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Wie gehen wir mit Depression um?

Ausgabe 277

Foto: Pexels.com | Lizenz: CC0 Public Domain

„Niemals habe ich mich mit etwas Schwierigerem befasst als meiner eigenen Seele, die mir manchmal hilft, und sich manchmal mir entgegenstellt.“ Imam Al-Ghazali
(iz). Vor wenigen Wochen telefonierte ich mit einem alten Bekannten, nennen wir ihn Khalid. Wir hatten uns aus den Augen verloren, aber er rief mich zum Ramadan an. Auf meine Frage, wie es ihm denn ginge, meinte er trocken, er habe eine Depression. Ich reagierte überrascht. Der leidenschaftliche Workaholic wirkte doch immer so energetisch. „Na ja“, sagte er gelassen, „in den letzten Monaten bin ich in ein tiefes Loch gefallen“. Zuerst dachte er „Burnout“ – kein Wunder bei seinem Pensum! –, aber Hausärztin, Psychologe sowie Nachdenken hätten ihm den Ernst der Lage klargemacht.
Ortwechsel. Auf Facebook überraschte der US-Prediger Yasir Qadhi mit einem Eingeständnis: Er habe sich geirrt. Früher glaubte er, ein Muslim könne keine Depression entwickeln, wenn er nur einen ausreichenden Glaube habe. „Ich lag daneben, sehr daneben. Depression ist real.“ Und auch wenn Glaube, Familie und andere Faktoren helfen, seien sie keine Garantie , dass sie nicht existiert. „Aber, und ich sage das laut und deutlich, der durchschnittliche Schaikh ist NICHT qualifiziert als Familienberater oder Psychiater“, um bei Depression, Traumata, sexuellem Missbrauch oder Drogensucht zu helfen.
Eine Volkskrankheit
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums gehören depressive Störungen zu den häufigsten und „hinsichtlich ihrer Schwere am meisten ­unterschätzten“ Erkrankungen. Bis 2020 würden sie laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein. Allein bei uns, so das ZDF im November 2017, sollen jährlich rund 5,3 Millionen Menschen „an einer ­behandlungsbedürftigen Depression“ ­erkranken. Laut „Augsburger Allgemeiner“ erhielten 23 Prozent aller Deutschen mindestens einmal im Leben die Diagnose Depression.
Da ist es ernüchternd, wenn das Wissen über diese Erkrankung ihrer Häufigkeit nicht folgen kann. So meine jeder Fünfte, dass sich Betroffene „einfach nur zusammenreißen“ sollten. Ungefähr die gleiche Menge hält „Schokolade für ein gutes Mittel gegen Depressionen“. Schwerwiegender allerdings ist die weitverbreitete Ansicht (ein Drittel), Depressive seien charakterschwach. „Was für ein tristes Studienergebnis! Passend zum trüben Herbstwinter“, endete der Autor.
Die US-Psychotherapeutin Asma ­Maryam Ali zählt in einer Dokumentation des Online-Projektes Glad Tidings Network Anzeichen auf, die für eine Depression sprechen könnten. „Eine Person, die depressiv ist, verliert ihr Interesse an alltäglichen Dingen. Das kann die Arbeit, Kinder oder die Intimität mit dem Ehepartner betreffen.“ Das Gefühl permanenter Müdigkeit sei ebenfalls ein Indikator. Patienten, die zu ihr kämen, ­berichteten oft von starker Ermattung ohne körperliche Ursachen. „Sie schlafen einerseits mehr, aber andererseits in der Nacht nicht mehr so gut.“ Neben grundloser, starker Reizbarkeit erwähnt Ali das „häufigste und deutlichste Anzeichen für eine Depression“: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und Gefühle von Hoffnungslosigkeit. „Ist jemand deprimiert, dann nicht nur für eine Woche oder als Reaktion auf einen Verlust. Das tritt in ihr Leben und ereignet sich Woche für ­Woche, Monat für Monat.“
Wie andere auch, rät Asma Maryam Ali: „Mit den richtigen Leuten darüber sprechen!“ Es sei sehr wichtig, über die inneren Phänomene zu reden, die einen beeinträchtigten. „Mittlerweile erhalten so viele Leute Verschreibungen für ­Antidepressiva von Hausärzten. Viele in der muslimischen Gemeinschaft tun das, aber sie nehmen keine Therapie in ­Anspruch. Das führt dazu, dass Depression medikamentiert wird, aber das ­Phänomen verschwindet nicht.“ Es dominiere die Ansicht, Depression werde durch ein biochemisches Ungleichgewicht im Gehirn ausgelöst. Manchmal ist dieses Ungleichgewicht vorhanden. Und es erhöhe die Neigung zu Depressio­nen, verursache die Erkrankung aber nicht notwendigerweise selbst. Man wird empfindlicher, sollte es dann von außen zu Auslösereizen kommen. Ein Hinweis ist hier der teilweise oder vollständige Verlust des bisherigen „Funktionierens“.
