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Wer mäßigt die Taliban? Ein Kommentar über realpolitische Herausforderungen

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Berlin (iz).

(iz). Es gehört zu den berühmten Erkenntnissen Machiavellis, dass die erfolgreiche Eroberung eines Gebietes durch den Fürsten, vom Volk schnell beklatscht wird, auch wenn die angewandten Mittel dazu weder gerecht noch angemessen waren. Die Idee, dass erhabene Ziele die gewählte Umsetzung rechtfertigen, wurde später zu einem der Leitgedanken moderner Politik.

Der Plan der Eroberung und Demokratisierung Afghanistans mit militärischer Macht wurde in den USA entworfen, ohne dass die Strategie je einer faktischen, rechtlichen oder moralischen Prüfung unterzogen wurde. Der Westen wurde schmerzhaft an die Weisheit erinnert, dass man Alliierte am Hindukusch mieten, aber auf Dauer nicht kaufen kann. Die Kosten für das geopolitische Abenteuer waren gigantisch und zum größten Teil ein profitables Geschäft für die Militär- und Sicherheitsindustrie.

Das Scheitern der Allianz in dem Vielvölkerstaat zwingt die Muslime das neue Regime in dem Land, das sich ausdrücklich auf den Islam beruft, zu beurteilen. Unsere Sympathie gehört dabei zunächst allein der geschundenen Zivilbevölkerung, die wahrlich eine bessere Zukunft verdient. Viele Muslime befürchten zu Recht, dass das sogenannte Emirat das Ressentiment gegen die eigene Präsenz in der Öffentlichkeit weiter anheizen wird.

Die Produktion von Bildern, die einen archaischen und rückwärtsgewandten Islam zeigen, graben sich tief in das kollektive Bewusstsein der Europäer ein. „In einer Affektkommunikation“, schreibt der Philosoph Byul Chun Han in seinem Buch Infokratie, „setzen sich nicht die besseren Argumente, sondern Informationen mit größerem Erregungspotential durch“. Der Eindruck entsteht, dass die Taliban die afghanische Bevölkerung oder die islamische Lehre repräsentieren.

Hinzukommt, dass die zu verarbeitenden Berichte über die komplizierte Lage in dem Land so umfangreich geworden sind, dass sie die begrenzte Rationalität von Individuen übersteigt. Die Verführung zur Vereinfachung ist greifbar bis hin zu der dialektischen Logik: Wir sind gut, weil sie so böse sind. Die moralische Freisprechung aller handelnden Akteure in der Region dürfte bei genauerem Hinsehen eher schwerfallen. Wer die Geschichte Afghanistans verstehen will, muss lernen, dem Anderen zuzuhören und eine alternative Sicht zuzulassen. Eine Übung, die nach Ansicht  von Byul Chun Han in unserer auf schnelles Urteilen angelegten Infokratie in Vergessenheit zu geraten droht: „Die Wahrheit im emphatischen Sinne hat einen narrativen Charakter. Daher verliert sie in der entnarrativisierten Informationsgesellschaft radikal an Bedeutung.“

Unabhängig vom Wissensstand über die geopolitischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte sind die Vorbehalte gegenüber dem aktuellen Regime zweifellos berechtigt. Sie werden von Muslimen geteilt. Das Bild bewaffneter militärischer Milizen, die neben einem predigenden Imam stehen, lassen ahnen, dass ein neuer afghanischer Staat – oder wie immer man das Gebilde definiert – schlimmstenfalls eine Symbiose autoritärer Machenschaften mit einer religiösen Ideologie darstellt. Im Westen denkt man hier an neue Formen des Faschismus. So kann es kommen, muss es aber nicht.

Der Siegeszug der Taliban, ursprünglich eine kleine Minderheit, erklärt sich nicht aus der Überzeugungskraft ihrer Lehre. Die Machtergreifung ermöglichte in erster Linie die Apathie der verzweifelten afghanischen Bevölkerung, die lange Jahre vergeblich auf so etwas wie Frieden – auf Grundlage eines gerechten Nomos – wartete. Die Option eines endlosen Bürgerkrieges nach dem Abzug der Amerikaner ließ nicht nur die Einheimischen resignieren, sondern ebenso Anrainerstaaten in der Region. Die Versuchung ist für alle Beteiligten groß, sich mit der gegebenen Lage zu arrangieren. Spätestens seit den Geheimverhandlungen der USA mit den Partisanen sind Verhandlungen mit der neuen afghanischen Regierung kein Tabu mehr. Fakt ist, die neuen Machthaber verfügen über ein rohstoffreiches, aber verarmtes Land und beherrschen die verängstigte Zivilgesellschaft. Das mag man beklagen – nur die Würfel sind gefallen.

Nicht nur die muslimischen BürgerInnen sind gespannt, wie unsere Regierungen nach dem Ende der militärischen Phase eine neue Realpolitik zu Afghanistan entwerfen werden. Wer sich um das Wohl der Bevölkerung sorgt, muss befürchten, dass der Krieg mit ökonomischen Mitteln und auf dem Rücken der Armen fortgeführt wird. In diesem Fall wird Kabul der Geldhahn zugedreht und damit ein Aufbegehren und Aufstände der Zivilbevölkerung provoziert. Eine andere, ebenso destruktive Möglichkeit, wäre es, neue Partisanengruppen zu schaffen, die den Kampf gegen die Taliban fortsetzen. Hier käme die alte militärische Einsicht ins Spiel, dass man Partisanen nur mit Partisanen bekämpfen kann. Beide Ansätze werden kaum zu einer Befriedung der Lage führen.

Entscheidend wird sein, ob der Westen bereit ist, das neue Machtgebilde als Staat anzuerkennen. Die Folge wäre ein Wechsel des Status von feindlichen Terroristen hin zu einer politischen Anerkennung. Diesen Weg hat die Strategie der Amerikaner, mit den Taliban Geheimverhandlungen zu führen, im Grunde vorgezeichnet. Bedingung für diesen Dialog war die Bereitschaft des Feindes, künftig auf die Unterstützung des internationalen Terrors zu verzichten. Diese Ankündigung ermöglicht die rechtliche Unterscheidung zu dem kriminellen IS-Staat im Irak. Die Taliban selbst haben das Wort Kalifat, das für die Idee eines globalen Machtanspruchs steht, nie benutzt. Damit ist die Einhegung der neuen Macht in ein regionales Phänomen zumindest denkbar.

Die Türkei, China und Russland nehmen die geopolitischen Fakten zur Kenntnis und werden versuchen ihrerseits den Expansionswillen der Taliban zu begrenzen. Gelingt es, sie in diesem Sinne einzuschränken, wäre sogar ein dauerhafter Frieden denkbar. Die Frage nach der Möglichkeit der Mäßigung der politischen Führung in ihrem Herrschaftsgebiet stellt sich trotzdem. Wer hofft, dass der militärischen Niederlage eine schnelle Manifestation des westlichen Wertesystems folgt, träumt. Nüchtern betrachtet ist der eurasische Kontinent zum größten Teil keine Demokratie mehr.

