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Die Resonanzkatastrophe oder Räume für Jugendliche

Resonanzkatastrophe

Resonanzkatastrophe: Gerade für Jugendliche ist die Orientierung im Zeitalter endloser Wahl schwierig. Hierfür brauchen sie dialogische Räume. Deshalb ist es wichtig, wenn Gemeinschaften Brücken nach außen bauen.

Von außen betrachtet wirkt unsere Gegenwart wie das Zeitalter größtmöglicher Freiheit. Nie zuvor standen Menschen so viele Optionen offen: unzählige Lebensentwürfe, Glaubensrichtungen, Ernährungsstile und politische Bewegungen. Tausende Influencer, Apps und Streamingdienste konkurrieren um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer.

Doch in diesem Überfluss an Möglichkeiten steckt eine paradoxe Erfahrung. Wo alles wählbar ist, verliert die Wahl selbst an Tiefe – sie wird zum Zwang, zur endlosen Wiederholung des „Du kannst alles sein“, eine Formel, die keine verbindliche Antwort mehr gibt.

Foto: Shutterstock/Monkey Business Images

Resonanzkatastrophe : Die Paradoxie der Freiheit

Slavoj Žižek (Was verrät uns die Psychoanalyse über den Cyberspace?) beschreibt diese Situation als eine subtile Form der Beherrschung. Medien und digitale Plattformen fordern uns permanent auf, zu wählen: „Drücken Sie A, wenn Sie dies wollen, drücken Sie B, wenn Sie das wollen.“ Dieser permanente Aufruf erzeugt erst das Begehren, dem wir folgen sollen. Die Subjekte, die sich frei fühlen, sind zugleich völlig formbar – sie müssen sich immer wieder sagen lassen, was sie wollen.

Unter den Verhältnissen grenzenloser Reichweite wissen immer weniger wer sie wirklich sind. Žižek greift hier ein Diktum des Psychoanalytikers Jacques Lacans auf: Wenn keine substanzielle Orientierung das Feld der freien Möglichkeiten eingrenzt, verschwindet die Freiheit selbst. Mit anderen Worten: Gerade, weil niemand mehr vorgibt, was wir wollen sollen, geraten wir unter den unsichtbaren Zwang, uns selbst immer neu zu erfinden.

Dieser Mechanismus durchdringt längst auch die Sphäre persönlicher Beziehungen. Die Digitalisierung, so Žižek, hebt den Unterschied zwischen Nachbarn und Fremden auf, indem sie alle in eine „gespenstische Bildschirmpräsenz“ verwandelt.

Das Reale der Begegnung – das Unmittelbare, Widerständige, Ansprechbare – wird in den virtuellen Raum suspendiert. Wir scrollen durch Gesichter und Meinungen, die alle gleich nah und gleich fern erscheinen. Es fehlt an realen Räumen, wo wir unser Wissen oder unsere Vorurteile über den Anderen im konkreten Gespräch überprüfen können.

Das moderne Subjekt ringt heute nicht zuletzt um seine religiöse Identität. Der Philosoph Charles Taylor beschreibt in „A Secular Age“ ein Phänomen, das er „Nova-Effekt“ nennt: Nach dem Zerfall religiöser Gewissheiten explodiert eine unüberschaubare Zahl an Sinnangeboten – von Achtsamkeitspraktiken bis zu Konsum-Lifestyles, von esoterischen Strömungen bis zu politischen Ideologien. Der Glaube verschwindet nicht aus der Welt, das Religiöse findet auf „neuen Pfaden“ weiterhin statt.

Mit dem Begriff „Säkularität“ umschreibt Taylor dabei „eine neue Gestalt der zum Glauben veranlassenden und durch Glauben bestimmten Erfahrung“. Taylor unterteilt die Entwicklung in drei Dimensionen: Rückzug und Abtrennung der Religion aus dem öffentlichen Raum, Niedergang der Bindung an die Lehre der monotheistischen Religionen; Veränderung der Bedingungen des Glaubens als Priorität und Entstehen der säkularen Option.

Allerdings tauchten viele religiöse Motive in der säkularen Welt in veränderter Form wieder auf, zum Beispiel in der Suche nach neuer, andersartiger Spiritualität, in der Selbstoptimierung oder in der Welt des Sports. Die klassische Lehre verliert gegenüber den fortschrittlichen, unendlich wachsenden spirituellen Angeboten an Boden.

Dieses kulturell-religiöse Panorama verschränkt sich mit den ökonomischen und technologischen Dynamiken der Moderne, die der Soziologe Hartmut Rosa als „gesellschaftliche Beschleunigung“ beschreibt. In seiner Soziologie der Weltbeziehung versteht er gelingendes Leben als Resonanz: ein wechselseitiges In-Beziehung-Treten von Menschen und Welt, bei dem wir berührt werden und Antworten bekommen – sei es in Naturerfahrungen, Musik, Freundschaft oder politischem Engagement. Doch die Logik der Beschleunigung – immer schneller, immer effizienter, immer mehr – zerstört jene stillen Räume, in denen Resonanz wachsen könnte.

