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Suizidalität: Wie sollen Muslime mit dem schwierigen Thema umgehen?

Ausgabe 365

Suizidalität
Foto: pressmaster/Adobe Stock

Warum Muslime über Suizidalität sprechen müssen und warum Schweigen oder Scham die Sache schlimmer macht.

(iz). Suizidalität ist eine tiefgreifende Krise, die alle gesellschaftlichen und religiösen Schichten betrifft. Obwohl der Islam ihn klar verbietet, ist auch die muslimische Gemeinschaft betroffen. Es handelt sich um ein komplexes Phänomen, das sowohl Moscheen als auch private Räume berührt. Ziel ist es, das Thema zu enttabuisieren, Menschen mit suizidalen Gedanken und ihre Angehörigen zu entlasten, Hoffnung zu vermitteln und Warnsignale besser zu erkennen. Von Amin Loucif

Suizidalität: Welche Schritte sind im Ernstfall wichtig?

Gleichzeitig soll gezeigt werden, welche Schritte im Ernstfall wichtig sind, etwa professionelle Hilfe zu suchen, und was vermieden werden sollte, z B. abwertende Reaktionen oder das Verstärken von Schuldgefühlen. Suizidgedanken sind nicht einfach ein Zeichen mangelnden Glaubens, sondern ein Hilferuf eines Menschen in tiefer seelischer Not.

Häufig sind sie ein Symptom psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen bzw. die Folge traumatischer Erfahrungen und belastender Lebensumstände. Spirituelle Stärkung kann im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes (spirituell, biologisch, psychologisch, sozial) unterstützend wirken. Wenn wir Suizidgedanken als Hilferuf verstehen, können wir mit mehr Mitgefühl und Verständnis reagieren. Statt zu urteilen, sollten wir zuhören und Unterstützung anbieten.

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Schweigen schafft Distanz

Schweigen schafft Distanz, Reden kann Nähe und Entlastung bringen. Wer fragt: „Geht es dir wirklich gut?“ oder „Wünschst du dir manchmal am liebsten nicht mehr aufzuwachen?“, signalisiert: Du bist nicht allein. Diese einfachen Fragen können Leben retten, weil sie es Betroffenen ermöglicht, ihre Last mitzuteilen und Unterstützung anzunehmen.

Diese veränderte Haltung schafft eine Umgebung, in der Menschen sich sicher fühlen, um Hilfe zu bitten. Hilfreiche Hinweise und Unterstützungsangebote finden sich unter www.pzm.center/notfall.

Der Gesandte Allahs, Heil und Segen auf ihm, sagte sinngemäß: „Keiner von euch soll sich den Tod wünschen. Wenn er (rechtschaffen und) wohltätig ist, könnte er (seinen Wohltaten) noch mehr hinzufügen, und wenn er ein Sünder ist, könnte er sich von der Sünde abkehren.“

Und auch: „Keiner von euch soll sich den Tod wünschen, weil er von einem Unglück heimgesucht wird. Aber wenn er es unbedingt tun will, dann lasst ihn sagen: ‘O Allah! Lass mich so lange leben, wie es für mich besser ist, und lass mich sterben, wenn der Tod besser für mich ist.’“ (Riyad As-Salihin)

Anas, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete: „Wenn ich nicht den Propheten, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagen gehört hätte ‘wünscht euch nicht den Tod’, so hätte ich ihn mir gewünscht.“ (Bukhari)

Allah verbietet Suizid eindeutig. Prophetische Überlieferungen betonen die Schwere der Tat: Wer sich selbst tötet, läuft Gefahr, im Jenseits die Art seines Todes wiederholt zu erleiden. Diese Warnung schützt das von Allah geschenkte Leben.

Gleichzeitig hebt die islamische Gelehrsamkeit die Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit und des Verstandes (Al-Aql) hervor: Bei Menschen in massiven psychischen Krisen, etwa bei schwerer Depression, Psychosen oder Traumata, kann es vorkommen, dass sie nicht mehr voll verantwortlich handeln.

Allahs Urteil gründet allein auf seinem Wissen um den inneren Zustand. Hadithe verdeutlichen, dass jeder Fall individuell ist: Ein Sahaba, der nach der Hijra seinem Leben ein Ende setzte, erhielt Vergebung (Muslim), während ein anderer Kämpfer, der sich aufgrund seiner schweren und schmerzhaften Verletzung tötete, als Bewohner des Höllenfeuers bezeichnet wurde (Muslim). Dies zeigt: Das endgültige Urteil liegt bei Allah.

Angehörige dürfen auf Seine Barmherzigkeit und Vergebung hoffen, während die religiöse Warnung bestehen bleibt – Suizid ist kein Ausweg. Solche Gedanken entstehen oft aus komplexen Ursachen, u.a. chronische Krankheiten, seelisches Leiden, Nebenwirkungen von Medikamenten, Schmerzen oder Überforderung.

Auch unter den Prophetengefährten gab es Lebensmüdigkeit, die sensibel und situationsbezogen behandelt wurde. Ebenso ist zu unterscheiden, ob man trauernde Familien begleitet oder präventiv die Gemeinschaft warnt, die prophetische Sprache war immer behutsam.

Muslime in Deutschland erleben zusätzlich spezifische psychosoziale Belastungen. Diskriminierung mindert das Zugehörigkeitsgefühl und erhöht psychischen Druck; Studien zeigen klare Zusammenhänge zwischen Islamophobie, Rassismus und seelischen Notlagen.