Man könnte in dieser Situation auf die Idee kommen, dass eine Gemeinschaft von Millionen europäischer Muslime, die über eine beachtliche Zahl von Gelehrten und Intellektuellen verfügen, auf die Taliban einen Einfluss ausüben könnte. Die Ablehnung von Selbstmordattentaten, jeder Form des Terrorismus sowie die Forderung nach Frauenrechten gehören zum, aus den islamischen Quellen begründeten, Standardrepertoire muslimisch gebildeter Kreise. Hinzukommt ihre historisch gewachsene Überzeugung, wonach jede Ideologie in trostlosen Systemen endet. Erinnert man die „Gelehrten“ der Bewegung zum Beispiel an die sozio-ökonomischen Dimensionen des Islams, wären einer rein poltisch-ideologischen Interpretation des Glaubens erste Schranken gesetzt. Über Jahrhunderte war ein sicheres Zeichen für eine „Islamisierung“ eines Gebietes die Einrichtungen der Stiftungen und die führende Rolle der Frauen im Management dieser Sphäre. Der Islam ist kein Nomos, der alle Lebensbereiche politisiert.

Es ist fraglich, ob die Taliban der Praxis des Einholens guten Rates folgen und in einen ernsten Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften eintreten. Einen Versuch wäre es wert. Die Hoffnung, dass sie selbst einen Veränderungsdruck wahrnehmen, sollte angesichts der faktischen Lage in Kabul zuletzt sterben. Die Idee, ein mittelalterlich anmutendes Fantasieland der Religion einzurichten, ist zum Scheitern verdammt. Man wird sehen, ob Andeutungen ihrer Führung, einen gemäßigteren Kurs einzuschlagen, sich bewahrheiten sollten. Dieser Wandel wäre sicher der einzige Weg, dass die Isolation der Taliban in der Welt ein Ende erfährt. Ansonsten wird man nur ein weiteres, drastisches Beispiel für das Scheitern von ideologisierten Muslimen im 21. Jahrhunderts beobachten. 

Der Gedanke der Einbindung von europäischen BürgerInnen muslimischen Glaubens in die westliche Außenpolitik scheint im Moment utopisch zu sein. Im Westen werden religiös gebildete Menschen zu schnell in das Lager der „Islamisten“ abgeschoben. Deswegen fehlt es an politischer Kreativität, die diversen Stimmen der Zivilgesellschaft Europas in eine konstruktive, realpolitisch geprägte Strategie stärker einzubinden. Bisher gab es derartige Kooperationen nur auf dem Schlachtfeld. Hier allein waren zumindest die Amerikaner kreativ, sogar mit ausgewiesenen Radikalen aller Länder zusammenzuarbeiten.

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Den Afghanen geht das Bargeld aus

Kabul (dpa/iz). Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan geht den Menschen zunehmend das Bargeld aus. Einwohner Kabuls berichteten der Deutschen Presse-Agentur, die Geldautomaten in der Stadt seien praktisch leer. Banken und auch der Geldwechslermarkt seien seit einer Woche geschlossen. „Alle in der Stadt beschweren sich mittlerweile, dass sie kein Geld abheben können“, sagte ein Bewohner.

Ein Mann sagte dem lokalen TV-Sender ToloNews, seine Bank habe zudem eine Obergrenze für Abhebungen eingeführt. Wenn denn ein Geldautomat doch noch befüllt sei, könne man nur 10.000 Afghani (rund 100 Euro) abheben. Viele drücke die Sorge, dass sie angesichts der aktuellen Krise überhaupt nicht mehr an ihr Geld kommen.

Auf der Facebook-Seite des Finanzministeriums hieß es in der Nacht zu Sonntag, die Zentralbank, private Banken und andere Finanzinstutionen nähmen bald wieder ihren Betrieb auf. Gleichzeitig wurde das „technische Personal“ des Ministeriums aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren.

Andere Ministeriumsmitarbeiter sollten eine Entscheidung der Finanzkommission der Taliban abwarten. Es hieß zudem, alle zivilen Staatsangestellten würden ab dem Beginn der „neuen islamischen Regierung“ wieder wie früher bezahlt werden.

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Zurück bleibt das Chaos: Safran-Bäuerinnen aus Herat berichten

Die Zukunft Afghanistans ist nach der Machtübernahme der Taliban ungewiss. Im Folgenden dokumentieren wir einen Text des Berliner Projekts Conflictfood von Safran-Bäuerinnen aus Herat.

Das junge Unternehmen möchte durch fairen Handel die Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Handelspartner in verschiedenen Ländern durch den Verkauf hochwertiger Lebensmittel verbessern helfen. „Wir möchten einen positiven Beitrag zur Veränderung leisten und Bewusstsein schaffen für die globalen Zusammenhänge und einen politisch motivierten Konsum“, heißt es auf der Firmenseite. Deshalb würden die Macher selbst an die Konfliktherde dieser Welt reisen, wo sie nach landestypischen Spezialitäten suchen und mit Bäuerinnen und Bauern vor Ort handeln. „Ehrlich. Direkt. Und fair.“

Berlin/Herat (Conflictfood). Wie ihr wisst handeln wir seit 5 Jahren mit Safran-Bäuerinnen in Afghanistan. Natürlich verfolgen wir die aktuellen politischen Geschehnisse vor Ort und sorgen uns um unsere Projektpartner*innen und ihre Familien. Heute haben wir sie endlich telefonisch erreicht – allen geht es gut! Sie bleiben in ihren Häusern und gehen aktuell nicht ihrer Arbeit nach. Sie bleiben in den Dörfern und haben nicht vor nach Turkmenistan oder in den Iran zu fliehen.

Derzeit ist es vollkommen unklar, wie es weiter geht und die Frauen warten ab, wie sich die Situation entwickelt. Laut offiziellen Verlautbarungen heisst es, Frauen dürfen künftig zur Arbeit gehen und ihrer Ausbildung nachkommen. Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat und wir können nur abwarten, ob wir diesen Worten glauben schenken können.

Taliban & Opium

Die Frage steht im Raum: Können die Bäuerinnen im Oktober auf ihre Felder, um Safran zu ernten!? Die Frauen haben die Befürchtung, dass sie in Zukunft wieder Schlafmohn auf ihren Feldern anbauen müssen. 

Der Opiumhandel bleibt, nebst dem Abbau von wertvollen Erzen und Seltenen Erden, eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Taliban. Obwohl das Geschäft mit Drogen unislamisch ist und im Zuge der ersten Machtergreifung, vor über 20 Jahren, von der Führungsriege verboten wurde, war der Westen letztes Jahr bereit den Taliban 400 Millionen USD für das Afghanische Opium zu zahlen.

Die Präsenz der Taliban ist für die Bäuerinnen grundsätzlich nichts Neues, weil diese de-facto schon über zwei Jahrzehnten in Herat und in anderen Provinzen vertreten sind. Die afghanische Regierung und die westlichen Truppen haben nie mehr als die Hälfte des Landes kontrolliert.

Der mutige Umstieg der Bäuerinnen, von der Opiumherstellung zum Anbau von Safran, war von den Taliban geduldet. Die Frauen konnten ihnen in den letzten Jahren aus dem Weg gehen oder sich mit ihnen arrangieren. Neu ist heute: die Machtposition der Taliban, ihre Ausdehnung in die Großstädte und die künftige Teilhabe an der afghanischen Regierung.

Die Rolle des Westens

Sowohl der politische Umschwung, das Komplettversagen der NATO, die sich um ihre Verantwortung drückt und als erste das sinkende Schiff verlässt, und das Land im Chaos hinterlässt, als auch der komplette Rückzug der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, stellt alle Menschen in der Region vor neue, große Herausforderungen. Nun scheint es, dass die Guten das Land verlassen, in das sie vorher völkerrechtswidrig einmarschiert sind, und die Bösen die Macht übernommen haben – so ganz stimmt dieses nicht.