Alles – so das moderne Versprechen – wird plan- und verfügbar, sogar unsere sozialen Beziehungen. Die Welt verstummt, weil wir sie nur noch als Ressource behandeln. Das Ergebnis ist, was Rosa die „Resonanzkatastrophe“ nennt:

„Wer unglücklich ist und im Extremfall, depressiv ist, dem erscheint die Welt kahl, leer, feindlich und farblos, und zugleich erfährt er das eigene Selbst als kalt, tot, starr und taub. Die Resonanzachsen zwischen Selbst und Welt bleiben stumm.“

Jugendliche zwischen den Räumen

Besonders sichtbar wird diese Krise bei jungen Menschen, die am Rande der kulturellen und sozialen Räume der Mehrheitsgesellschaft leben. Viele Jugendliche mit Migrationserfahrung – ob in Berlin, Marseille oder London – stehen zwischen der Herkunftskultur ihrer Familien und der neuen Umgebung, in der sie aufwachsen. Traditionelle Resonanzräume wie religiöse Rituale oder gewachsene Nachbarschaften sind geschwächt oder weit entfernt. Zugleich prasseln globale Medienbilder auf sie ein: Kriege, Klimakatastrophen und politische Konflikte.

Im politischen Feld befürchten Sozialwissenschaftler schon länger die Entfremdung einer ganzen Generation. Zu dieser Analyse tragen die schrecklichen Bilder aus Gaza bei, die unseren Jugendlichen ständig präsent sind, ohne dass ihr unmittelbares Umfeld tragfähige Deutungen bietet.

Angesichts der Folgenlosigkeit der eigenen Empörung flüchten viele junge Muslime in ihr Privatleben oder sind für Ideologen ansprechbar, die einfache Lösungen aus dem moralischen Dilemma unserer Zeit versprechen.

In den sozialen Medien wird zunehmend die Weltverneinung als Weg angepriesen.  Diese Einstellung definiert Rosa wie folgt: „Hinter die schlechte, immanente Welt wird eine bessere transzendente Welt gesetzt, die nur durch Ablehnung und Überwindung der ersteren zu gewinnen ist.“ Ideologen offerieren im Internet das passende Phantasma: ein religiöses System, moralisch integer, perfekt organisiert, das alle Probleme der Menschheit lösen soll.

In dieser Gemengelage entsteht eine existenzielle Schwebe. Die umworbenen Jugendlichen leben auf einer Metaebene: Sie sind global informiert, doch lokal kaum verankert. Viele fragen sich weniger, wo sie leben, sondern vor allem, wer sie sind. Manche flüchten in identitätspolitische Abgrenzung, andere in Formen der Rebellion.

Das Bedürfnis nach Anerkennung bleibt, doch es findet selten Resonanz. Negative Stereotype oder subtile Ausgrenzungen, die unsere Medien verbreiten, verstärken das Gefühl, dass die Welt nicht antwortet – oder wenn doch, dann nur im feindlichen Modus.

Es sind diese jungen Leute, um die man sich vor Ort kümmern muss. Die neuen digitalen Gesprächspartner verschieben die Orientierung stattdessen auf eine virtuelle Ebene. Sam Altman, Mitgründer von OpenAI, hat öffentlich seine Sorge um den mentalen Zustand von Jugendlichen artikuliert, die künftig künstlichen Intelligenzen mehr Vertrauen schenken als Eltern, LehrerInnen oder Freunden. Wenn die KI zum bevorzugten Ratgeber wird, während reale Autoritäten verblassen, dann erscheint die „Resonanzkatastrophe“ in einer neuen, technischen Gestalt.

Der örtliche Imam oder Lehrer, verliert unter diesen Bedingungen schlicht an Relevanz. Ohne eine konkrete Ausbildung, die seit Jahrhunderten lokal organisiert wurde, werden religiöse Inhalte willkürlich zusammengestellt. Die gesellschaftliche Anerkennung des Islam, als eine respektable Lebenspraxis, rückt gleichzeitig in weite Ferne, da der eigentliche Inhalt der Lebensform nicht mehr fassbar ist.

Foto: Taaleef Collective

Die Moschee als ambivalenter Resonanzraum

Das Dilemma vieler junger Muslime verdichtet sich exemplarisch im Resonanzraum Moschee. Hier soll sich ein Ort der Klarheit und Reinheit entfalten, ein geschützter Raum, eine Oase, in dem die Regeln des Glaubens Geltung haben und sich von den vermeintlichen Verwirrungen der Außenwelt abheben. Gerade darin liegen jedoch ein unübersehbarer Widerspruch und eine doppelte Spannung.

