Die Deutschsyrerin Salma Chbib spricht über Perspektive auf die Ereignisse in Syrien, ihre Emotionen und was sie sich für die Zukunft erwartet.
(iz). Am 8. Dezember floh Baschar Al-Assad aus Syrien nach Russland. In Syrien und in Deutschland feierten syrischstämmige Menschen auf den Straßen. Was denken Deutschsyrer über das Ende des Regimes und was erhoffen sie sich für die Zukunft? Hierzu sprachen wir mit Salma Chbib. Sie kam als Tochter einer syrischen Familie zur Welt. Die Unternehmerin und Mutter ist Gründerin des Frauennetzwerkes „Raidat“, wo sie sich für die Stärkung von Frauen in Business und Gesellschaft einsetzt. Unter anderem betreibt sie einen Onlineshop.
Islamische Zeitung: Liebe Salma Chbib, sie sind in einer syrischen Familie zur Welt gekommen. Wie haben Sie die Gewalt in Syrien seit 2011 sowie die jetzigen Umwälzungen erlebt?
Salma Chbib: Seit ich auf der Welt bin, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass etwas Böses passiert. Es waren Emotionen der Ohnmacht und der Frustration. Ich musste erfahren, dass andere ihre Großeltern, Tanten und Cousins besuchen können, man selbst aber nicht. Als ich fragte, warum wir unsere Familie in Syrien nicht sehen durften, erklärte unser Vater es kindgerecht. Ich wuchs mit der Traurigkeit auf, wegen eines Tyrannen von meiner Familie getrennt zu sein.
Als 2011 der syrische Frühling begonnen hat, waren wir erst einmal voller Hoffnung. Und hatten die Erwartung, dass es aufwärts gehen würde. Dann wurde der Konflikt schlimmer. Die anfänglich friedlichen Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen. Danach sind so viele Dinge geschehen. Aufgrund dieser extremen Lage schwand die Hoffnung weiter. Irgendwann hat sich ein Gefühl der Taubheit eingestellt.
Als Mensch in der Diaspora bot der Alltag immer Momente der Ablenkung. Man hat hier ein Leben in Sicherheit, etwas zu Essen usw. geführt. Und zwischendurch Augenblicke des schlechten Gewissens gehabt, wenn man Freude empfand, denn die Geschehnisse in Syrien nahmen immer Raum in unserem Herzen ein. Die Lage war so verzweifelt angesichts der Tatsache, dass russische und iranische Kräfte Assad so vehement unterstützten.
Hinzukamen die Lage und das Leid, das schon vor 2011 herrschte. Man hatte sogar im eigenen Haushalt Angst, etwas gegen das Regime zu sagen. Bereits kleinen Kindern wurde beigebracht, dass die Wände Ohren haben. Das war ein Schmerz. Zusätzlich dazu kamen die Ereignisse der Revolution. Wir haben Angehörige in der Familie verloren, wofür das Regime verantwortlich war. Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle wuchsen, bis Herz und Hirn sie nicht mehr tragen konnten. Wenn wir uns abgelenkt haben, dann einfach deshalb, weil man sich damit nicht jeden Tag befassen kann. Und dann hat sich das Blatt gewendet.
Seit 1965 in Deutschland
Islamische Zeitung: Ihre Familie lebt seit über einem halben Jahrhundert in Deutschland…
Salma Chbib: Ja, mein Vater kam 1965 für sein Studium nach Deutschland. Wie viele andere Studenten hatte er den Traum, später in seine Heimat zurückzukehren. Aber damals stellte er sich schon offen gegen das Assad-Regime. Von Deutschland aus führte er seinen Widerstand nicht mit Waffen, sondern mit seiner Feder – mit seinen Worte, Schriften und seinem öffentlichen Auftreten, deckte er die Gräueltaten der Assad-Familie auf.
Islamische Zeitung: Sie haben als Deutschsyrerin eine spezifische Perspektive. Worin unterscheidet sich diese von Menschen, die 2015/2016 kamen?
Salma Chbib: Ja, das sind schon unterschiedliche Blickwinkel. Wir haben einen anderen Zugang. Und haben einen anderen Schmerz – den des Verlustes. Diejenigen, die 2015 gekommen sind, wurden traumatisiert. Ich habe mich mit einer Reihe von Leuten unterhalten, die ich nach ihrer Ankunft betreut habe. Viele haben Gefechte erlebt, Leichen gesehen, Todesangst verspürt und sind aus ihrem Zuhause geflohen. Sie haben all das Schreckliche am eigenen Leib gespürt. Unser Schmerz war ein anderer. Wir haben ein Land verloren, in das man nie gehen durfte und das man nicht kennenlernen konnte. Alle hatten den gleichen Traum: ein freies Syrien ohne Assad, ohne Angst und Schrecken. Wir teilen ein Trauma, erfuhren aber unterschiedliche Schmerzen.