Dr. Ikramuddin Syed, Haus- und Familienarzt in den USA stimmt zu. Er habe in seiner Praxis häufig auch mit psychischen Problemen zu tun. Für ihn seien die Symptome ein Zusammenspiel von Veranlagung und Prägung durch das Umfeld. „Wenn jemand Musik macht, ist es dann das Instrument, das spielt, oder die Person? Die Antwort ist, dass es sich um eine Kombination beider Elemente handelt.“ Wüchsen Kinder beispielsweise in einer Situation auf, in der beide Elternteile deprimiert seien, dann wirke das prägend auf sie und könne zur Entwicklung entsprechender Muster führen. Er habe in seiner beruflichen Praxis regelmäßig beobachten können, wie Kinder beziehungsweise dann Heranwachsende bei entsprechenden „Triggern“ ähnliche Muster manifestiert hätten.
Es braucht Widerstand
Für Asma Maryam Ali ist Widerstandsfähigkeit, oder Resilienz, wichtig. Sie entscheidet über die Entwicklung einer Depression. „Wir alle haben die Neigung zur Depression. Aber einige von uns sind widerstandsfähiger als andere.“ Ein Hinweis auf den Grad dieser Eigenschaft ist das individuelle Gefühl der Sicherheit.
„Eine der Säulen bei meinem Vorgehen ist“, so die Therapeutin, „dass unser Sicherheitsgefühl in der Welt das Gefühl unserer eigenen Stärke bestimmt. Das gilt insbesondere dann, wenn wir noch sehr jung sind.“ Je stärker man sich fühle, desto weniger verletzlich sei man für die uns umgebenden Dinge. Dieser Sach­verhalt werde durch mehrere Dinge ­gefördert: durch eine funktionierende Beziehung zu den Eltern, durch zwischenmenschliche Beziehungen im Laufe des Lebens und durch Widerstandsfähigkeit. Auch das Gegenteil sei der Fall. „Je unsi­cherer wir sind, desto größer ist unsere Neigung zu Depression.“
Zwischen Stigma und hartnäckigen Mythen
Bei Muslimen ist der Umgang mit ­seelischen Erkrankungen alles andere als simpel. Praktiker und Theoretiker ­beklagen noch, dass die Frage nach dem Geisteszustand des oder der Einzelnen mit Tabus und Stigmata behaftet ist. Ein Beispiel dafür war der eingangs erwähnte Yasir Qadhi.
Diese Erfahrung musste die britische Ärztin Sima Barmania in ihrer Kindheit sowie in ihrem persönlichen Umfeld machen. Diese Eindrücke beschrieb sie in einem Artikel für das renommierte Magazin „The Lancet“. Es habe in ihrer Kindheit geheißen, Muslime würden das nicht kennen „Depression gibt es nicht im Islam“, lautete der Chor verschiedener Stimmen. Hieß das, Muslime seien immun für diesen Zustand? Und noch Jahre später habe eine hochgebildete Frau während einer Diskussion gesagt: „Depression gibt es nicht. Wissen Sie, das ist eine westliche Krankheit.“ Nur diejenigen, die schwach im Glauben seien, wären ­davon betroffen. Der unausgesprochene Vorwurf: Depression sei die existenzielle Strafe für etwaiges Fehlverhalten.
Solche Negativwahrnehmungen tragen nicht dazu bei, um bei einem niedrigen Selbstwertgefühl und unerschütterlich negativen Gedanken zu helfen. Diese ­seien oft so alles verzehrend für jene, die Depression erführen. „Solch ein starkes soziales Stigma ist sehr schädlich. Es führt oft dazu, dass Leute eine dringend benötigte Diagnose und Behandlung hinauszögern. Das ist besonders beunruhigend, wenn die Leidenden auch Selbstmordgedanken hegen. Verkompliziert wird das Dilemma, weil im Islam Selbstmord verboten ist.“
Der junge US-Gelehrte Schaikh Omar Husain, der auch einen Abschluss als ­Familientherapeut hat, gehört zu jenen muslimischen Stimmen im Westen, die sich gegen Mythen in Sachen seelischer Erkrankungen und der damit verbundenen Stigmata aussprechen. Husain wendet sich vehement gegen die Vorstellung, Therapie sei etwas für Weiße beziehungsweise Europäer. In den letzten Jahren habe es erheblich Fortschritt hin zu einem multikulturellen Ansatz gegeben. Die existente Vielfalt habe auch Einzug in die Ausbildung gehalten. Deutlich widerspricht der US-Amerikaner der Idee, mentale Probleme seien Zeichen einer „Schwäche“. Das sei einfach nicht wahr. „Geistige Gesundheit ist eine mensch­liche Herausforderung. Wir haben viele Gebete des Propheten, in denen er Zuflucht nimmt vor Traurigkeit, Depression und Trauer. Menschen erfahren diese Dinge.“ Genauso unsinnig sei darüber hinaus die fixe Idee, Beratung oder Therapie leugneten das Vertrauen in Allah. Schaikh Omar Husain ist gegenteiliger Ansicht. „Beratung ist ein Medium, das Allah uns gegeben hat. Die Einnahme von Medizin hebt nicht unser Vertrauen in Allah auf. Wir glauben immer, dass Er es schlussendlich ist, von Dem ­Heilung kommt. Bei der Therapie ist es nicht anders. Der Therapeut ist nur ein Medium. Solange er unsere Werte respektiert, was der Standard ist, stellt die Behandlung nicht Allah als letzte Autorität in Frage.“
Die Psychotherapeutin Kameelah Rashad möchte aber Familie, Freunde und spirituelle Personen wie Imame nicht ganz aus der Behandlung ausschließen. „Wenn Menschen wirklich mit unglaublichen Herausforderungen fertig werden müssen, dann wollen sie diese auch von einer religiösen oder spirituellen Pers­pektive aus verstehen.“ Die Rolle von ­Imamen könne für die Therapeuten und Psychiater eine wirklich wichtige sein. Rashad bezeichnete das Modell als „Zirkel der Fürsorge“. Das liege auch daran, dass viele in der muslimischen Gemeinschaft auf der Suche nach Hilfe zuerst zu ihrem Imam oder ihrer spirituellen Autorität gingen. Für die Therapeutin ist das keine Situation eines Entweder-oder, sondern idealerweise eine, in der alle ­Elemente harmonisch kooperieren.