Zum einen fehlen häufig die Möglichkeiten, Zweifel, innere Konflikte oder kritische Fragen offen zu artikulieren. Die Moschee erscheint dann weniger als dialogischer Ort, denn als Sphäre, in der Gewissheiten bestätigt, aber selten hinterfragt werden dürfen.

Zum anderen kann sich die Moschee – wenn sie nicht in lebendige Nachbarschaften und städtische Netzwerke eingebettet ist – zu einer Parallelwelt verfestigen. Jugendliche erfahren hier zwar ein starkes Wer ihres Selbst: Sie wissen, wozu sie gehören, welche Gebetsformen und Rituale ihre Identität prägen. Doch das Wo bleibt oft unbestimmt. 

Die fehlende Verortung erzeugt ein Vakuum. Wer in der Moschee Anerkennung findet, aber kaum in der Stadtgemeinde, in der Landschaft und in den kulturellen Rhythmen des Landes heimisch wird, lebt in einer Art Niemandsland. Die religiöse Identität bleibt auf sich selbst bezogen und kann nicht in eine gemeinsame urbane Kultur übergehen. Resonanz wird so zur Halbresonanz: ein – im besten Fall – starker Klang im Inneren, dem jedoch die entsprechende Antwort des Umfelds fehlt.

Gerade deshalb ist es entscheidend, dass Moscheegemeinden nicht nur rituelle Zentren bleiben, sondern Brücken schlagen – zur Straße vor der Tür, zur Schule nebenan, zur Stadt, die sie umgibt. Erst wenn sich das Wer mit dem Wo verschränkt, kann sich ein Resonanzraum entfalten, der junge Menschen nicht nur schützt, sondern sie in die vielfältige Kultur des Landes einbettet, in dem sie wirklich leben.

Die Notwendigkeit von Begrenzung

Philosophisch betrachtet weist all dies auf eine zentrale Einsicht: Freiheit braucht Begrenzung. Wahl wird erst bedeutsam, wenn es ein Gegenüber gibt, das uns herausfordert, dem wir zustimmen oder widersprechen können.

Wo alles gleich gültig und verfügbar ist, verflüchtigt sich die Erfahrung, dass die Welt uns antwortet. Rosas Begriff der Resonanz bietet hier mehr als Sozialdiagnose; er ist eine Einladung, das Verhältnis von Freiheit und Bindung neu zu denken. Resonanz lässt sich nicht machen, sie ereignet sich, wenn Menschen sich berühren lassen und antworten können.

Das setzt Räume voraus, die nicht der Logik von Effizienz und Kontrolle unterworfen sind – Räume, in denen Schweigen, Widerstand und gegenseitige Ansprechbarkeit möglich sind. Die Feinde der Demokratie setzen naturgemäß nicht auf das Gespräch, sondern auf Ausgrenzung von ganzen Gruppen aus dem öffentlichen Raum.

Wie also könnte eine Kultur aussehen, die neue Resonanzräume eröffnet? Drei Felder sind entscheidend:

• Beziehungsarbeit und Teilhabe: Jugendliche brauchen Orte, an denen sie selbst Gestalter werden – in kulturellen Projekten, politischen Jugendinitiativen oder gemeinschaftlichen Werkstätten. Dort können sie nicht nur reden, sondern tatsächlich Antwort finden.

• Bildung und Anerkennung: Schulen, Vereine und Gemeinden sollten Vielfalt nicht als Problem, sondern als Ressource begreifen. Wer ernst genommen wird, erfährt, dass die Welt zurückspricht.

•Entschleunigung und Selbstwirksamkeit: Reisen, Sport, Naturerfahrungen oder gemeinschaftliche Rituale eröffnen überraschende Momente, die sich der ständigen Verfügbarkeit entziehen.

Diese Schritte sind nur eine Auswahl von Bedingungen für das, was der Soziologe eine „gelingende Weltbeziehung“ nennt. Sie geben der Freiheit ein Gegenüber, schaffen Grenzen, an denen sich die eigene Substanz bewähren und bilden kann. Die Resonanzkatastrophe unserer Zeit liegt nicht in zu wenig, sondern in zu viel Wahl.

Die Gesellschaft, die sich grenzenlose Freiheit verordnet hat, verliert den Boden, der echte Freiheit trägt. Wenn wir wieder lernen, auf eine antwortende Welt zu hören und uns mit ihr auseinandersetzen, könnte aus dem Zwang zur Wahl ein Spiel der Möglichkeiten werden, das uns wirklich berührt.

