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Syrien: Die Schuld am Scheitern

Ausgabe 274

Foto: Qasioun News Agency | Lizenz: CC BY 3.0

Auch dringende Appelle wie der vom UN-Sicherheitsrat änderten nichts an der Lage. Währenddessen leugnete Damaskus jegliches Fehlverhalten. Der Regierung wurden auch Angriffe mit chemischen Kampfstoffen vorgeworfen.
(IPS). Trotz anhaltender Rufe nach einer Waffenpause hielten die Angriffe auf das syrische Gebiet von Ost-Ghouta in den letzten Monaten und Wochen an. Seitdem ist der Zugang humanitärer Helfer zur eingeschlossenen Enklave extrem eingeschränkt. Die Helfer sind frustriert und erschüttert. Die Nachrichtenagentur IPS sprach mit dem Berater für den UN-Sondergesandten zu Syrien und Generalsekretär des norwegischen Flüchtlingsrates, Jan Egeland, über die humanitäre Krise in Ost-Ghouta – und in ganz Syrien.
Frage: Würden Sie zustimmen, dass der Konflikt in Syrien gegenwärtig die schlimmste Krise ist, vor der die Welt steht?
Jan Egeland: Der Syrienkonflikt ist der blutigste, den wir in einer Generation beobachten. Er ist auf zwei Weisen schrecklich einmalig. Erstens sahen wir beispiellose brutale Gewalt, die in dem siebenjährigen Krieg unterscheidungslos gegen Zivilisten eingesetzt wurde. Ich kenne keinen anderen Ort auf der Erde, in dem annähernd so viele Kinder, Mütter und Väter um ihr Leben fliehen, ermordet oder verstümmelt werden. Alleine im Januar floh eine Viertel Millionen Menschen aus ihren Wohnorten – manche für das zweite, dritte oder vierte Mal.
Zweitens ist Syriens erbarmungsloser Krieg einmalig. Denn die Konfliktparteien spezialisierten sich darauf, Hilfsorganisationen den Zugang zu den eingeschlossenen und in den Kämpfen gefangenen Gemeinschaften zu verweigern. Jeden Tag sterben Zivilisten grundlos, weil Helfer daran gehindert werden, ihnen dringend benötigte Medizin, Wasser und Lebensmittel zu bringen.
Frage: Was sind die drängendsten Bedürfnisse vor Ort in Ost-Ghouta?
Jan Egeland: Das belagerte Ost-Ghouta erlebt eine echte menschliche Katas­trophe. 400.000 Zivilisten sind hier ohne sicheren Ausweg gefangen. Alleine im Februar wurden 24 Angriffe gegen zivile Ziele innerhalb von fünf Tagen berichtet. Dazu gehörten 14 Krankenhäuser, drei Gesundheitszentren und zwei Ambulanzen.
Das internationale Völkerrecht wurde geschaffen, um Attacken gegen Zivilisten und medizinische Einrichtungen zu verhindern. Heute gibt es in Ost-Ghouta und in anderen belagerten Gemeinschaften Syriens überhaupt keinen Respekt vor dem internationalen Recht.
Humanitär braucht es am dringendsten eine echte Pause in den Kämpfen, auf die sich alle Seiten einigen. Hilfsorganisationen muss der Zugang erlaubt werden, damit sie Dienstleistungen erbringen sowie die Verwundeten und Kranken evakuieren können. Der Konvoi, der Douma am 5. März erreichte, war eine Ausnahmeleistung.
Russische Vorschläge für zeitlich begrenzte Pausen sind weder lang genug, noch stimmen ihnen alle Seiten zu. Als Folge suchen Zivilisten weiterhin ­Zuflucht vor Gewalt und fliehen vor der ablaufenden Bodenoffensive. Sie haben wenig oder keinen Zugang zu grundlegendsten Dienstleistungen.
Frage: Haben die Vereinten Nationen genug getan, um der Zivilbevölkerung vor Ort zu helfen?
Jan Egeland: Die UN-Agenturen und -Organisationen sind bereit und willig, so viel mehr zu tun, um Zivilisten in Ost-Ghouta und in ganz Syrien zu helfen. Aber uns wurde von den verschiedenen Parteien kein Zugang nach Ost-Ghouta erlaubt. Unsere Lastwagen sind voller ­lebensrettender Medikamente, unsere Lagerhäuser sind angefüllt mit Lebensmitteln. Was wir brauchen, ist eine Garantie von den Konfliktparteien, dass die Helfer und die Konvois beim Eintreffen in die belagerten Gebiete nicht angegriffen werden. Hilfsorganisationen und ihre Partner in der Enklave selbst haben ihre Arbeiten eingestellt, da sie selbst in die Schusslinie der Gewalt geraten.