Islamische Zeitung: Einige Syrer haben uns in den letzten Jahren mitgeteilt, in Deutschland wegen der Präsenz von Geheimdienstmitarbeitern vorsichtig sein zu müssen…
Selma Chbib: Für mich war das kein Thema. Vor 2011 war man vorsichtiger, danach nicht mehr. Das war das Mindeste. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir den Mund aufmachen mussten. Hier waren wir sicherer als in Syrien.
Für mich war es grausam zu wissen, dass solche Personen hier frei herumliefen. Ich kannte Leute in meinem Zirkel, die die Ereignisse verharmlosten und mit Assad sympathisierten. Er gab sich ja immer als gebildeter Menschen, der nett und schüchtern lächelte. Dabei war er ein Beispiel für einen der schlimmsten Diktatoren, der Verbrechen am eigenen Volk verübte.
Das hat es mir schwer gemacht, mit solchen Leuten umzugehen. Da hatte ich keine Hemmungen, mit Worten dagegenzuhalten. Es war meine Pflicht gegenüber den Verstorbenen in Syrien, und jenen, die nach Deutschland fliehen mussten. Sie ließen ihr Leben, ihr Hab und Gut sowie ihre Familie hinter sich.
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Bilder des Jubels
Islamische Zeitung: Syrer in aller Welt haben die Befreiung mit Jubel begrüßt. Wie blicken Sie auf die nahe und mittlere Zukunft Syriens?
Salma Chbib: Natürlich sorgen wir uns darum, was kommen könnte. Das würde kein Syrer verneinen. Vielmehr würde er sagen: Alles ist besser als das Assad-Regime. Wenn wir jetzt betrachten, was nach Befreiung der Foltergefängnisse ans Tageslicht kam. Das sind Geschichten, die das Gehirn nicht erträgt. Ich weiß nicht, wie die Menschen das ertrugen. Man sieht Gebrochene, die am Ende sind. Mir ist es wichtig für den Heilungsprozess, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Ich wünsche mir das für alle, die in den Gefängnissen saßen und Folter erlitten, dass solche Täter nicht frei herumlaufen dürfen.
Die Dinge müssen demokratisch ablaufen. Ich will ein freies Syrien, in dem sämtliche Ethnien gleichberechtigt sind. So waren wir immer, bis das Regime die Menschen gegeneinander ausspielte. Wir sind ein aufgeschlossenes, freundliches Volk. Christen und Muslime lebten gut miteinander. Die Syrer werden zeigen, dass sie sich nicht mehr von Diktatur und Angst bestimmen lassen.
Das haben sie in den letzten Jahren gezeigt. In Nachbarländern, in Deutschland sind viele NGOs entstanden. Sie setzen sich für die Menschen und die Zivilgesellschaft ein. Das belegt, dass das Volk für sich einstehen und demokratisch sein kann. Ich hoffe darauf, dass Syrien ein demokratisches Land wird, wo alle Ethnien zusammenhalten und friedlich nebeneinander leben können.
Islamische Zeitung: Wie nehmen Sie die Debatte mancher Politiker wahr, die im Augenblick der Befreiung die Rückführung von Syrern forderten? Wollen die meisten zurück oder hier bleiben?
Salma Chbib: Ich möchte das mit einer persönlichen Bemerkung einleiten. Ich bin hier geboren und fühle mich als Deutsch mit syrischen Wurzeln. Syrien selbst habe ich nie richtig kennenlernen dürfen. Nach dem Sturz Assads wächst ein neues Gefühl, das mir vorher unbekannt war; eines von Heimat. Viele Syrer haben dieses Wort in Gesprächen immer wiederholt. Das ist ein unglaublich starkes Gefühl der Verbundenheit. Ich würde auch sehr gerne dorthin gehen.
Andererseits glaube ich, dass viele an ihre Sicherheit, Familien, Chancen etc. in Deutschland denken. An all das, was wir hier haben. Die meisten dürften abwarten, wie es weitergeht. Wahrscheinlich werden es jüngere Männer oder Frauen sein, die als erste gehen werden. Und die das Land wieder aufbauen werden. Syrien ist ein schönes Land und seine Menschen sind auch schön.
Was die deutsche Debatte betrifft, so ist sie sehr überheblich. Man kann nur mit dem Kopf schütteln angesichts der Stimmen, die jetzt über Abschiebung geredet haben. Deutschland ist auf die Syrer angewiesen. Für das Gesundheitssystem wäre die Rückkehr Tausender Ärzte eine Tragödie. Was soll denn passieren, wenn die alle weg wären? Es ist unglaublich, was hier an politischer Kultur herrscht.
Islamische Zeitung: Liebe Salma Chbib, wir bedanken uns für das Gespräch.