Eine funktionierende Gesellschaft benötigt eine Soziologie der Resonanz. Vielleicht setzt sich ja eine Einsicht durch, die Hartmut Rosa wie folgt fasst: „Daher scheinen mir die überlieferten Religionen, jedenfalls in ihrer jüdisch-christlichen oder auch islamischen Gestalt, zumindest auch – wenn nicht sogar primär – als (möglicherweise unverzichtbare) Gegenpole zur Steigerungs- und Dynamisierungslogik der Moderne zu fungieren.“

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Medien bei Kindern und Jugendlichen: Über 25 % sind gefährdet

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Medien bei Kindern und Jugendlichen: Über 25 % aller zeige eine riskante oder pathologie Verhaltensweisen. (iz). Seit 2019 wird im Auftrage der DAK die Langzeiterhebung „Ohne Ende Online?“ zur Mediennutzung […]

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Ramadan 2023: Studie sieht bei Fasten positiven Effekt auf Schülerleistung

Schülerleistung Ramadan 2923 Fasten

Überraschung bei Schülerleistung: Tägliche Fastenzeiten im Ramadan wirken sich laut einer Studie positiv auf muslimische Jugendliche aus – in Ländern mit muslimischer Mehrheit.

Köln (KNA/iz). Längere tägliche Fastenzeiten im Ramadan wirken sich laut einer Studie im Schnitt positiv auf die Schulleistung muslimischer Jugendlicher aus – zumindest in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. „Schülerinnen und Schüler, die einen intensiven Ramadan erlebt haben, erzielten im folgenden Jahr durchschnittlich bessere Schulleistungen“, erklärte der Kölner Professor für Wirtschaftsgeschichte, Erik Hornung, am Montag.

Foto: Manch. Islam. High School

Mehrjährige Auswertung von Daten zur Schülerleistung

Er und Forschende der Universitäten Konstanz und Bern werteten Daten von Achtklässlern in der internationalen Schulleistungsuntersuchung TIMSS sowie im europäischen PISA-Test über mehrere Jahre aus.

Der Effekt besserer Schulleistungen lasse sich anhand der TIMSS-Daten für Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung feststellen, hieß es. In Ländern mit mehrheitlich nicht-muslimischer Bevölkerung zeige sich der Leistungseffekt nicht. Die Auswirkung des Ramadan hänge unter anderem davon ab, ob die Mehrheit der Jugendlichen im direkten Umfeld ebenfalls fastet.

Muslimische Jugendliche holen bei Tageslänge auf

Das bestätigen laut den Forschenden auch die PISA-Daten aus acht europäischen Ländern: In Jahren mit längerer täglicher Fastendauer holten muslimische Jugendliche auf und reduzierten die Lücke zu anderen Schülern stärker als in Jahren mit geringerer Fastendauer.

Foto: Freepik

Dieser Effekt sei an Schulen mit hohem Anteil muslimischer Schüler größer als an Einrichtungen mit geringem Anteil. „Wir interpretieren das als einen weiteren Hinweis auf eine identitätsstiftende Wirkung des Ramadan, die sich positiv auf die Leistungen auswirkt“, so Hornung.

Berliner Imame helfen Schulen und SchülerInnen mit Leitfaden zum Ramadan

Zu den unnötig kontroversen Themen, die in Deutschland öffentlich ausgehandelt werden, gehört das Fasten im Ramadan. Insbesondere aufgeladen wird es behandelt, geht es um das Verhältnis von Schülerinnen beziehungsweise Schülern, Grundschulen und Eltern in diesem Monat. Seit einigen Jahren entzünden sich hier ohne Not Streitigkeiten, die mit Aufklärung auf allen Seiten und Begegnungen leicht zu lösen wären.

Berlin Sehitlik Moschee Hof Iftar Fastenbrechen

Öffentliches Fastenbrechen auf dem Gelände der Berliner Sehitlik-Moschee. (Foto: Ömer Sefa)

Berliner Imame veröffentlichen Leitfaden

Hierzu hat der Rat Berliner Imame im November 2022 seinen Leitfaden „Ramadan & Grundschule“ veröffentlicht. Mitgetragen wird das Dokument neben den Imamen von fünf weiteren Berliner Einrichtungen und Verbänden. Das Informationsangebot ist auch eine Konsequenz der vergangenen Jahre, als insbesondere die Frage von fastenden Schülerinnen und Schülern zu Reibungen mit Schulen und dem Lehrpersonal kam.

Neben einer allgemeinen Einführung in den Ramadan, seinen Kernelementen sowie der Praxis der Fastenden richten sich einzelne Kapitel an die drei wichtigsten Akteure des Themas: Grundschüler, Eltern und LehrerInnen.

Foto: Freepik.com, Rawpixels.com

Mit der Handreichung werden die Kinder daran erinnert, dass verpflichtende Fasten für sie solange keine Obligation ist, bis sie die Pubertät erreichen. Sie können es machen, werden aber von den Imamen erinnert, dass sie den einen oder anderen Fastentag „nachholen“ können.

