Die rasante Zuwanderung von muslimischen Zentralasiaten in den letzten 20 Jahren könnte die traditionelle Identität und Lage der russischen Muslime in kürzester Zeit ändern. Das wirkt sich auch auf die Lage der Gemeinschaft aus.
(iz). Es wurde viel geschrieben über den Islam in Europa und Nordamerika und über die Erfahrung seiner Anhänger. Zu Russland liegen kaum Informationen vor. Russland sollte daher zuerst mit asiatischen Staaten verglichen werden, in denen signifikante muslimische Minoritäten leben. Und nicht mit (West-)Europa, wie es heute der Fall ist. Nach Aussagen von Präsident Putin hat diese Bevölkerungsgruppe rund 20 Millionen Mitglieder.
Die russische Erfahrung der Nachbarschaft von Muslimen und anderen Religionsgruppen kann nicht als fundamental einzigartig betrachtet werden. Im Allgemeinen ist es das Gleiche wie in nichtmuslimischen Ländern in Asien, die eine große, einheimische muslimische Bevölkerung haben. Einige dieser Nationen waren in der Vergangenheit muslimisch.
Ab hier beginnen die Unterschiede. Soweit es Russland betrifft, unterscheidet es sich zukünftig von einer Anzahl seiner asiatischen „Kollegen“. Die einzige Frage bleibt, wo die Unterschiede auftauchen werden. Die Erfahrung von europäischen (und generell westlichen) muslimischen Minderheiten erscheint heute besser studiert als vergleichbare Prozesse Asiens. Der Grund ist klar: Was im „Zentrum der Welt“ geschieht, interessiert mehr, als andere Dinge. Gleichwohl ist es enorm maßgeblich, wie Islam hier existierte und existiert: China, Indien, Thailand, die Philippinen, Sri Lanka, Burma und, bis zu einem gewissen Grad, Vietnam. Unter die gleiche Kategorie, mit einigen Ausnahmen, sollen diese europäischen Länder fallen: Bulgarien, Griechenland, Serbien, Mazedonien, Montenegro, Ukraine, Polen, Weißrussland, Rumänien und Litauen.
Das ist von vorrangiger Bedeutung für ein umfassendes Verständnis der Lage, in der sich russische Muslime befinden. Soweit es Islam betrifft, hat Moskau viel gemein mit diesen Staaten. Sein Ansatz im Umgang mit der Minderheit kann als „asiatisch“ bezeichnet werden.
In Russland, China und Indien ist der Islam eine traditionell-historisch verwurzelte Religion. Die dortigen Muslime sind Einheimische, keine Einwanderer oder ihre Nachkommen (wie im Westen). Hier ist die Religion seit Langem verwurzelt, erfreut sich aber de facto kaum der gleichen Rechte. Sie hat nicht den gleichen Status wie die Konfession oder die Ideologie, der die Mehrheit angehört. In diesen Nationen hat die muslimische Minderheit Probleme mit dem Staat – in unterschiedlichen Intensitäten.
Überall gibt es eine „verborgene Geschichte“ des Islam. Das heißt, er spielte eine wesentlich positivere Rolle, als Politik und Gesellschaft ihm zugestehen wollen. Daraus folgt das Problem des Ausschlusses von Muslimen aus relevanten staatlichen Prozessen. Das bewirkt ihre Entfremdung von Staaten, deren Bürger sie sind.
In jedem Land hat die muslimische Minderheit ein zweiseitiges Problem. Auf der einen Seite ist sie eine loyale und mehr oder weniger integrierte Gemeinschaft. Auf der anderen gibt es einen minimalen Teil, der in heftigem Konflikt zum Staat steht – auch bewaffnet.
So gibt es in Russland einerseits die Muslime der Wolga-Ural-Region und andererseits die aus dem destabilisierten Nordkaukasus. Und in China haben wir die Hui, die in die chinesische Staatlichkeit eingetreten sind und diejenigen, die in Xinjiang leben. Thailand und Philippinen: lang anhaltende bewaffnete Konflikte im Süden, die neben der Anwesenheit von Muslimen im Zentrum des Landes bestehen. Unter letzteren gibt hochrangige Staatsvertreter, auch Militärs. Überall stellt die Religion keinen Schlüsselfaktor dar. Es gibt Probleme des politischen und territorialen Separatismus bei einem Teil der Muslime, ein anderer widerspricht solchen Positionen. Streitigkeiten wurzeln in der Geschichte. Und der Konflikt fand nicht immer unter dem Schlagwort „Islam“ statt.