Auch globale Konflikte (z. B. Palästina, Afghanistan, Sudan, Syrien) wirken über kollektive Verbundenheit tief auf die Seele. Hinzu kommt die wachsende Einsamkeit, die sich zunehmend als Risikofaktor für mentale Krisen und Suizidgedanken erweist.

Alleinsein

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Warnzeichen erkennen – Sprechen rettet Leben

Bei der Bewältigung solcher Gedanken kann ein ganzheitlicher Ansatz hilfreich sein. Das spirituell-bio-psycho-soziale Modell betont, dass verschiedene Lebensbereiche zusammenwirken und alle bei der Unterstützung eines Menschen mit suizidalen Gedanken berücksichtigt werden sollten.

Für gläubige Muslime kann die spirituelle Ebene eine bedeutsame Stütze darstellen: Der Rückgriff auf religiöse Werte, Gebet und die Verbindung zu Allah vermittelt Hoffnung, Sinn und Halt. Gespräche mit Imamen bzw. anderen Vertrauenspersonen dieser Ebene können die professionelle Hilfe sinnvoll ergänzen.

Ebenso wichtig ist die biologische Seite. Körperliche Erkrankungen bzw. Störungen können depressive Symptome verstärken und sollten medizinisch abgeklärt werden. Auch wiederholte Bewegung, etwa Spaziergänge oder Sport, kann die Stimmung stabilisieren.

Auf psychologischer Ebene helfen Psychohygiene (einfache Maßnahmen zur seelischen Selbstfürsorge wie regelmäßige Pausen, bewusst wahrzunehmen, was einem guttut oder schadet, aktiv für Ausgleich im Alltag zu sorgen), psychotherapeutische Gespräche, belastende Gedanken und Gefühle zu ordnen und Strategien zur Krisenbewältigung zu entwickeln, wodurch Hoffnungslosigkeit reduziert und neue Perspektiven eröffnet werden können.

Abschließend spielt die soziale Dimension eine zentrale Rolle: Unterstützung durch Familie, Freunde, Gemeinde und Netzwerke kann Isolation verringern und Schutz bieten. Offene Gespräche und die Ermutigung, Hilfe anzunehmen, sind entscheidend, damit Betroffene nicht allein bleiben.

Sätze wie „ich bin für dich da“, „inscha’Allah schaffen wir das gemeinsam“ oder „wie kann ich dir helfen, soll ich dich z.B. zum Arzt begleiten?“ sind wichtige Signale.

Familie

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Psychosoziale Projekte brauchen Hilfe

Die klinische Praxis in Deutschland und Europa basiert größtenteils auf westlichen Studien, die die einzigartigen kulturellen und religiösen Schutzfaktoren und Risikofaktoren muslimischer Populationen oft unzureichend erfassen.

Die Notwendigkeit einer kultur- und religionssensiblen Betrachtung ist unbestreitbar, insbesondere angesichts der abgezielten Belastungen durch Diskriminierung und Kollektivtrauma.

Nur durch die Integration dieser spezifischen Erkenntnisse kann eine effektive und akzeptierte psychosoziale Versorgung und Suizidprävention in muslimischen Gemeinschaften erfolgen. Auch müssen Imame und Multiplikatoren in Psychosozialer Erste Hilfe ausgebildet werden.

Deswegen sollten unbedingt Organisationen, Gemeinden, lokale Vereine und Projekte unterstützt werden, die sich darauf spezialisiert haben, beispielsweise das Psychosoziale Zentrum für Muslime (www.pzm.center), Parinova e.V. (www.parinova.de), Islamische Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e.V. (www.iase-ev.de) und weitere wichtige Akteure.

Wichtige Links zum Thema

www.islamundpsychologie.de/artikel_6_was_kann_ich_tun-a.htm https://www.islamundpsychologie.de/artikel_6_was_kann_ich_tun-b.htm (Artikel mit islampsychologischen Hilfestrategien und Anlaufstellen

https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depression-in- verschiedenen-facetten/suizidalitaet (Deutsche Depressionshilfe mit vielen Informationen für Betroffene und Angehörige)

www.moodgym.de (Begleitendes Selbsthilfeprogramm bei depressiven Symptomen)

Über den Autoren: Amin Loucif ist deutsch-algerischer Psychologe, psychologischer Psychotherapeut sowie Dozent und Berater, der sich auf die Verbindung von islamischer Seelsorge und moderner Psychotherapie spezialisiert hat. Nach seinem Psychologiestudium erlangte er 2014 den Master of Science an der Universität Düsseldorf und bildete sich danach weiter zum psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Klärungsorientierter Psychotherapie in Bochum.

Er verbindet in seiner Arbeit klassische therapeutische Ansätze mit spiritueller Beratung und nutzt dabei auch Methoden wie die Emotionsregulationstechnik für Muslime (ERT-M). Seine Berufserfahrung reicht von klinischer Rehabilitation für Abhängigkeitserkrankungen über die Familienhilfe bis zur ambulanten Therapie für Jugendliche und junge Erwachsene.

Loucif engagiert sich auch in der islamisch geprägten Gesundheitsförderung, etwa als muslimischer Seelsorger, und gibt regelmäßig Seminare im In- und Ausland, u.a. an Studenten und Imame. Besonders prägend für seine therapeutische Arbeit ist sein Verständnis des islamischen Menschenbilds, das von Respekt, Wärme und Nächstenliebe geprägt ist. Loucif ist auch als Dozent im Bereich der Islamwissenschaften tätig und betreibt eine eigene psychotherapeutische Praxis in Düsseldorf und Wuppertal. Website: www.instagram.com/islamundpsychologie und pzm.center/

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