Ihre Gesundheit steht an oberster Stelle. Daher sollten sie immer „eine kleine Notration“ mit in die Schule nehmen, falls sie sich nicht wohlfühlen sollten. Grundsätzlich müssten sie verstehen, dass man für Allah und die Beziehung zum Ihm faste. Niemand könne es einem Grundschulkind auferlegen. Insbesondere dürfe Druck von Mitschülern keine Rolle spielen.

Eltern und Lehrer sind gefordert

Für ein harmonisches Erleben des Ramadan sind die Eltern gefordert. Der Leitfaden betont, dass Kinder ein gutes Vorbild brauchten. Sollte es sich zum Fasten entscheiden, brauche es Auswege, wenn es noch nicht so weit ist. Insbesondere müssten sie ihm „Gewissensbisse“ nehmen, wenn es das selbst gesetzte Ziel nicht erreicht. Dabei helfe ein aktiver Kontakt mit dem Lehrpersonal, wie sie das Kind bei den ersten Schritten mit dem Fasten erlebe.

Dieses wird ebenso in „Ramadan & Grundschule“ angesprochen. Als wichtige Bezugspersonen spielt deren Haltung zur Religion und dem Ramadan eine Schlüsselrolle. Verbote und Drohungen würden das Gegenteil eines erwünschten Ergebnisses erreichen. Im schlimmsten Fall könne ein Grundschulkind aus Trotz seine Grenzen überschreiten.

Kontakt: nbs-ev.de

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Reflexionen nach Silvesterkrawallen

Reflexionen Delinquenz Jugendliche Silvester Kultur Sozial

Kriminolog:innen und Soziolog:innen schütteln wahrscheinlich seit Neujahr, so wie Wackeldackel, ununterbrochen den Kopf, wenn sie sich die Berichterstattung zur Silvesternacht in Berlin anschauen. Parallel sprechen manche Politiker- und Journalist:innen seit […]

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Interview: Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf Augenhöhe begegnen

Junge Muslime Zuwanderung Jugendliche Abendland

Berlin (KNA). Cordula Heckmann (64) ist seit mehr als 30 Jahren Lehrerin. Sie leitet die Gemeinschaftsschule Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Dort gelang ihr gemeinsam mit ihrem Team der Wandel von einer bundesweit bekannte Problemschule zu einem Erfolgsmodell. Jetzt hat sie – kurz vor dem Ruhestand – ein Buch geschrieben, in dem sie auf ihre Arbeit zurückblickt und mögliche Wege der Integration aufzeigt. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihr am Dienstag über fehlenden Wagemut an deutschen Schulen – und was man besser machen kann. Von Nina Schmedding

Frage: Frau Heckmann, Sie kritisieren in Ihrem Buch „die Untertanenmentalität“ an deutschen Schulen. Was meinen Sie damit?

Cordula Heckmann: Ich bemerke bei Lehrkräften, Schulleitern oder in der Schulverwaltung oft die Haltung: Besser schlechte Schule als falsche Schule. Soll heißen: Womöglich bleiben weniger Kraft und Zeit für den Unterricht oder die Begleitung von Schulen, aber jedes Formular ist korrekt ausgefüllt, um nicht angreifbar zu sein. Die Angst vor der Grenzüberschreitung, dem Fehlverhalten, dem Scheitern ist groß. Schade, denn das hemmt.

Frage: Hemmt was?

Cordula Heckmann: Dass man mutig voran geht. Das Regelwerk im Schulsystem ist zwar gut, aber man muss auch die Möglichkeiten sehen, mal nach rechts und links zu schauen. Meiner Meinung nach muss man gerade im Bereich der Bildung immer wieder Wagnisse eingehen.

Frage: Der Campus Rütli hat eine Reihe ungewöhnlicher Kurse: Arabisch, ein Kurs Glaube und Zweifel – sind das solche Wagnisse? Warum bieten Sie so etwas an?

Cordula Heckmann: Kinder mit Zuwanderungsgeschichte leben in zwei verschiedenen Welten: Auf der einen Seite die Herkunftsfamilie, die eventuell auch von Flucht geprägt ist, und auf der anderen die Mehrheitsgesellschaft. Mir ist es wichtig, dass es in der Schule zu einem Dialog von beiden Welten kommt – einem Dialog auf Augenhöhe, in einer vertrauensvollen Umgebung. In den schulischen Lehrplänen wird die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten zu wenig berücksichtigt, und es bleibt den einzelnen Schulen überlassen, ob sie solche Angebote schaffen.

Im Kern geht darum, die beiden Milieus gewinnbringend zueinander zu bringen. Integrationsarbeit ist ein Kontinuum und sollte deshalb nicht erst stattfinden, wenn es einen Skandal gibt. Deshalb sind diese Kurse, die entweder freiwillig und zusätzlich oder wählbar – aber dann verpflichtend – sind, wichtig: Wir wollen den jungen Menschen das Gefühl geben, dass sie dazu gehören und auch, dass ihre Sichtweise wahrgenommen wird – um sie für die Möglichkeiten, die die Gesellschaft als Chance für sie bereithält, zu öffnen.

