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Wer mäßigt die Taliban? Ein Kommentar über realpolitische Herausforderungen

Ausgabe 315

Foto: John Smith, Shutterstock

Berlin (iz).

(iz). Es gehört zu den berühmten Erkenntnissen Machiavellis, dass die erfolgreiche Eroberung eines Gebietes durch den Fürsten, vom Volk schnell beklatscht wird, auch wenn die angewandten Mittel dazu weder gerecht noch angemessen waren. Die Idee, dass erhabene Ziele die gewählte Umsetzung rechtfertigen, wurde später zu einem der Leitgedanken moderner Politik.

Der Plan der Eroberung und Demokratisierung Afghanistans mit militärischer Macht wurde in den USA entworfen, ohne dass die Strategie je einer faktischen, rechtlichen oder moralischen Prüfung unterzogen wurde. Der Westen wurde schmerzhaft an die Weisheit erinnert, dass man Alliierte am Hindukusch mieten, aber auf Dauer nicht kaufen kann. Die Kosten für das geopolitische Abenteuer waren gigantisch und zum größten Teil ein profitables Geschäft für die Militär- und Sicherheitsindustrie.

Das Scheitern der Allianz in dem Vielvölkerstaat zwingt die Muslime das neue Regime in dem Land, das sich ausdrücklich auf den Islam beruft, zu beurteilen. Unsere Sympathie gehört dabei zunächst allein der geschundenen Zivilbevölkerung, die wahrlich eine bessere Zukunft verdient. Viele Muslime befürchten zu Recht, dass das sogenannte Emirat das Ressentiment gegen die eigene Präsenz in der Öffentlichkeit weiter anheizen wird.

Die Produktion von Bildern, die einen archaischen und rückwärtsgewandten Islam zeigen, graben sich tief in das kollektive Bewusstsein der Europäer ein. „In einer Affektkommunikation“, schreibt der Philosoph Byul Chun Han in seinem Buch Infokratie, „setzen sich nicht die besseren Argumente, sondern Informationen mit größerem Erregungspotential durch“. Der Eindruck entsteht, dass die Taliban die afghanische Bevölkerung oder die islamische Lehre repräsentieren.

Hinzukommt, dass die zu verarbeitenden Berichte über die komplizierte Lage in dem Land so umfangreich geworden sind, dass sie die begrenzte Rationalität von Individuen übersteigt. Die Verführung zur Vereinfachung ist greifbar bis hin zu der dialektischen Logik: Wir sind gut, weil sie so böse sind. Die moralische Freisprechung aller handelnden Akteure in der Region dürfte bei genauerem Hinsehen eher schwerfallen. Wer die Geschichte Afghanistans verstehen will, muss lernen, dem Anderen zuzuhören und eine alternative Sicht zuzulassen. Eine Übung, die nach Ansicht  von Byul Chun Han in unserer auf schnelles Urteilen angelegten Infokratie in Vergessenheit zu geraten droht: „Die Wahrheit im emphatischen Sinne hat einen narrativen Charakter. Daher verliert sie in der entnarrativisierten Informationsgesellschaft radikal an Bedeutung.“

Unabhängig vom Wissensstand über die geopolitischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte sind die Vorbehalte gegenüber dem aktuellen Regime zweifellos berechtigt. Sie werden von Muslimen geteilt. Das Bild bewaffneter militärischer Milizen, die neben einem predigenden Imam stehen, lassen ahnen, dass ein neuer afghanischer Staat – oder wie immer man das Gebilde definiert – schlimmstenfalls eine Symbiose autoritärer Machenschaften mit einer religiösen Ideologie darstellt. Im Westen denkt man hier an neue Formen des Faschismus. So kann es kommen, muss es aber nicht.

Der Siegeszug der Taliban, ursprünglich eine kleine Minderheit, erklärt sich nicht aus der Überzeugungskraft ihrer Lehre. Die Machtergreifung ermöglichte in erster Linie die Apathie der verzweifelten afghanischen Bevölkerung, die lange Jahre vergeblich auf so etwas wie Frieden – auf Grundlage eines gerechten Nomos – wartete. Die Option eines endlosen Bürgerkrieges nach dem Abzug der Amerikaner ließ nicht nur die Einheimischen resignieren, sondern ebenso Anrainerstaaten in der Region. Die Versuchung ist für alle Beteiligten groß, sich mit der gegebenen Lage zu arrangieren. Spätestens seit den Geheimverhandlungen der USA mit den Partisanen sind Verhandlungen mit der neuen afghanischen Regierung kein Tabu mehr. Fakt ist, die neuen Machthaber verfügen über ein rohstoffreiches, aber verarmtes Land und beherrschen die verängstigte Zivilgesellschaft. Das mag man beklagen – nur die Würfel sind gefallen.