Vor dem Geleitzug nach Douma konnte nur eine Hilfslieferung erfolgreich über die Konfliktlinien in Syrien zugestellt werden. Das war in den letzten acht Wochen [Stand: 5. März] einer von 25 Konvois, die wir angefordert haben. Er erreichte 7.200 Menschen der Ortschaft Nashabiya in der Region von Ost-Ghouta. Vor dem Lieferzug nach dar Khabira in der Nähe von Homs am 3. März konnten wir niemanden unter den 2,5 Millionen Zivlisten erreichen, die in den hart umkämpften Konfliktlinien leben.
Frage: Sie sagten den Mitgliedsstaaten der humanitären Arbeitsgruppe, dass sie bei der Hilfe für Syriens Zivilbevölkerung versagen. Warum war das Ihrer Meinung nach nötig?
Jan Egeland: Meine Botschaft war schroff, aber deutlich. Sie sind verantwortlich für das Scheitern, dem syrischen Volk zu helfen. Viele Staaten haben die Macht zur Beendigung dieses menschlichen Alptraum, aber entschieden sich dafür, es nicht zu tun. Wir rufen Russland, den Iran, die USA, die Türkei und die Golfstaaten, die Einfluss in Ost-Ghouta haben, uns mit einigen Dingen zu helfen: die Waffen niederzulegen, nachhaltige Lieferung von Hilfe und grundlegenden Dienstleistungen in allen Teilen Ost-Ghoutas zu verteilen sowie die medizinische Evakuierung von 1.000 sehr kranken Menschen zu ermöglichen. All das ist möglich, wenn die mächtigen Akteure die Konfliktparteien unter Druck setzen.
Frage: Reicht der Vorschlag zu einer täglich fünf Stunden dauernden Waffenruhe für die Hilfe der Zivilbevölkerung aus? Und glauben Sie, dass Resolutionen des Sicherheitsrates  umgesetzt werden?
Jan Egeland: Ich kenne keine Hilfsorganisation, die der Ansicht wäre, fünf Stunden täglich wären genug, um Hilfe nach Ost-Ghouta zu bringen, oder um ausreichende medizinische Evakuierungen zu organisieren. Wir setzen uns mit Russland und anderen einflussreichen Mächten zusammen, um zu sehen, ob sie mit allen Seiten verhandeln können, wonach eine humanitäre Pause anerkannt wird. Außerdem geht es um eine angemessen Zeitspanne.
Der UN-Sicherheitsrat versprach eine einmonatige Feuerpause, die uns die Arbeit ermöglicht hätte, wäre es respektiert worden. Während alle Augen nach Ost-Ghouta gerichtet sind, gibt es Dutzende anderer Ort in Syrien – wie die Provinz Idlib, wo mehr als eine Millionen Binnenflüchtlinge leben –, in denen die Gewalt anhält und die Zivilbevölkerung die Hauptlast des Konfliktes tragen muss.
Frage: Wer trägt die Verantwortung für das Fehlen an humanitärem Zugang? Waren die UN unwillig, hier Druck zu machen, oder liegt die Verantwortung hauptsächlich bei den kämpfenden Parteien?
Jan Egeland: Der Hauptgrund für mangelnden Zugang ist, dass die syrische Regierung die so genannten „Erleichterungsschreiben“ ablehnt, die nötig sind, um die Sicherheitskräfte dazu zu bringen, Hilfskonvois zu beladen. Die UN waren die Hauptkraft, um Zugang zu schwer erreichbaren und belagerten Gebieten zu erlangen. Bei der Regierung sowie einigen bewaffneten Gruppen verhärten sich die Einstellungen. Der auf die syrische Regierung und andere Konfliktparteien ausgeübete Druck von UN-Mitgliedern ist wenig effektiv.
Frage: Was sollten die nächsten Schritte der internationalen Gemeinschaft sein? Ist Zugang zu Ost-Ghouta in naher Zukunft absehbar?
Jan Egeland: Wir hoffen auf neue Konvois, nachdem uns bei Douma der Durchbruch gelang. Wir konnten hier nur 27.000 helfen und das geschah unter angrenzendem, anhaltendem Beschuss. Unser nächster Schritt wird sein, mit Russland, den USA und allen einflussreichen Mächten zusammensitzen, damit die bewaffneten Gruppen einer Übereinkunft zustimmen, um der Zivilbevölkerung zu helfen. Das ist machbar, wenn die Einflussreichen sich dazu entscheiden, ihren Einfluss gut einzusetzen.