Frage: Arabisch in der Schule – sollten die Kinder nicht lernen, Deutsch zu sprechen?

Cordula Heckmann: Natürlich ist und bleibt die Bildungssprache Deutsch. Es handelt sich um zusätzlichen, freiwilligen muttersprachlichen Unterricht. Die Forschung geht davon aus, dass eine Zielsprache besser gelernt wird, wenn die Familiensprache gut beherrscht wird. Aber natürlich ist es auch eine Geste an die Kinder und Jugendlichen, dass sie sich wiederfinden in unserem Angebot.

Frage: Immer wieder gibt es an Schulen Vorfälle religiöser Diskriminierung – gerade in Problembezirken wie Neukölln. Schülerinnen, die von anderen unter Druck gesetzt werden, ein Kopftuch zu tragen, oder Kinder, die zum islamischen Fasten aufgefordert werden. Wie gehen Sie damit um?

Cordula Heckmann: Um all das wissen wir. Darum haben wir etwa den Kurs Glauben und Zweifel eingerichtet. Wir brauchen einen konstruktiven Dialog, der schwierige Themen anspricht und Werte wie die Religionsfreiheit ausdrücklich einschließt. Wir haben erfahren, dass wir so die Jugendlichen gewinnen können. Leider nie alle. Dann muss auch mit Sanktionen gearbeitet werden, aber erfolgreicher erscheint uns ein Erkenntnisprozess. Das ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt essenziell. Und wir brauchen die jungen Leute auch auf dem Arbeitsmarkt.

Frage: Die Rütli-Schule wurde 2006 durch einen Brandbrief bundesweit bekannt, in dem Lehrkräfte den Berliner Bildungssenator aufforderten, das Gewaltproblem an der Schule zu lösen. Danach wurde die Schule völlig umgekrempelt, der Campus Rütli entstand, Sie übernahmen die Schulleitung. Wie ist die Situation heute? Gibt es Gewalt an Ihrer Schule?

Cordula Heckmann: Wenn ganz viele pubertierende Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, gibt es natürlich Konflikte. Das war auch in meiner früheren Schule in Dahlem so, in einem eher bürgerlichen Umfeld. Und das ist bei uns so. Wir nehmen Konflikte sehr ernst und bearbeiten das auf vielen verschiedenen Ebenen, im Lehrplan, in Projekten. Wenn allerdings die grundlegende Grenze zur Gewalt überschritten wird, dann holen wir uns auch Akteure wie das Jugendamt und die Polizei an unsere Seite. Unsere Schüler wissen, dass ein solches Verhalten nicht ungesehen und nicht unbeantwortet bleibt. Das trägt zur Befriedung bei.

Frage: Was müsste sich ändern, um Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Startbedingungen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen?

Cordula Heckmann: Was für Schulen in herausfordernden Lagen vor allem wichtig ist, ist Zeit. Meine Kolleginnen und Kollegen müssen sich dem einzelnen Kind widmen. Und da unterscheiden wir uns wesentlich von Schulen, wo sozusagen die Eltern als Nachhilfelehrer eingepreist sind. Um die Begleitung und Unterstützung der Schülerinnen und Schüler dennoch zu gewährleisten, brauchen die Lehrkräfte Zeit, und wir brauchen den Ganztag. Das föderale Schulsystem sollten wir nutzen, um Synergien zu schaffen. Ein wichtiges Thema wäre etwa, wie organisieren wir zusammen mehr Bildungsgerechtigkeit. Leider geht es aber allzu oft um Konkurrenzen zwischen den Ländern.

Und ich bin auch für längeres gemeinsames Lernen an Schulen, um alle Schichten und Milieus zusammenzubringen. Dazu gehört das Lernen im Sozialraum. Das würde ein Stück helfen, den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen unabhängiger von ihrer sozialen Herkunft zu machen.

Frage: Macht die Arbeit an einer Schule in einem Problembezirk unter schwierigen Bedingungen zufriedener – weil die Kinder ihre Lehrkräfte hier mehr brauchen als anderswo?

Cordula Heckmann: Für mich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen ist das so. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, ich bin richtig hier. Ich habe hier die Möglichkeit, Kindern, die es nicht ganz so einfach im Leben haben, ein Angebot zu machen. Und es ist ja auch ein Projekt, das hoffen lässt: Viele Schülerinnen und Schüler von uns haben ihren Weg gemacht.