Die NATO-Staaten sind gescheitert und eine ehrliche Reflexion dieses schandvollen „Krieg gegen den Terror“ wird es nicht geben. Die deutsche Bundesregierung und alle Parteien haben jedes Jahr für diesen Einsatz gestimmt, den die Grünen und die SPD 2001 erst mit ermöglicht haben. Das selbsternannte internationale „Friedensbündnis“ wird seine eigenen Kriegsverbrechen nicht aufarbeiten. Dieses Bündnis hat mit Menschenrechtsverletzern und Drogenbaronen zusammengearbeitet, hat eine korrupte Regierung jahrelang gestützt, hat selbst gefoltert und über 200.000 Zivilist*innen in seinen Einsätzen getötet.

Wie geht es weiter?

Unsere Mission – durch Handel einen Wandel zu erwirken – ist nun wichtiger denn je!

Wir glauben weiterhin an eine selbstbestimmte Zukunft für die Menschen im Land und halten dich auf dem Laufenden, sobald es weitere Nachrichten aus Afghanistan und vom Frauenkollektiv gibt.

Kontakt: https://conflictfood.com

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Führt die Machtübernahme der Taliban zu einer Wirtschaftskrise?

Afghanistan übernahmen die Taliban in Windeseile. Nun beginnen die Mühen der Ebene: das Regieren eines armen Landes. Wichtige Geber haben Hilfen erstmal eingefroren. Den Taliban könnte bald das Geld ausgehen – sie haben aber auch Trümpfe in der Hand. Von Jürgen Bätz

Washington/Kabul (dpa/iz). Nach der Machtübernahme ist vor der nächsten Krise: Afghanistans Wirtschaft steht ein schwerer Einbruch bevor, im Land sind Armut und Hunger verbreitet, der Regierung geht das Geld aus. Die Taliban haben in Kabul das Zepter übernommen, aber nun müssen die selbst ernannten Gotteskrieger erstmals seit einer Generation wieder ein Land regieren. Sie müssen versuchen, für Stabilität zu sorgen und für geschätzt 37 Millionen Menschen eine Grundversorgung sicherzustellen. Die gestürzte Regierung konnte dafür auf massive Hilfe aus dem Ausland bauen. Die Taliban hingegen könnten eher auf das brutale Eintreiben von Steuern und auf den Handel mit Opium setzen.

Ausländische Geber, allen voran die USA, Deutschland und andere Europäer, finanzierten in dem armen Land nach US-Angaben zuletzt rund 80 Prozent der Ausgaben der Regierung. Nun liegen milliardenschwere Hilfszusagen auf Eis. Auch auf eine andere mögliche Geldquelle, die im Ausland gehaltenen afghanischen Währungsreserven von rund neun Milliarden US-Dollar, haben die Taliban vorerst keinen Zugriff.

Für die Zukunft der Menschen in Afghanistan ist es nun entscheidend, welchen Weg die Taliban einschlagen werden: Wird es ein brutales Regime geben, das Afghanistan international zu einem Paria-Staat macht? Oder wird es eine zwar islamistische, aber dennoch etwas gemäßigtere Regierung geben, die auf eine Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft setzt, um für die arme Bevölkerung Hilfen zu bekommen?

Seit dem Sturz der Taliban vor 20 Jahren ist die Wirtschaft sehr stark gewachsen. Die internationale Unterstützung für Afghanistan machte 2020 nach Angaben der Weltbank aber mehr als 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes von rund 20 Milliarden US-Dollar aus. Trotz der Hilfen gehört Afghanistan einem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen (UN) zufolge weiter zu den ärmsten Ländern der Welt (Platz 169 von 189 Staaten). Aktuell ist die humanitäre Lage wegen einer schlimmen Dürre, der Corona-Pandemie und den Folgen des jahrzehntelangen Konflikts besonders kritisch. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt UN-Angaben zufolge in Armut und ist auf Unterstützung angewiesen, darunter etwa zehn Millionen Kinder. Das Welternährungsprogramm (WFP) schätzt, dass rund 14 Millionen Menschen nicht genug zu Essen haben.

Von 1996 bis 2001 regierten die Taliban in Afghanistan mit einer extrem strikten Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia. Frauen und Mädchen hatten damals kaum Rechte, Verbrechen wurden drakonisch bestraft – mit teils barbarischen Mitteln bis hin zu Steinigungen. Sollte es wieder so kommen, dürften die meisten ausländischen Geber fern bleiben. Im Fall einer humanitäre Katastrophe dürften mehr Afghanen die Flucht ins Ausland anstreben, auch nach Europa.

Eine isolierte Regierung der Taliban wäre jedoch keineswegs mittellos. In Gebieten, die sie schon bisher kontrollierten, standen sie im Ruf, Steuern und Zwangsabgaben konsequent – und teils auch brutal – einzutreiben. Außerdem haben sie im großen Stil Schutzgeld erpresst. Unter anderem mit diesen Einnahmen finanzierten die Islamisten auch den Kampf gegen die Regierung. Zudem haben die Taliban nun zwei Trümpfe in der Hand: den Handel und das Opium.

Die Einnahmen durch Zollgebühren, also aus dem Handel mit dem Iran, Pakistan und anderen Nachbarn, dürften wieder kräftig sprudeln, sobald im Land eine gewisse Stabilität eingekehrt sein wird. Hinzu kommt der illegale, aber lukrative Anbau von Schlafmohn, aus dem Opium hergestellt wird. Dabei geht es um viel Geld: Afghanistan produziert UN-Angaben zufolge rund 85 Prozent des weltweit hergestellten Opiums – Grundstoff von Heroin. Die Taliban können bei Anbau, Herstellung und Handel die Hand aufhalten und Gebühren einfordern. Gleiches gilt für die Herstellung der Droge Methamphetamin.

Während ihrer früheren Regierungszeit hatten die Taliban den Anbau von Opium zeitweise offiziell verboten. Berichten zufolge blieb der Handel mit dem Stoff aber stets eine extrem wichtige Einnahmequelle für sie. Bei der ersten öffentlichen Pressekonferenz des Taliban-Sprechers in Kabul vor wenigen Tagen versicherte Sabiullah Mudschahid, dass man vom Drogenanbau künftig Abstand nehmen werde. „Wir versichern unserer Nation und der Welt, dass Afghanistan nicht das Zentrum der Opiumproduktion sein wird“, sagte Mudschahid. Und fügte eine persönliche Note hinzu, um sein Anliegen zu unterstreichen: Es habe ihn sehr traurig gemacht, als er nach seiner Ankunft in Kabul Jugendliche sah, die Drogen nahmen.

Eine weitere Geldquelle ist der Bergbau und der Export von Mineralien und Edelsteinen. Auch müssen die Taliban künftig weniger für Waffen ausgeben, denn sie haben direkten Zugriff auf die Ausrüstung der zuletzt rund 300.000 Mann starken afghanischen Sicherheitskräfte – die über Jahre hinweg maßgeblich vom US-Militär hochgerüstet worden waren.

Doch Waffen und Nachtsichtgeräte kann man nicht essen. Das UN-Nothilfebüro (OCHA) warnte jüngst: „Die humanitäre Krise in Afghanistan verschärft sich rapide.“ Der Vormarsch der Taliban habe zu neuen Fluchtbewegungen geführt. „Die Menschen in Afghanistan brauchen unsere Hilfe jetzt mehr denn je“, hieß es in einem gemeinsam Appell der Helfer.

Die internationale Gemeinschaft setzt nun auf Abwarten und scheint zu hoffen, die Hilfsgelder als Druckmittel nutzen zu können, um zumindest eine Mäßigung der Taliban zu erreichen. Ohne internationale Anerkennung sei es schwer, das Land zu regieren und die Wirtschaft in Schwung zu bringen, sagte am Freitag der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Die Anerkennung sei für jede künftige Regierung wichtig, denn „Afghanistan wird mehr als fast jedes andere Land der Welt auf internationale Unterstützung angewiesen sein“.

