Südkaukasus: Die EU schaut der Gewalt hilflos zu

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BERLIN/BRÜSSEL (GFP.com/iz). Mit hilflosen Appellen fordert die EU Armenien und Aserbaidschan zu einem Waffenstillstand auf. Die Kämpfe um Berg-Karabach müssten umgehend beendet werden, hieß es bei einem Treffen der EU-Außenminister. Konkrete Maßnahmen wurden nicht bekannt. Berliner Außenpolitik-Experten raten, mangelnden eigenen Einfluss auf die Konfliktparteien durch koordinierte EU-Aktivitäten sowie durch Absprachen mit Russland wettzumachen.

Mit Unterstützung durch Moskau hatte Berlin zu Jahresbeginn in ähnlicher Lage Fortschritte im Bemühen um einen Waffenstillstand in Libyen erreichen können. Im aktuellen Fall ist diese Option nicht in Sicht: Die EU-Außenminister haben gestern auf deutsch-französische Forderung hin Sanktionen gegen Russland beschlossen. Experten urteilen, Moskau erwarte jetzt „nichts mehr von Europa“; es fühle sich „nicht mehr verpflichtet, dessen Meinung oder Interessen zu berücksichtigen“. Einfluss auf die Türkei zu nehmen, die Aserbaidschan unterstützt, gelingt der EU wegen innerer Differenzen nicht: Ankara spielt Berlin und Paris gegeneinander aus.

Fäusteschwingen im Parlament
Bereits vor dem gestrigen Treffen der EU-Außenminister hatte die Bundesregierung versucht, sich in die internationalen Vermittlungsbemühungen im armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Berg-Karabach einzuschalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Ende September, kurz nach dem Beginn der Kämpfe, erstmals mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew sowie Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan telefoniert und auf einen Waffenstillstand sowie die Aufnahme von Verhandlungen gedrungen.

Am 11. Oktober sprach sie erneut mit Paschinjan, um sich für die Beendigung der Kämpfe stark zu machen. Außenminister Heiko Maas hat inzwischen mehrfach mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu konferiert, um nach Lösungen für den Konflikt zu suchen. Erfolge sind bislang ausgeblieben. Das trifft auch auf die Bemühungen der EU zu, Möglichkeiten zur Einflussnahme zu finden. Zwar forderten vergangene Woche zahlreiche Europaabgeordnete die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen; Berichterstatter sprachen von einem „kollektiven Fäusteschwingen im Parlament“.

Am Ende der Debatte bekräftigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, er werde tun, was „auf diplomatischer Ebene“ machbar sei. Seine Handlungsoptionen seien jedoch begrenzt, da die EU-Staats- und Regierungschefs soeben erst beschlossen hätten, über etwaige Sanktionen gegen die Türkei nicht vor Dezember zu entscheiden: „Daran müssen wir uns halten“, konstatierte Borrell.

Mächte mit Einfluss
Auch die EU-Außenminister konnten bei ihrer gestrigen Zusammenkunft keine Fortschritte in der Sache erzielen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte sich anlässlich des Treffens „besorgt“ über den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gezeigt; Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, Gastgeber des Treffens, hatte gefordert, einen dauerhaften Waffenstillstand „möglichst schnell hinzukriegen“. Es blieb allerdings bei wirkungslosen Appellen.

Die einzigen beiden Staaten, die zur Zeit über tatsächlichen Einfluss auf Baku bzw. Eriwan verfügen, sind Russland und die Türkei. Während Ankara das mit ihm verbündete Aserbaidschan umfassend unterstützt, unterhält Moskau enge Beziehungen zu Armenien, das seinen wirtschaftlichen (Eurasische Wirtschaftsunion) und militärischen (OVKS) Bündnissen angehört. Es hat allerdings auch Aserbaidschan Waffen geliefert und unterhält tragfähige Beziehungen zu dem Land. Am 10. Oktober war es der russischen Regierung gelungen, zumindest zeitweise eine humanitäre Waffenruhe zu erreichen. Auch wenn beide Seiten längst gegen diese verstoßen, hat Moskau damit einen ersten Durchbruch im Rahmen der internationalen Vermittlungsbemühungen erzielt.