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Psychologe Kazım Erdoğan: Auf Familien mit Zuwanderungsgeschichte zugehen

Berlin (KNA). Als Konsequenz aus der Gewalteskalation in der Silvesternacht fordert der Berliner Psychologe und Konfliktberater Kazım Erdoğan mehr effektive Familienarbeit für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. „Wir müssen in die Familien hineingehen und dürfen nicht warten, bis die Eltern kommen. Sie kommen nicht. Auch die jungen Leute kommen nicht von allein. Sie sitzen zuhause und spielen an ihrem Handy“, sagte Erdogan am Donnerstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin.

Der 69-Jährige, der mit 21 aus der Türkei nach Deutschland einwanderte, gründete 2007 in Berlin-Neukölln die bundesweit erste Selbsthilfegruppe für muslimische Männer in Konfliktsituationen. Dabei ist auch Gewalt immer wieder Thema.

„Ich will die Vorfälle der Silvesternacht nicht verharmlosen. Sie sind absolut untragbar. Ich glaube aber, dass härtere Strafen oder ein Böllerverbot allein nicht reichen werden“, so Erdogan.

Der Soziologe plädierte für die Einrichtung von „Dialogtischen“ mit allen gesellschaftlichen Kräften, etwa aus der Justiz, der Polizei, aus Bildungseinrichtungen und auch seitens migrantischer Familien. „Jede Maßnahme, die man ohne die Familien macht, wird scheitern“, sagte Erdogan. Zu einer effektiven Prävention gehöre für ihn zudem auch, die Väterarbeit zu stärken. „Es gibt viel zu wenig Beratungsangebote für Männer und Väter mit Zuwanderungsgeschichte.“

Weiter wies er auf die Frustration hin, die bei der dritten und vierten Generation von Einwanderern mitunter existiere. Viele hätten „keinerlei Zukunftsperspektive, schlechte Schulabschlüsse, leben von Transferleistungen.“ Hinzu komme, dass ihre „Identität nicht gefestigt“ sei. „Sie wissen nicht, was sie sind: Ganz deutsch sind sie nicht, ganz türkisch oder arabisch sind sie aber auch nicht“, sagte er. Damit müsse man umgehen. Ein Mensch, der nicht wisse, wo er hingehöre, könne zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden.

Erdogan forderte auch von den Moscheen, sich stärker für die Integration und Bildung von jungen Muslimen zu engagieren. „Dazu sind sie nicht immer bereit“, kritisierte er. Er schlug vor, dass Moscheen in ihren Räumlichkeiten außerhalb der Gebetszeiten etwa deutlich mehr Beratung zu sozialen Problemen oder Bildungsarbeit anbieten könnten.

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Was braucht es für lebendige Moscheen?

„Und diese eure Gemeinschaft ist eine einheitliche Gemeinschaft, und Ich bin euer Herr. So fürchtet Mich.“ (Al-Muminun, 52) „Du wirst die Gläubigen sehen, wie sie barmherzig miteinander und einander in […]

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Alltag der Muslime: Wie mit dem Thema Sexualität umgehen?

„Die heutige Dominanz des Sexuellen in der Gesellschaft beschäftigt dabei nicht nur Muslime. (…) Das Thema ruft nach echter Streitkultur. Gerade in der Debatte um Sexualität von Jugendlichen, Benutzung von […]

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Wie gehen junge Syrer in Deutschland mit dem Krieg um?

(iz). Wenn sich Medien mit dem Syrienkonflikt befassen, ist dies meist eine Schlammschlacht politischer Überzeugungen oder eine kalte Darlegung von Daten und Fakten, weswegen ich mich hier nun mit etwas […]

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Ein Debattenbeitrag von Wolf D. Ahmed Aries zur öffentlichen Bewertung der aktuellen Studie über muslimische Jugendliche

Hannover (iz). Wer den Blog von Serdar Günes aufruft, entdeckt eine Seite, auf der die wohl meisten – wenn nicht fast alle – Untersuchungen zu Fragen des Islam in diesem Land aufgeführt sind. So wurden „die“ Muslime in ihren unterschiedlichsten gesellschaftlichen Vorkommen analysiert (um nicht seziert zu schreiben).

Es sind in den zurückliegenden zwei Jahrzehn­ten 197, das heißt in der Zeit von 1994 bis 2012, Befragungen von Muslimen rund 200 Mal durchgeführt; wer sie denn seien, was sie tun, denken oder was sie über ein gegebenes Thema denken. Die veröffentlichten Berichte umfassten nicht nur eine überschaubare Anzahl von Seiten, sondern waren teilweise hoch differenzierte Arbeitsberichte von mehreren hundert Seiten.