Möglich wäre auch eine Anerkennung nur durch Nachbarländer, darunter zum Beispiel Pakistan und die Großmacht China, denen vor allem an Stabilität in der Region gelegen ist. Das würde den Handel vereinfachen, große Hilfszahlungen wären aber wohl kaum zu erwarten.

Den größeren Teil der Hilfen für Afghanistan – die Entwicklungshilfe in Höhe von 250 Millionen Euro – hat Deutschland nach der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Die humanitäre Hilfe für Notleidende läuft aber weiter. Die USA, der größte bilaterale Geber, hatten allein für nächstes Jahr mehr als drei Milliarden Dollar an Hilfen eingeplant. Und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) sollte Afghanistan in Kürze eine Erhöhung der Reserven bekommen, die dem Land rund 450 Millionen US-Dollar Liquidität verschaffen sollte.

Weil in Afghanistan bislang deutlich mehr US-Dollar ausgegeben als eingenommen wurden, war die Zentralbank zudem auf regelmäßige Lieferungen von US-Bargeld angewiesen. Angesichts des Vormarsches der Taliban hat Washington den Nachschub aber gestoppt. Der Mangel an Devisen könnte zu Kapitalkontrollen, einer Begrenzung von Abhebungen und zu einem Verfall des Kurses der örtlichen Währung führen, des Afghani. Weil das Land viele Waren importiert, könnte dies auch die Inflation in die Höhe schnellen lassen – was vor allem ärmere Afghanen hart treffen würden. Zudem sind die Taliban bislang noch mit Sanktionen belegt, was jegliche Transaktionen erschweren dürfte.

US-Präsident Joe Biden machte am Freitag klar, dass humanitäre Hilfen für Afghanistan nun vom Verhalten der Taliban abhängen. Sie hofften, „eine gewisse Legitimität zu gewinnen“, sagte Biden. „Sie werden einen Weg finden müssen, wie sie das Land zusammenhalten.“ Mögliche Hilfen sollen davon abhängen, wie gut die Taliban die Afghanen behandeln, insbesondere Frauen und Mädchen, wie Biden betonte. Es werde „scharfe Bedingungen, starke Bedingungen“ geben.

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Hintergründe zu den geopolitischen Folgen des Machtwechsels in Afghanistan

Frieden

Der Westen ist auf dem ersten Blick der große Verlierer des Machtwechsels in Kabul. Die Taliban dürften aber an Hilfen und Waren interessiert sein. Während China und die Türkei auf mehr Einfluss hoffen, ist die Lage für Indien äußerst knifflig. Von dpa-Korrespondenten

Berlin (dpa). Der Umsturz in Afghanistan kam plötzlich, seine Folgen für die Menschen vor Ort sind dramatisch. Außenpolitisch wird sich für viele Staaten nach den hektischen Rettungsaktionen dieser Tage die Frage stellen: Wie weiter mit diesem Land, in dem nun eine militante Gruppe über die Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen entscheidet? Ist Kooperation möglich oder ist die Isolierung Afghanistans im globalen Konzert der Mächte angesagt? Während die USA erstmal schnell weg wollen vom Hindukusch, sinnen China und die Türkei auf mehr Einfluss in der Region. Für Indien könnte sich der Machtwechsel derweil zu einem herben Schlag für die globalen Einflussmöglichkeiten erweisen. Ein Überblick über die Interessen der einflussreichsten Mächte:

USA

Die Vereinigten Staaten sind derzeit mit ihrer Evakuierungsmission und mit der Debatte über das Scheitern des Einsatzes beschäftigt. Weitere Pläne zum künftigen Umgang mit dem neuen Taliban-Regime werden derzeit noch nicht öffentlich diskutiert. Der Sprecher des US-Außenministeriums sagte, man stehe im Kontakt mit anderen Regierungen, um sich über ein weiteres Vorgehen in der sich entwickelnden Lage abzustimmen.

US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, sich weiterhin „für die Grundrechte des afghanischen Volkes“ einzusetzen, insbesondere erwähnte er die Rechte der Frauen und Mädchen. Offen ließ er, wie das Engagement der USA – die bei den neuen Machthabern in Kabul keinen Einfluss mehr haben – konkret aussehen soll.

Russland

In Russland sind die Taliban zwar als Terrororganisation verboten. Trotzdem gab es zuletzt auch in Moskau offizielle Verhandlungen mit Vertretern der militanten Gruppierung. Außenminister Sergej Lawrow sagte, dass mit den politischen Kräften der Taliban, aber nicht mit Terroristen gesprochen werde. Ob Russland die neue Führung in Kabul anerkennt, ließ er offen. Der russische Botschafter in Kabul, Dmitri Schirnow, traf sich in dieser Woche mit Taliban-Vertretern und sprach von konstruktiven Gesprächen. Die Botschaft arbeitet weiter.

Russland agiert allerdings auch im Rückblick auf seinen 20-jährigen Afghanistan-Krieg zu Sowjetzeiten abwartend. Moskau sichert vor allem den um ihre Sicherheit besorgten zentralasiatischen Staaten – allen voran Tadschikistan und Usbekistan – Unterstützung zu. In Tadschikistan beteiligte sich Russland in diesem Sommer auch an Manövern zur Abwehr eines möglichen Einmarsches der Taliban. Verhindern will Russland außerdem, dass die USA nun in Zentralasien Militärstützpunkte errichten. Moskau sieht die Region auch 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als sein Einflussgebiet.

China

Peking sucht Stabilität in Afghanistan und will vermeiden, dass das Nachbarland ein Nährboden für Terrorismus wird. Es fürchtet sonst negative Auswirkungen auf die angrenzende, muslimisch besiedelte Region Xinjiang in Nordwestchina oder Projekte seiner Infrastruktur-Initiative der „Neuen Seidenstraße“ in Zentralasien oder auch Pakistan. So hatte sich Peking schon mit den Taliban arrangiert, noch bevor sie in Kabul die Macht übernommen haben.

Um frühzeitig Pflöcke einzuschlagen, bereitete Außenminister Wang Yi einer ranghohen Taliban-Delegation am 28. Juli in Tianjin einen großen Empfang und wertete die Gotteskrieger international diplomatisch auf. China werde sich nicht in Afghanistan einmischen, versprach Wang Yi. Aber die Taliban müssten „klar“ mit allen terroristischen Gruppen und auch Separatisten brechen, die in Xinjiang für eine Unabhängigkeit des früheren Ostturkestans kämpften.

Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar nannte China einen „vertrauenswürdigen Freund“. Er hoffe, dass China beim Wiederaufbau in Afghanistan eine wichtige Rolle spielen könne. Anders als die USA und Russland kann China in Afghanistan als Mitspieler ohne belastende kriegerische Vergangenheit auftreten. Als finanzstarke Regionalmacht, ständiges Mitglied mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat, Freund der Russen und Rivale der USA könnte China für die Taliban ein wichtiger Kooperationspartner werden – der ihnen auch kein anderes politisches System aufzwingen will.

Iran

Die Regierung von Präsident Ebrahim Raisi ist noch unsicher, ob sie sich über den Machtwechsel im Nachbarland freuen soll oder nicht. Zwar ist der Erzfeind USA vorerst weg aus der Nachbarschaft, aber die Taliban als Nachfolger wollte man auch nicht unbedingt. Raisi hofft auf eine nationale Einigung im Rahmen interner Verhandlungen zwischen den afghanischen Gruppen, um so die Zusammenarbeit weiterzuführen. Für Beobachter mehr Wunschdenken als strategische Überlegung.