„Ein Schatz“
Ratschläge von Berliner Experten, die fehlenden eigenen Einflussoptionen durch gemeinsame, mit Frankreich koordinierte EU-Aktivitäten und, „soweit nötig“, durch Absprachen mit Russland zu ersetzen, laufen bislang ins Leere – wegen außenpolitischer Entscheidungen, die Berlin in den vergangenen Wochen und Monaten getroffen hat. Absprachen mit Moskau hatten noch Anfang des Jahres in einem ganz anderen Konflikt gewisse Fortschritte ermöglicht: bei der Vorbereitung der Berliner Libyen-Konferenz. In Vorbereitung der Konferenz hatte Kanzlerin Merkel, auch dies in Ermangelung eigener Einflusshebel, in Moskau Gespräche mit Präsident Putin geführt, um sich russische Rückendeckung für die Vermittlungsbemühungen im Libyen-Krieg zu sichern.

Dazu ließ sich damals der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, mit der Äußerung zitieren, „früher“ sei es bei der Lösung von Konflikten „üblich“ gewesen, in Washington vorzusprechen: „Heute müssen Sie in Moskau anrufen.“ Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und ebenfalls zuständig für Äußeres, urteilte seinerseits mit Blick auf die Unterstützung durch Russland, die deutsch-russischen Beziehungen seien „ein Schatz“. Tatsächlich gelang es Berlin damals mit Moskaus Hilfe, zumindest einen offenen Eklat seiner Libyen-Vermittlungsbemühungen zu verhindern.

Keine Erwartungen mehr
Vergleichbare Absprachen mit Russland sind heute nicht in Sicht. Ursache ist insbesondere das Vorgehen der Bundesregierung im Fall Nawalny. Bereits Mitte September hatte Dmitri Trenin, ein Experte von Carnegie Moscow, gewarnt, der Fall sei zum „Wendepunkt in den russisch-deutschen Beziehungen“ geworden.

Als Präsident Putin die Erlaubnis gegeben habe, Nawalny zur Behandlung nach Berlin auszufliegen, habe er kaum mit den darauf folgenden Vorwürfen der Bundesregierung gerechnet, urteilt Trenin: Diese seien für ihn „ein Stich in den Rücken“ gewesen. Moskau werde „ein neues Kapitel“ im Umgang mit Berlin aufschlagen und die Bundesregierung von nun an „als unter US-Kontrolle stehend“ einstufen.

Die Lage werde „zugleich einfacher und risikoreicher“: „Russland erwartet nichts mehr von Europa, und es fühlt sich daher nicht mehr verpflichtet, dessen Meinung oder Interessen zu berücksichtigen.“ Dies gilt umso mehr, als Berlin und Paris vergangene Woche neue Sanktionen gegen Russland forderten und am gestrigen Montag die EU-Außenminister solche Sanktionen prinzipiell beschlossen haben. Damit wird jede Zusammenarbeit noch weiter erschwert – auch dort, wo Berlin Vorteile daraus ziehen könnte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte schon vor dem gestrigen Sanktionsbeschluss offen gewarnt: „Mit den Beziehungen zwischen Russland und der EU geht es rapide bergab.“

Innere Differenzen
Auch die Option, gemeinsam mit Frankreich eine schlagkräftige EU-Politik gegenüber Armenien und Aserbaidschan zu entwickeln, ist nicht in Sicht. Ursache sind anhaltende Differenzen zwischen Berlin und Paris in der Türkeipolitik. Paris ist bemüht, seinen Einfluss im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten, etwa im Libanon, zu stärken und kollidiert dabei mit der Türkei, die ebenfalls expansive Strategien verfolgt.

Berlin hingegen setzt – aus geostrategischen Gründen und zur Flüchtlingsabwehr – auf eine gewisse Kooperation mit Ankara; Kanzlerin Merkel hat auf dem jüngsten EU-Gipfel die Verhängung neuer Sanktionen gegen die Türkei abgewehrt und anschließend bekräftigt, weil es ein Interesse an „strukturell guten Beziehungen mit der Türkei“ gebe, gelte es, sich „in Sachpunkten zusammenzuraufen“.

Am 6. Oktober stellte sie dem türkischen Präsidenten Erdoğan eine „Weiterentwicklung der EU-Türkei-Beziehungen“ in Aussicht. Ankara wiederum, weit davon entfernt, seine Unterstützung für Baku unter etwaigem Druck der EU zu reduzieren, macht sich die Differenzen zwischen Berlin und Paris zum wiederholten Male zunutze und hat gestern mitgeteilt, das Forschungsschiff Oruç Reis jetzt erneut in von Griechenland beanspruchte Gewässer vor der griechischen Insel Kastellorizo zu entsenden. Damit düpiert es Berlin und stachelt Paris zu neuen Sanktionsforderungen und damit zugleich zum Opponieren gegen Deutschland auf.