Man befragt Muslime, aber redet nicht mit ihnen. Die Muslime reagieren ihrerseits mit Stellungnahmen, in denen Missverständnisse in den Untersuchungen, die Fehlinterpre­tationen ihres Glaubens und christlichen beziehungsweise säkularen Unterstellungen aufgegriffen werden. Leider fehlt den muslimischen Verbänden bisher das Geld, um ­eigene Feldforschung dagegen zu setzen; zugleich machte sich eine soziale Aufsteigerproblematik der ersten und zweiten Genration bemerkbar: Man hatte nämlich nur jene Fächer studiert, von denen man hoffen konnte, möglichst rasch (viel) Geld zu verdienen: ­Medizin, Jura, Ingenieurwissenschaften u.a.m.

Die Diskurse zur Integration beziehungsweise zum Islam wurden und werden aber in Sozial­wissenschaften geführt. Sie stellen ihren ­Methodenapparat zur Verfügung, das heißt ­Fragebogen, strukturierte und nicht strukturierte Interviewformen, statistische Metho­den, Verhaltensbeobachtungen u.a.m.

Politiker, Journalisten und andere Laien übersetzen die Ergebnisse anschließend, sodass Schlagzeilen entstehen, mit denen man hausieren kann. Die Wissenschaftler ­protestieren dagegen, aber was kümmert es jene, die ihre politischen Botschaften schon unter die ­Leute gebracht haben.

Dies der Fall in der neuesten Studie zu den „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“. Zwar warnten ihre Autoren davor, dass „diese und die folgenden Prozentangaben keinesfalls weder auf alle in Deutschland leben­den Muslime im Allgemeinen, noch auf alle in Deutschland lebenden jungen Muslime im Alter von 14 bis 32 Jahren hochgerechnet werden dürfen“, doch welcher Journalist oder Politiker kümmert sich um solche wissenschaftlichen Bedenken. Sie gebrauchen das, was ihnen dient. Man könnte auch sagen, dass sie die Wissenschaft missbrauchen, um mit ihrem Renommee Tagespolitik zu betreiben.

Hinzu kommt, dass Laien zuerst und häufig nur die Zusammenfassungen lesen und nicht die Untersuchungen selbst, weil sie deren Fachbegriffe ebenso wenig verstehen wie die Statistiken, mit denen die Forscher ihre Ergebnisse erarbeiten. Das gilt auch für Annah­men, auf denen Untersuchungen beruhen. Darauf hat vor allem Naika Foroutan (FU Berlin) aufmerksam gemacht.

Sie belegen, dass entgegen der bisherigen Kriterien der Struktur (Bildung, Arbeitsmarkt), soziale Integration (Freundschaft, Vereine) und kulturelle Aspekte wie Sprache in ­dieser Untersuchung zum (ersten Mal) der Schwerpunkt auf Gefühlen liegt. Allerdings erfasst man sie nur mit wenigen Fragen, unter ­denen es unter anderem um den Kontakt mit Muslimen und Deutschen ging. Das heißt, man vergleicht die Nationalität der einen mit der Religion der anderen. Für einen säkularen Staat ist dies eine erstaunliche Mixtur.

Dazu wurden vor allem Schüler ­angesprochen und nicht muslimische Wehrpflichtige, Polizisten, Universitätsdozenten oder Beamtenan­wärter beispielsweise im Auswärtigen Dienst. Ihre wachsende Zahl bestätigt die ­Ergebnisse anderer Befragungen, die von einer zunehmenden Integration sprechen.

Und so kann man Dr. Foroutan nur zustimmen, wenn sie den Verdacht äußert, es ginge den Auftraggebern im Bundesinnenministerium darum, die bisherigen Integrationsfortschritte durch eine neue Spiraldrehung – von den ­Sachfragen zu den Gefühlen – zu forcieren, in dem man die Messlatte weiter nach oben legt. Dieser Gestus erinnert an die Integration der Huge­notten beziehungsweise der Flüchtlinge nach 1945.

Leider gibt es eine weitere und zu meist übersehene Entwicklung. Die Populismusforschung zeigt, dass sich die religiöse Minderheit der Muslime ähnlich verhält wie die Gesamtbevölkerung. Auch hier gibt es extreme Positionen. Während sich das eine Extrem verharmlosen lässt, kann man das andere gebrauchen oder missbrauchen. So wird es Zeit, dass die Verbände ­anfangen, ihre Hausaufgaben zu machen, indem sie selber Forschungskapazitäten aufbauen, um eigenes vorzulegen. Wer in einer Mehrheitsgesellschaft ankommen will, darf sich nicht auf öffentliche Symbole wie dem Moscheebau beschränken, sondern muss sich aktiv am gesellschaftlichen Diskurs mit eigenen Beiträ­gen beteiligen.

Es ist die Frage, ob sich diese Situation mit der Entwicklung in den neuen Islamzentren verändert. Der Vergleich in Sache ­Integration mit der Heidelberger jüdischen Hochschule macht bewusst, wie lange so etwas dauert. Aber haben wir Muslime so viel Zeit, um nicht zu einem neuen Woyzeck zu werden? Allein Allah ta’ala weiß es.