Für viele im Iran sind die Taliban immer noch radikale Sunniten, für die der schiitische Iran ein religiöser Erzfeind ist und bleiben wird. Auch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist angesichts der chaotischen Zustände in Afghanistan zumindest kurzfristig unrealistisch. Sorge gibt es vor einer Flüchtlingswelle wie 1979 nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Eine solche könnte der Iran derzeit wegen der akuten Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie kaum verkraften.

Indien

Wie die Regierung in Neu Delhi künftig zu einer Taliban-Regierung stehen wird, ist derzeit unklar. Bislang hatte das Land gute Beziehungen zu Afghanistan, in den vergangenen 20 Jahren wurden rund drei Milliarden Dollar in Entwicklungshilfeprojekte investiert. Diese großen Investitionen in die alte Regierung dürften nun gefährdet sein. Chinas Erzfeind Pakistan, in dem ebenfalls Taliban aktiv sind, dürfte hingegen eine stärkere Rolle in Afghanistan bekommen – was wiederum die Terrorgefahr in der indisch-pakistanischen Grenzregion Kaschmir erhöhen könnte.

Indien hat auch mit seinem anderen Nachbarland China angespannte Beziehungen – und da auch die Volksrepublik künftig eine größere Rolle in Afghanistan spielen dürfte, steht es um die geopolitische Lage Indiens in Südasien nun eher schlecht.

Türkei

Ankara schlägt nicht erst seit der Machtübernahme Taliban-freundliche Töne an. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte bereits wiederholt seine Bereitschaft, Taliban-Anführer in Ankara zu empfangen. Man habe nichts gegen den Glauben der Taliban, sagte Erdogan der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge. Man stehe Afghanistan in guten und in schlechten Zeiten bei.

Vor der Machtübernahme der Taliban wurde vielfach diskutiert, inwiefern die Türkei nach dem Ende der Nato-Mission weiterhin den internationalen Flughafen sichern könnte. Ankara zeigte und zeigt sich dazu bereit. Analysten bewerteten das als Versuch des außenpolitisch weitgehend isolierten Landes, die Beziehungen zu den USA und anderen Ländern zu verbessern und den Einfluss in der Region auszubauen. Wie das Land dieses Interesse unter den neuen Umständen zu verwirklichen versuchen könnte, ist derzeit noch offen.

Über den Iran kommen seit Jahren viele geflüchtete Menschen aus Afghanistan in die Türkei. In der Bevölkerung haben die Nachrichten aus Afghanistan in den vergangenen Wochen häufig flüchtlingsfeindliche Rhetorik provoziert. Die Opposition im Land nutzt das Thema, um Stimmung gegen Erdogan zu machen.

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Ex-Außenminister Gabriel für eine internationale Afghanistan-Konferenz

Berlin (dpa). Der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sich für eine internationale Afghanistan-Konferenz ausgesprochen. „Je eher sie stattfindet, umso besser“, sagte Gabriel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Freitag). Teilnehmen sollten auch Russland und China – auch wenn in beiden Ländern derzeit noch Spott und Häme wegen der Blamage des Westens dominierten.

„Das Triumphgeheul dieser Tage in Moskau und Peking wird bald verklingen“, so Gabriel. Tatsächlich blickten Russland und China mit sehr gemischten Gefühlen nach Afghanistan. Beide fürchteten einen neu aufflackernden islamischen Fundamentalismus in ihren eigenen Einflusszonen. Russland habe dabei die früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan im Blick, China fürchte Unruhen in seiner an Afghanistan grenzenden muslimischen Provinz Xinjiang. Es gebe also quer durch die Region ein durchaus weit verbreitetes Interesse an Stabilität.

Gabriel betonte, an den Konferenztisch gehörten neben der EU nicht nur die Weltmächte USA, China und Russland, sondern auch Pakistan und der Iran. Mit Blick auf die Taliban sagte Gabriel, man werde hoffentlich mit jenen unter ihnen reden können, denen es schon immer darauf angekommen sei, bloß keine ausländischen Truppen im Land zu dulden: „Da gibt es eine lange nationalistische, identitäre Tradition.“

Die Frage sei, ob nach dem Abzug eine neue Art von Zusammenarbeit entwickelt werden könne, wenn der Westen diese Grundhaltung akzeptieren würde, so der frühere Außenminister. „Auch die Taliban wissen, dass ihr Land arm ist und dass eine Zusammenarbeit mit dem Westen in vielen Punkten in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse liegen kann.“

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Christian Wagner zur aktuellen Entwicklung in Afghanistan

„Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren.“

Berlin (KNA). Mit unheimlicher Geschwindigkeit haben die Taliban Afghanistan überrannt und stehen in der Hauptstadt Kabul. Der Westen verfolgt die Entwicklung im Schockzustand. Wie konnte es dazu kommen und welche Zukunft erwartet das Land? Christian Wagner, Südasien-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, analysiert im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) die Lage in Afghanistan.

KNA: Herr Wagner, was treibt die Taliban stärker an: das Streben nach dem Gottesstaat oder der Anspruch auf Hegemonie und antiwestliche Machtpolitik?

Wagner: Das eine ist vom anderen kaum zu trennen. Die entscheidende Triebkraft ist sicherlich der Islam. Gerade weil die Taliban ihn in einer extremen Form auslegen, die den Westen als ultimatives Feindbild ausmacht, solange seine Truppen im Land stehen.

KNA: Wie viel Rückhalt haben die Taliban in der Bevölkerung?

Wagner: Das ist schwer einzuschätzen, weil die Taliban Wahlen immer abgelehnt haben und jede Opposition im Keim ersticken. Fehlende Gegenwehr ist also kein Indiz für Rückhalt. Die Bilder aus Kabul zeigen, dass zumindest in den Städten große Angst herrscht. Andere Teile der Bevölkerung arrangieren sich oder können der archaischen, schlichten Scharia-Gerechtigkeit der Taliban sogar etwas abgewinnen, denn die sorgt für eine gewisse Sicherheit auf den Straßen und verspricht ein Durchgreifen gegen die Korruption.

KNA: Die fehlende Kampfbereitschaft der afghanischen Armee hat den Westen jedenfalls überrascht und schockiert.

Wagner: Er hat aber auch einen Anteil daran. Der Westen konnte nicht dafür sorgen, dass die Gelder, die er in den Aufbau dieser Armee pumpte, auch bei den Soldaten ankommen. Sie versickerten in korrupten Strukturen. Deshalb fehlte es der Truppe an Sold, an Verpflegung, sogar an Munition. Zweitens hat das Abkommen von Doha zwischen den USA und den Taliban 2020 viel Vertrauen zerstört. Damit war klar, dass die ISAF-Kontingente in Kürze abziehen und den Taliban mehr oder weniger das Land überlassen. Warlords und Armeekommandeure haben sich dann zügig umorientiert und eigene Deals mit den Islamisten angepeilt.

KNA: Hätte es denn überhaupt eine Strategie gegeben, um Stabilität und Demokratie im westlichen Sinne zu sichern? Etwa durch eine längere Stationierung der ISAF?

