektüre des Buches. Es reicht schließlich nicht bloß für die „Hand Gottes“ zu beten. Maradona antwortete auf die Frage, was das für ein Tor war: „Ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes.“

Wir müssen also springen, unseren Kopf hinhalten und dann, wenn Gott es zulässt, dann geschieht es vielleicht instinktiv, dass wir die Hand heben und der Ball durch ein Wunder ins Tor geht. Wenn wir etwas tun; wenn wir uns hingebungsvoll einer Beschäftigung widmen und zugleich wissen, Zauber ist möglich, wir können den Himmel berühren, Gott will uns vielleicht heute zum Staunen bringen, dann nehmen wir teil am göttlichen Spiel. Nicht bloß dann, wenn kein Krieg mehr ist. Wenn alle Missstände behoben sind.

Währenddessen. Wenn ich etwas hingebungsvoll tue, dann nehme ich teil am göttlichen Spiel. Wenn ich tue und reagiere, wie niemand es erwartet. Woran denken wir, während wir an der Kasse stehen, im Stau? Können wir uns selbst und dauere überraschen? Sind wir offen dafür, die Schönheit mit ihrer Schwere zu erkennen?

Denn, so appelliert Karimi, die Schönheit ist nicht bloß in großen Ereignissen zu suchen und zu finden, sondern sie findet sich im Alltag. Wage ich es trotz Nachrichten durch was auch immer an die „Hand Gottes“ zu glauben? In einer Welt, in der nichts sicher ist, Halt zu finden im Unsicheren, heißt teilnehmen am göttlichen Spiel.

Vielleicht geschieht der Zauber. Vielleicht nicht. Der Zauber ist unverfügbar. Das hinzunehmen und dennoch auf die Teilnahme am Spiel durch Hingabe und Annahme zu beharren, das ist der Weg.

* Maradona und das göttliche Spiel. Warum das Wesentliche umverfügbar bleibt: von Ahmad Milad Karimi, erschienen im Verlag Patmos, 15,- EUR.