Zieht man das äußere Umfeld eines Erkrankten in Betracht, muss man die Tatsache anerkennen, dass wir von den Entwicklungen der Welt gleichermaßen getroffen werden. Muslime befinden sich nicht außerhalb des Weltgeschehens und der Richtung, die unsere Gesellschaften eingeschlagen haben. Man kann nicht erwarten, dass Muslime, die auch von existenziellen Krisen betroffen sind, immun gegen Depression seien, bloß weil sie ein „religiöses Leben“ führen. Gerade das Fehlen an Ganzheitlichkeit, ins­besondere in den menschlichen Transaktionen und unserer Verbindung zur Schöpfung als Teil einer Einheit, resultiert in einem seelischen, körperlichen und mentalen Ungleichgewicht.
Warum Therapie?
Neben der medikamentösen Behandlung bietet sich – je nach Art und Schweregrad – auch eine psychotherapeutische Behandlung an. In den meisten Fällen wird sie – für einen bestimmten Zeitraum – von den Kassen ganz oder anteilig ­übernommen.
„Wie oft beobachten wir, dass Menschen mehrere Jahre in einer Situation verharren, obwohl sie darunter leiden? Veränderung und Neuanpassung sind nicht immer leicht, also warum dies allein wagen? Warum nicht im Kontext einer Psychoanalyse oder Psychotherapie?“, fragt der Psychotherapeut Aaroun Schabel. Er ist in Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten im Verfahren der Tiefenpsychologisch fundierten ­Psychotherapie und Vorsitzender der Isla­mischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e.V. (IASE).
„Psychotherapie zielt darauf ab, mit Hilfe von wissenschaftlich erprobten ­Methoden, psychische Krankheiten zu behandeln, indem das leidverursachende emotionale Erleben und Verhalten konstruktiv verändert wird. Die Methoden sind recht unterschiedlich, von der Psychoanalyse zur systemischen Therapie bis hin zur Verhaltenstherapie gibt es viele, unterschiedliche Verfahren, die jedoch eines gemeinsam haben: Die Veränderung innerer Prozesse, sodass psychisches Leiden verringert und der berufliche und private Alltag besser bewältigt werden können“, beschrieb die Psychotherapeutin Sarah Owega vor einigen Jahren im Gespräch mit der IZ ihren Berufszweig.
Meist gehe es dabei um die Veränderung von ausgeprägten psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen, Panikattacken, Zwangserkrankungen oder ähnlichen Problemfeldern, die einen erheblichen Leidensdruck für die Betroffenen verursachen. Für Aaroun Abdarrahim Schabel sind die Symptome, welche die Betroffenen dazu veranlassen, sich fachkundige Hilfe zu suchen, nicht nur schlecht. „Das Symptom hat eine Funktion. Für den Analytiker sind die während der Behandlung neu entstehenden Symptome auch ein Zeichen für den Beginn einer Veränderung, die in den ­allermeisten Fällen zu etwas Besserem führen kann. Genau dasselbe gilt für Symptome im Vorfeld einer Therapie. Sie sind weise Hinweise auf die unbewusste Auflehnung des Ich gegen die Leid erzeugenden Anforderungen der Umwelt. Nehmen wir sie ernst, können wir sie für positive Veränderungen in ­unserem Leben verwenden.“
Und Khalid? Ich habe mit ihm vor wenigen Tagen noch gesprochen. „Ich bin erleichtert.“ Nach dem Anfang mit einem Antidepressivum und den ersten beiden Therapiesitzungen fühle er nicht nur, dass „sein Fall“ aufgefangen worden sei. Er sei auch dankbar, dass Allah ihn „mit der Nase auf seine Probleme“ gestoßen habe. Khalid sehe seine Depression darüber ­hinaus als Antrieb, sein Leben in Augenschein zu nehmen und positiv zu ändern.