Wagner: Nein, ich glaube nicht. Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren. Ein großes Problem sehe ich auch im fehlenden Aufbau einer überlebensfähigen Wirtschaft. Man hat den Bildungssektor gestärkt, um Fachkräfte auszubilden, aber es mangelt in Afghanistan ja komplett an Arbeitsmöglichkeiten für diese jungen Leute. Es gibt keine Industrie, keine Wertschöpfung, keine Ressourcen. Dafür ein starkes Bevölkerungswachstum, besonders in den bitterarmen ländlichen Regionen. Im Übrigen gibt es kaum Beispiele, dass die Schaffung einer demokratisch-liberalen Gesellschaft in einem nichtwestlichen, noch dazu islamischen Land mithilfe westlicher Truppen jemals funktioniert hätte. Gerade in Afghanistan stehen einem solchen Nationbuilding komplexe soziale Strukturen entgegen, die auf Loyalität innerhalb von Clans und Stämmen gründen statt auf einer Nation.

KNA: Was kommt jetzt? Rechnen Sie mit einem neuen Terror-Emirat wie vor 25 Jahren?

Wagner: Ich gehe derzeit eher von einer moderateren Herrschaftsform aus. Die Taliban agieren heute anders als damals. Sie werden die fast vollständige internationale Isolation ihres Staates vermeiden und auch westliche Hilfsorganisationen zulassen. Denn ihnen liegt an einer Verbreiterung ihrer Legitimation im Land und dafür brauchen sie eine zumindest rudimentäre Entwicklung der Infrastruktur. Inzwischen wissen sie auch um die Macht internationaler Medien. Allzu barbarische Methoden insbesondere gegen Frauen werden sie deshalb wohl unterlassen. Allerdings sind die Taliban eine heterogene Gruppe. Womöglich wird das Regime in entlegeneren Landesteilen härter vorgehen. Aber auf Regierungsebene vermute ich das erstmal nicht.

KNA: Auch China steht als Entwicklungspartner bereit – nicht gerade ein eiserner Verfechter der Menschenrechte.

Wagner: Aber China hat auch Sicherheitsinteressen. Es wird zumindest verhindern wollen, dass Afghanistan wieder ein Hort des internationalen Terrorismus wird wie 2001. Denn das hätte Auswirkungen auf die chinesische Provinz Xinjang, wo Peking die muslimischen Uiguren massiv unterdrückt. Wenn die Taliban von chinesischer Hilfe profitieren wollen, müssen sie sich von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“, Al-Qaida und militanten uigurischen Gruppen distanzieren und dürfen ihnen keine Rückzugsmöglichkeiten im Land erlauben. Das gilt übrigens auch mit Blick auf Russland, das heute viel stärker daran interessiert ist als 1996, die Ausbreitung des islamistischen Terrorismus in Zentralasien zu bekämpfen. Selbst Pakistan verfolgt in diesem Sinne eine andere Politik als vor 20 Jahren. Ein Lagebild wie vor der westlichen Invasion wird sich deshalb vermutlich nicht wiederholen.

KNA: Die muslimische Welt verfolgt die Entwicklung bisher nahezu teilnahmslos. Dabei waren es doch die Taliban, die das Image ihrer Religion dermaßen beschädigt haben.

Wagner: Viele Muslime sehen das gar nicht so und unterscheiden da zwischen den Taliban und Al-Kaida. Außerdem gab es in der islamischen Welt immer große Unzufriedenheit über die westliche Besetzung Afghanistans, die als Demütigung empfunden wurde. Nicht wenige sehen die Taliban als Freiheitskämpfer und fromme Muslime. Aber noch ist es zu früh, die Reaktionen der islamischen Länder zu bewerten. Man wartet dort noch ab und richtet die eigenen machtpolitischen Strategien dann neu aus. Es hängt jetzt viel davon ab, wie sich die Taliban auf der internationalen Bühne positionieren.

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Afghanistan: Die Debatte um eine „Schuldfrage“ hat begonnen

Nach dem Absturz Afghanistans ins Chaos steht die Schuldfrage im Raum. Hat die internationale Gemeinschaft versagt? Oder waren die afghanischen Streitkräfte einfach nicht bereit zu kämpfen? Die Meinungen der Regierenden in Washington und Berlin gehen auseinander.

Washington (dpa/iz). Trotz der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden seinen Entschluss zum Abzug der US-Truppen aus dem Land gegen wachsende Kritik verteidigt. „Ich stehe voll und ganz hinter meiner Entscheidung“, sagt Biden am Montag (Ortszeit) im Weißen Haus. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumten dagegen ein, die internationale Gemeinschaft habe die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt und ihre Ziele bei dem Einsatz nicht erreicht. Biden wiederum betonte, die jüngsten Entwicklungen hätten ihn in seiner Entscheidung nur bestärkt. Den Taliban drohte er zugleich mit Vergeltung, falls sie US-Kräfte oder -Ziele angreifen sollten.

Bei Handlungen, die amerikanisches Personal oder deren Mission gefährden würde, müssten die Taliban mit einer „raschen und starken“ militärischen Reaktion der USA rechnen, sagte Biden. „Wir werden unsere Leute mit vernichtender Gewalt verteidigen, falls nötig.“

Der US-Präsident erhob schwere Vorwürfe gegen die entmachtete politische Führung und die Streitkräfte des Landes. „Die politischen Anführer Afghanistans haben aufgegeben und sind aus dem Land geflohen“, sagte er. „Das afghanische Militär ist zusammengebrochen, manchmal ohne zu versuchen zu kämpfen.“ Die jüngsten Ereignisse hätten bekräftigt, dass die Abzugsentscheidung richtig sei. „Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und in einem Krieg sterben, den die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind, für sich selbst zu führen.“ Biden räumte aber ein, die USA hätten das Tempo des Taliban-Vormarsches unterschätzt: „Dies hat sich schneller entwickelt, als wir erwartet hatten.“

Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte in Afghanistan eingenommen – viele kampflos. Am Sonntag rückten sie schließlich in die Hauptstadt Kabul ein. Kämpfe gab es keine. Der blitzartige Vormarsch überraschte viele Beobachter, Experten und auch ausländische Regierungen.

Maas gestand ein, es gebe nichts zu beschönigen: „Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt.“ Merkel schloss sich ausdrücklich an. „Da haben wir eine falsche Einschätzung gehabt. Und das ist nicht eine falsche deutsche Einschätzung, sondern die ist weit verbreitet“, sagte sie. Jenseits der Bekämpfung des Terrorismus sei bei dem Einsatz auch alles „nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben“. Es seien „keine erfolgreichen Bemühungen“ gewesen, sagte sie mit Blick auf den Versuch, das Land zu Demokratie und Frieden zu führen und dort eine freie Gesellschaft zu entwickeln.

Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Sicherheitskräften weit unterlegen. Rund 300.000 Kräfte bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60.000 schlechter ausgerüsteten Taliban-Kämpfern gegenüber. Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie während ihrer Herrschaft in den 90er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen erlangt haben.

Damals hatten die Taliban mit teils barbarischen Strafen ihre Vorstellungen eines „islamischen“ Staates durchgesetzt: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Befürchtet wird nun eine Rückkehr zu derart düsteren Zuständen.

Die Taliban hatten einst Al Qaida-Kämpfern und dem damaligen Chef der Terrororganisation, Osama bin Laden, Zuflucht gewährt. Die Anschläge der Terrorgruppe in den USA vom 11. September 2001 hatten dann den US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan ausgelöst, mit dem die Taliban entmachtet wurden. Bin Laden selbst wurde im Mai 2011 bei einem Einsatz von US-Spezialkräften in Pakistan getötet.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte davor, dass Afghanistan wieder zu einem Zufluchtsort des Terrorismus werden könnte. Er kündigte eine Initiative mit den europäischen Partnern dagegen an. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson kündigte nach einem Telefonat mit Macron an, in den kommenden Tagen auch im Kreis der G7 – einer Gruppe führender Industrienationen – über Afghanistan reden zu wollen. Auch Johnson hatte zuvor gemahnt, das Land dürfe nicht wieder zur Brutstätte von Terrorismus werden.