Nicht nur die muslimischen BürgerInnen sind gespannt, wie unsere Regierungen nach dem Ende der militärischen Phase eine neue Realpolitik zu Afghanistan entwerfen werden. Wer sich um das Wohl der Bevölkerung sorgt, muss befürchten, dass der Krieg mit ökonomischen Mitteln und auf dem Rücken der Armen fortgeführt wird. In diesem Fall wird Kabul der Geldhahn zugedreht und damit ein Aufbegehren und Aufstände der Zivilbevölkerung provoziert. Eine andere, ebenso destruktive Möglichkeit, wäre es, neue Partisanengruppen zu schaffen, die den Kampf gegen die Taliban fortsetzen. Hier käme die alte militärische Einsicht ins Spiel, dass man Partisanen nur mit Partisanen bekämpfen kann. Beide Ansätze werden kaum zu einer Befriedung der Lage führen.

Entscheidend wird sein, ob der Westen bereit ist, das neue Machtgebilde als Staat anzuerkennen. Die Folge wäre ein Wechsel des Status von feindlichen Terroristen hin zu einer politischen Anerkennung. Diesen Weg hat die Strategie der Amerikaner, mit den Taliban Geheimverhandlungen zu führen, im Grunde vorgezeichnet. Bedingung für diesen Dialog war die Bereitschaft des Feindes, künftig auf die Unterstützung des internationalen Terrors zu verzichten. Diese Ankündigung ermöglicht die rechtliche Unterscheidung zu dem kriminellen IS-Staat im Irak. Die Taliban selbst haben das Wort Kalifat, das für die Idee eines globalen Machtanspruchs steht, nie benutzt. Damit ist die Einhegung der neuen Macht in ein regionales Phänomen zumindest denkbar.

Die Türkei, China und Russland nehmen die geopolitischen Fakten zur Kenntnis und werden versuchen ihrerseits den Expansionswillen der Taliban zu begrenzen. Gelingt es, sie in diesem Sinne einzuschränken, wäre sogar ein dauerhafter Frieden denkbar. Die Frage nach der Möglichkeit der Mäßigung der politischen Führung in ihrem Herrschaftsgebiet stellt sich trotzdem. Wer hofft, dass der militärischen Niederlage eine schnelle Manifestation des westlichen Wertesystems folgt, träumt. Nüchtern betrachtet ist der eurasische Kontinent zum größten Teil keine Demokratie mehr.

Man könnte in dieser Situation auf die Idee kommen, dass eine Gemeinschaft von Millionen europäischer Muslime, die über eine beachtliche Zahl von Gelehrten und Intellektuellen verfügen, auf die Taliban einen Einfluss ausüben könnte. Die Ablehnung von Selbstmordattentaten, jeder Form des Terrorismus sowie die Forderung nach Frauenrechten gehören zum, aus den islamischen Quellen begründeten, Standardrepertoire muslimisch gebildeter Kreise. Hinzukommt ihre historisch gewachsene Überzeugung, wonach jede Ideologie in trostlosen Systemen endet. Erinnert man die „Gelehrten“ der Bewegung zum Beispiel an die sozio-ökonomischen Dimensionen des Islams, wären einer rein poltisch-ideologischen Interpretation des Glaubens erste Schranken gesetzt. Über Jahrhunderte war ein sicheres Zeichen für eine „Islamisierung“ eines Gebietes die Einrichtungen der Stiftungen und die führende Rolle der Frauen im Management dieser Sphäre. Der Islam ist kein Nomos, der alle Lebensbereiche politisiert.

Es ist fraglich, ob die Taliban der Praxis des Einholens guten Rates folgen und in einen ernsten Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften eintreten. Einen Versuch wäre es wert. Die Hoffnung, dass sie selbst einen Veränderungsdruck wahrnehmen, sollte angesichts der faktischen Lage in Kabul zuletzt sterben. Die Idee, ein mittelalterlich anmutendes Fantasieland der Religion einzurichten, ist zum Scheitern verdammt. Man wird sehen, ob Andeutungen ihrer Führung, einen gemäßigteren Kurs einzuschlagen, sich bewahrheiten sollten. Dieser Wandel wäre sicher der einzige Weg, dass die Isolation der Taliban in der Welt ein Ende erfährt. Ansonsten wird man nur ein weiteres, drastisches Beispiel für das Scheitern von ideologisierten Muslimen im 21. Jahrhunderts beobachten. 

Der Gedanke der Einbindung von europäischen BürgerInnen muslimischen Glaubens in die westliche Außenpolitik scheint im Moment utopisch zu sein. Im Westen werden religiös gebildete Menschen zu schnell in das Lager der „Islamisten“ abgeschoben. Deswegen fehlt es an politischer Kreativität, die diversen Stimmen der Zivilgesellschaft Europas in eine konstruktive, realpolitisch geprägte Strategie stärker einzubinden. Bisher gab es derartige Kooperationen nur auf dem Schlachtfeld. Hier allein waren zumindest die Amerikaner kreativ, sogar mit ausgewiesenen Radikalen aller Länder zusammenzuarbeiten.