Trotz Gemeinsamkeiten mit asiatischen Pendants hebt sich Russland hervor. Dort sind die Bedingungen für den Islam und die Muslime vergleichsweise besser. In der Russischen Föderation herrscht, grob gesagt, der beste Zustand in der „asiatischen“ Art des Umgangs mit muslimischen Minderheiten.
Veränderungen der russischen Bevölkerungsstruktur, sowie die Ereignisse der letzten 15-20 Jahre stehen in direkter Beziehung zu Muslimen. Umfangreiche Migrationsprozesse könnten dazu führen, dass sich das Land in Sachen Islam vom besten „asiatischen“ in das problematischste „europäische“ wandeln könnte. Das heißt, Islam in Russland, mit einer wachsenden Zahl von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien des russischen Reiches, ähnelt in zunehmendem Maß dem „(west-)europäischen“ Typ. Hier sind die Mehrheit der Muslime Migranten oder ihre Nachkommen.
Vor unseren Augen verändert sich die „asiatische“ Identität des Islam in Russland in rapidem Tempo. Das ist eine schwerwiegende Herausforderung der einheimischen Muslime.
Momentan nimmt Russland bezüglich der Einwanderung den zweiten Platz nach den USA ein – im Hinblick auf das absolute Volumen. Nach offiziellen Angaben kamen 1992-2010 8,4 Millionen Einwanderer in dem Land an. Informelle Statistiken sind realistischer: 15-18 Millionen Menschen, 10,5-12,7 Prozent der Bevölkerung. Im Jahre 2012 kamen 91 Prozent der Einwanderer aus den ehemaligen GUS-Staaten. 63,5 Prozent von ihnen stammen aus den mehrheitlich muslimischen Ländern (Aserbaidschan, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan).
In diesem Sinne erinnert Russland an (West-)Europa, wo Islam und Migration als ein und dasselbe Problem gesehen werden. Es gibt einen Unterschied: In Russland ist die Lage schlimmer, denn es ist auf jene Entwicklung nicht vorbereitet. Noch schwerwiegender ist: Niemand will sich ernsthaft vorbereiten. Die Offiziellen – darunter diejenigen, die vom Kreml für die Arbeit mit den Muslimen autorisiert sind – tun so, als geschehe nichts, oder jemand anders sei für die Probleme verantwortlich. Dieser müsse sie auch lösen.
Nach Einschätzung von Soziologen werden, die jetzige Entwicklung vorausgesetzt, die einheimischen Muslime Russlands (im Wolgabecken und Nordkaukasus) in 20-30 Jahren zu einer Minderheit gegenüber der zentralasiatischen Mehrheit werden. Das ist ein langfristiger Trend, der kaum zu verändern ist.
Bereits heute gibt es in einigen Städten unter den Moscheebesuchern mehr Usbeken, Tadschiken und Kirgisen als Einheimische. Die Behörden und die Leiter der offiziellen muslimischen Strukturen haben in den letzten Jahren kaum mehr getan als zu versuchen, die Aktivitäten und Ansprüche der Kaukasier zu beschränken. Als Ergebnis steht Russland vor einer neuen Realität: Es ist heute möglich zu sagen, dass Russland im 21. Jahrhundert nicht mehr das Land sein wird, das es in der Vergangenheit war. Russen werden „Europäer“, aber nicht anhand von Indikatoren wie Pluralismus, Marktwirtschaft sowie unabhängigen Gerichten und Medien, wie es sich viele wünschen.
Der Autor ist Analytiker und stellvertretender Direktor der Altair Foundation (Moskau).
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Kultur & Traditionen, Lebensart
Russland: Inmitten alter Traditionen und zentralasiatischen Einwanderern. Von Abdullah Rinat Mukhametov
Ausgabe 242