Biden hielt dagegen, das ursprüngliche Ziel des US-Einsatzes in Afghanistan, das Ausmerzen der Terrorgruppe Al-Qaida nach den Anschlägen vom 11. September 2001, sei erreicht. Auch bin Laden sei getötet worden. Die USA könnten islamistische Terrorgruppen wie Al-Qaida auch ohne eine permanente Militärpräsenz in dem Zielland effektiv bekämpfen – das US-Militär zeige dies in anderen Ländern wie Somalia oder Jemen. Der US-Präsident betonte außerdem, es sei nie Ziel des Einsatzes gewesen, dort eine geeinte Demokratie zu schaffen.

Die USA, Deutschland und andere westliche Staaten begannen derweil, in großer Eile ihre Bürger und gefährdete afghanische Ortskräfte aus Afghanistan auszufliegen. Die USA schickten mehrere Tausend Soldaten nach Kabul, um die Evakuierungsaktionen zu sichern. Das US-Militär ist dort nach eigenen Angaben inzwischen mit rund 2500 Soldaten im Einsatz. In einigen Tagen sollen es laut Pentagon bis zu 6000 werden.

Am Flughafen in Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Hunderte oder vielleicht auch Tausende verzweifelte Menschen versuchten, auf Flüge zu kommen, wie Videos in Online-Medien zeigten. Für Entsetzen sorgten Aufnahmen, die zeigen sollen, wie Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sie sich im Fahrwerk versteckt hatten oder sich festhielten. Diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig verifiziert werden.

Unter schwierigen Bedingungen angesichts der chaotischen Zustände begann das erste Bundeswehrflugzeug den Evakuierungseinsatz am Flughafen Kabul. Nach stundenlanger Verzögerung und Warteschleifen landete die Maschine vom Typ A400M dort in der Nacht zu Dienstag, setzte Fallschirmjäger ab, die die Rettungsaktion absichern sollen, nahm auszufliegende Menschen an Bord und startete schnell wieder.

Das Chaos in Afghanistan hat international Entsetzen ausgelöst und Biden wegen seiner Abzugsentscheidung unter Druck gebracht. Er hatte im Frühjahr angekündigt, dass die damals noch rund 2500 verbliebenen US-Soldaten Afghanistan bis zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 verlassen sollten. Zuletzt wurde das Abzugsdatum auf Ende August vorgezogen. Angesichts des Rückzugs der US-Truppen holten auch die anderen Nato-Partner ihre Soldaten nach Hause.

Die Regierung von Bidens Amtsvorgänger Donald Trump hatte den Abzug eingeleitet. Biden entschied sich nach seinem Amtsantritt dafür, davon nicht abzurücken, sondern nur den Zeitplan zu ändern. Damit setzte er sich über Warnungen von Experten hinweg, die desaströse Folgen eines bedingungslosen Abzugs vorausgesagt hatten

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Debatte über Umgang mit Afghanistan geht weiter

„Ich habe der Welt von Afghanistan erzählt – aber weil ich nicht verarbeiten kann, was in meinem Land passiert, bin ich wie betäubt.“ Bilal Sarwary, afghanischer Journalist via Übermedien

Berlin (KNA). Während die Bundeswehr die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Afghanistan vorbereitet, debattiert die Politik weiter über den Sinn des Afghanistaneinsatzes und die Aufnahme von Afghanen, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben und deshalb als gefährdet gelten. Zugleich wurde am Wochenende deutlich, dass eine neue Flüchtlingswelle aus Afghanistan erwartet wird. Die Bundesregierung kündigte unterdessen an, fast alle Botschaftsmitarbeiter sowie die afghanischen Ortskräfte möglichst schnell auszufliegen.

CDU-Chef Armin Laschet forderte, dass Deutschland die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr rettet. „Diese Leute, die uns geholfen haben, Afghanen, die mutig waren, der Bundeswehr zu helfen, müssen jetzt rausgeholt werden“, sagte er auf einer Veranstaltung der Jungen Union im hessischen Gießen.

Die Verteidigungspolitikerinnen Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Agnieszka Brugger (Grüne) kritisierten gegenüber dem Nachrichtenportal Watson die Bundesregierung scharf für ihren Umgang mit afghanischen Ortskräften. Strack-Zimmermann forderte die Regierung auf, diese Menschen schnellstmöglich per Flugzeug aus dem Land zu schaffen. Brugger sagte, es sei „extrem beschämend, dass die Bundesregierung eine Reihe von Ortskräften nach wie vor im Stich lässt“.

FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff warf der Bundesregierung Planlosigkeit vor. Die Evakuierungen hätten längst geplant sein können, sagte er der „Rheinischen Post“. Es gebe Schuldzuweisungen zwischen den Ministerien. „Das ist eine unwürdige Diskussion.“ Auch Linken-Verteidigungspolitiker Alexander Neu verlangte eine Evakuierung der Ortskräfte.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) befürchtet, dass die Zahl der Geflüchteten deutlich ansteigen wird. „Man muss damit rechnen, dass sich Menschen in Bewegung setzen, auch in Richtung Europa“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag). Dabei müsse man nicht nur den Krisenherd Afghanistan im Blick behalten, sondern genauso Belarus, Pakistan, den Iran, die Türkei, Tunesien, Marokko und Libyen.

Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, warnte angesichts der massiv gestiegenen Zahl von Binnenflüchtlingen in Afghanistan, die Versäumnisse während des Syrien-Kriegs zu wiederholen. Fatalerweise seien die Europäer damals nicht auf die Geflüchteten vorbereitet gewesen, sagte sie im Deutschlandfunk. Man dürfe nicht warten, bis alle 27 EU-Länder bereit zur Aufnahme von Geflüchteten seien. Man müsse sich vielmehr mit jenen europäischen Ländern zusammenschließen, die das tun wollten.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), forderte ein Eingreifen des Westens gegen die Taliban – ausdrücklich unter Beteiligung der Bundeswehr. „Man darf nicht dabei zuschauen, wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren“, sagte Röttgen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), erteilte Forderungen nach einem erneuten Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr eine Absage. Er sagte der „Rheinischen Post“ (Samstag): „Wir haben gemeinsam mit unseren internationalen Partnern entschieden, den Einsatz zu beenden.“ Stattdessen müsse die internationale Gemeinschaft darauf drängen, „dass es zu einem politischen Dialog kommt“. Man werde nicht darauf verzichten können, die Taliban einzubinden.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College glaubt, dass die afghanischen Taliban ihren Charakter geändert haben. „Die Taliban versuchen, aus den Fehlern der 1990er Jahre zu lernen. Damals wurden sie von Teilen der Bevölkerung sehr gehasst, weil sie zum Beispiel gegen religiöse Minderheiten vorgegangen sind.“ Sie gäben sich versöhnlicher und wollten auch Mädchen erlauben, zur Schule zu gehen, sagte Neumann dem RedaktionsNetzwerk. Große Hoffnungen auf einen Dialog mit den Taliban habe er dennoch nicht, betonte Neumann. Der Westen habe mit dem Rückzug seiner Truppen sein wichtigstes und einziges Druckmittel verloren.

Grünen-Außenexperte Omid Nouripour befürchtet, dass Afghanistan unter den Taliban wieder zu einem Rückzugsraum für Terroristen wird. Der „Passauer Neuen Presse“ sagte er, sollten die Taliban die Macht übernehmen, stehe ihnen erst einmal ein Krieg mit dem Islamischen Staat (IS) bevor. „Das Land wird jedenfalls nicht zur Ruhe kommen.“a

Afghanistan: Taliban erklären Kampfende. Ghani verlässt das Land

Kabul war die letzte Großstadt in Afghanistan in den Händen der Regierung. Doch nun floh der Präsident, und die Taliban rückten ein. Es herrscht große Unsicherheit in der Bevölkerung. Die Bundesregierung reagiert eiligst.

Kabul (dpa/iu). Nach dem rasanten Eroberungszug der Taliban in Afghanistan ist Präsident Aschraf Ghani ins Ausland geflohen. Zuvor hatten die Aufständischen am Wochenende weitere Großstädte in dem Krisenstaat erobert und auch die Hauptstadt Kabul eingekesselt. Am Sonntagabend rückten dann Talibankämpfer in die Millionenmetropole ein und besetzten auch den Präsidentenpalast.

Die Bundesregierung begann angesichts der brisanten Lage unter Hochdruck mit der Evakuierung des Personals der deutschen Botschaft. Die ersten Angehörigen sollten noch am Sonntag ausgeflogen werden, kündigte Außenminister Heiko Maas (SPD) an. Außerdem sollten in der Nacht zum Montag Bundeswehr-Transportflugzeuge aufbrechen, um weiter Menschen auszufliegen. Die Botschaft in Kabul wurde zunächst dichtgemacht, die Mitarbeiter wurden zum militärischen Teil des dortigen Flughafens gebracht. Auch die USA begannen mit der Räumung ihrer Botschaft.

Ghani schrieb zur Begründung seiner Flucht auf Facebook, andernfalls wären zahlreiche Landsleute getötet und die Stadt Kabul zerstört worden. „Ich entschied mich zu gehen, um dieses Blutvergießen zu verhindern.“ Die Taliban hätten ihre Macht mit Waffengewalt errungen und seien nun dafür zuständig, die Leben, das Vermögen und die Ehre der Bürger zu schützen.

Der Vorsitzende des Nationalen Rats für Versöhnung, Abdullah Abdullah, äußerte sich empört. Er sagte in einer Videobotschaft, Gott möge Ghani zur Rechenschaft ziehen. Auch das Volk werde über ihn richten. Angaben dazu, wohin Ghani abreiste, machte Abdullah nicht. Lokale Medien berichteten, er sei nach Tadschikistan geflogen.

Die Taliban hatten in den vergangenen knapp eineinhalb Wochen fast alle Provinzhauptstädte eingenommen. Viele waren kampflos an sie gefallen. Am Samstagabend (Ortszeit) hatten sie Masar-i-Scharif im Norden und am Sonntagmorgen Dschalalabad im Osten erobert. In Masar-i-Scharif war bis vor wenigen Wochen ein großes Feldlager der Bundeswehr gewesen, erst Ende Juni sind die deutschen Soldaten von dort abgezogen. Die Bundeswehr hatte zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge des Nato-Einsatzes „Resolute Support“ ausgebildet.

US-Außenminister Antony Blinken verteidigte erneut den Truppenabzug, räumte allerdings ein, dass auch die USA von den Ereignissen überrascht worden seien. „Wir sehen, dass die Streitkräfte nicht in der Lage waren, das Land zu verteidigen – und zwar schneller, als wir es erwartet hatten.“

Die Taliban versuchten, die Furcht der Bevölkerung vor Chaos und Gewalt zu zerstreuen. Suhail Schahin, ein Unterhändler bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, erklärte der BBC: „Wir versichern den Menschen (…) in der Stadt Kabul, dass ihr Hab und Gut und ihre Leben sicher sind.“ Es werde „keine Rache an irgendjemandem“ geben.

Am Abend teilten die Taliban in einer weiteren Erklärung mit, sie hätten Berichte erhalten, dass Polizeistationen und Ministerien verlassen worden seien. Die Sicherheitskräfte seien geflohen. Um Plünderungen zu verhindern oder damit anderen Menschen kein Schaden zugefügt werde, habe die Taliban-Führung ihre Kämpfer angewiesen, jene Gebiete zu betreten, aus denen der Feind geflohen sei.

Die US-Botschaft in Kabul wies ihre Landsleute an, sich in Sicherheit zu bringen. „Die Sicherheitslage in Kabul ändert sich schnell, auch auf dem Flughafen. Es gibt Berichte, dass der Flughafen unter Beschuss geraten ist; daher weisen wir US-Bürger an, sich in Sicherheit zu bringen“, hieß es in einer Warnung.

Fallschirmjäger der Bundeswehr sollen an diesem Montag in Militärtransportern nach Kabul fliegen. Am selben Tag soll nach Angaben aus Sicherheitskreisen ein Krisenunterstützungsteam (KuT) aus Experten verschiedener Ministerien eintreffen. In der usbekischen Hauptstadt Taschkent soll ein zweites KuT eine Drehscheibe („Hub“) für die Rettung von Menschen organisieren. Es geht um den bislang wohl größten Evakuierungseinsatz der Bundeswehr. Auch die USA begannen, ihre Botschaft zu räumen und ihr Personal an einen Standort am Flughafen zu verlegen, wie Außenminister Antony Blinken bestätigte.

Russland will seine Botschaft hingegen vorerst nicht räumen, wie der Afghanistan-Beauftragte des Außenministeriums, Samir Kabulow, der Agentur Interfax sagte. Auch Frankreich will seine Botschaft offenhalten: Diese werde an den Flughafen verlegt, wo alles dafür getan werde, um weiter Visa an afghanische Ortskräfte und andere gefährdete Personengruppen ausstellen zu können, teilte das Außenministerium mit. Das Verteidigungsministerium werde zudem militärische Verstärkung in die Vereinigten Arabischen Emirate schicken, um Evakuierungsflüge nach Abu Dhabi zu ermöglichen.

Aus der Nato hieß es auf Anfrage: „Wir helfen, den Betrieb des Flughafens Kabul aufrechtzuerhalten, damit Afghanistan mit der Welt verbunden bleibt. Wir halten auch unsere diplomatische Präsenz in Kabul aufrecht.“

In Kabul spielten sich am Sonntag chaotische Szenen ab. Es kam zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben und Lebensmittel zu kaufen. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt.

Ein Bewohner des Viertels Kart-e Tschar sagte am Abend, die Taliban seien bereits im lokalen Polizeihauptquartier. In der Nacht berichteten mehrere Bewohner Kabuls von vereinzelten Schüssen, die sie hörten. Viele Menschen hatten sich zuhause verbarrikadiert.

Der britische Premierminister Boris Johnson warnte westliche Staaten davor, die Taliban ohne vorherige Absprache als neue Regierung Afghanistans anzuerkennen. Johnson sagte nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitskabinetts, es sei „sehr wichtig, dass der Westen zusammenarbeitet, um dieser neuen Regierung – ob es Taliban sind oder jemand anderes – klarzumachen, dass niemand will, dass Afghanistan wieder zur Brutstätte für Terrorismus wird“.

Albanien und Kosovo wollen vorübergehend afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die nun in ihrem Land gefährdet sind. Man komme damit einer Bitte der USA nach, erklärten der albanische Ministerpräsident Edi Rama und die kosovarische Staatspräsidentin Vjosa Osmani auf Facebook. Es gehe darum, Flüchtlinge aufzunehmen, die später in die USA gebracht werden sollen.