
Absicht dieses Textes ist ein Gedankenanstoß zur gegenwärtigen Familie und der Verdrehung ihrer Mechanik. Der britische Schriftsteller D.H. Lawrence bietet in seinen Arbeiten Einblicke hierzu. Er untersuchte die systemische Pervertierung aller Arten von Beziehungen – von der zum Selbst bis zu der mit der Natur. Von Khadija Carberry
(MFAS). Die idealistische Weltanschauung lähmt uns. Nachdem ich „Liebende Frauen“ gelesen hatte, entschied ich, meine Impulse zu hinterfragen (insofern das möglich ist). Ziel war es, sie auszureißen, und übrigzulassen, was spontan, rein und frei war.
Ich hatte unbeantwortete Fragen zu allen Beziehungen um mich. Unter ihnen gab es zwei spezifische, die mich verwirrten und frustrierten. Ich verstand nicht, warum so viele davon scheiterten. Die erste unter ihnen war die zwischen Ehemann und -frau. Wieso sah ich in meiner Umwelt abstrakte und seelenverzehrende Einheit, zu denen Kinder hinzukamen.
Ihrerseits wurden diese von Vakuen der Leere verzehrt, die mit Konsumismus und materialistischen Wünschen gefüllt sind, damit sie den Anschein von Bedeutungen erweckten. Ich kam zu dem Schluss, dass das technische System die Essenz der Familie zerstört, sodass sie keine heroischen Menschen mehr hervorbringt. Heroisch ist hier im Sinne von Leuten gemeint, die aufgrund ihres tiefen Selbstbewusstseins und ihrer Verbundenheit mit ihrem Schöpfer und dem Universum in der Lage sind, ihre höchste Bestimmung zu erfüllen. Damit würden sie ein Gefühl der Verantwortung an den Tag legen und sie Sachwalter auf Erden begreifen.
Lawrence schrieb: „Menschen sind frei, wenn sie einer tiefen, inneren Stimme des religiösen Glaubens gehorchen. Von innen heraus gehorchen. Der Mensch ist frei, wenn er zu einer lebendigen, organischen, gläubigen Gemeinschaft gehört, die aktiv an der Erfüllung eines unerfüllten, vielleicht unerreichten Ziels arbeitet.“ Wollen wir als Muslime verstehen, was Lawrence meinte, müssen wir nur darauf schauen, wie die Sahaba (möge Allah mit ihnen zufrieden sein) lebten. Sie waren in einem Zweck vereint: Allahs Din zu verbreiten und dem Schöpfer aus tiefen, ehrlichen Impulsen heraus zu gehorchen.
Was Lawrence sah, war, dass zwei Leute, die eine Einheit als gesunde Personen eingingen, in der Lage sind, sich voneinander abzugrenzen, aber in sich selbst ganz bleiben. Wenn solche Leute einen Bund eingehen, dann ist das eine wahre Ehe und keine Fesselung.
Eine weitere Art der Beziehung verwirrte mich: die zwischen Mutter und Sohn. Ich erinnere mich, eine Mutter zu beobachten, die wiederholt das Gesicht ihres jungen Sohnes zu sich drehte, und ihn zwang, ihr in die Augen zu schauen. Jedes Mal, wenn er sich umsah, um eine Verbindung mit den anderen Frauen einzugehen, sagte sie ihm: „Du gehörst mir! Du liebst nur mich!“ Das verstörte mich erheblich und erschien in dem Moment als unerklärlich. Das führte mich zur ersten profunden Schätzung von Lawrence. Die ganze Zeit versuchte ich, seinem autobiografischen Roman „Söhne und Liebhaber“ Sinn zu geben. Darin untersucht er die eigene Beziehung zur Mutter. Danach begriff ich, dass die Frau, die er in „Liebende Frauen“ als „gebrochene Hälfte eines Paares“ nie erfüllt sein kann und niemals ihr volles Potenzial als Gattin, Mutter oder Frau erfüllt. Also wendet sie sich dem Sohn zu und sucht ihre Ganzheit und Erfüllung in ihm. Er wird zum emotionalen Ersatz des Ehemanns. Dadurch wird der Sohn verdorben und ist nicht mehr in der Lage, über das Stadium vor der Geburt und dem Stillen hinauszugehen, in dem die Mutter das Universum darstellt.
Lawrence’ Meisterromane „Der Regenbogen“ und „Liebende Frauen“ sind eine umfassende Untersuchung, wie viele Beziehungsformen durch dieses zugrundeliegende Unbehagen verdorben und bedeutungslos gemacht werden. Wichtig dabei sind die beiden Schlüsselbegriffe Differenzierung und Einheitlichkeit. Abu Bakr Carberry beschreibt Unität so: „Das Kind beginnt als Einheit mit seiner Mutter und erfährt Existenz als solche. Sie bezieht sich als Tendenz, nach Einheit zu suchen. Das drückt sich üblicherweise als Neigung aus, das Ganze wissen zu wollen. Oder wir könnten sagen, ein Ding vollkommen ohne Differenzierung in Teile zu kennen.“ Differentiation bedeutet für Ihn Folgendes: „Das Kind beginnt sich nach und nach von der Mutter abzugrenzen, bis es seine Existenz als eigenständiges Wesen erfahren kann. Dies bezieht sich auf die Tendenz, einen einzigartigen Ausdruck zu suchen und sich abzugrenzen.“
D.H. Lawrence verstand, dass kindliche Entwicklung den gesellschaftlichen Idealismus ausdrückt, während es Beziehungen zu anderen im Laufe seines Lebens knüpft. Er war der festen Überzeugung, dass sich das nach dem Tod fortsetzt – durch die Weitergabe von Verhaltensweisen, die sich auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Dem geht er in „Söhne und Liebhaber“ nach. Er sah, dass das Kind ohne Einbindung der Mutter eine Beziehung zur Welt eingehen muss, was ihm eigenständige Ausprägung erlaubt.
Es braucht Unität mit ihr, wenn es sich in der Gebärmutter befindet. Aber sobald es diese verlässt, muss Einheitlichkeit schrittweise in die Domäne der Differenzierung eintreten. Das Kind wird von der Mutter genährt, ist aber nicht länger Teil von ihr. Es ist anders als sie. Diese Andersartigkeit nimmt zu, während es immer weniger abhängig ist. Ihre Liebe zum Kind muss das reflektieren. Ihm muss die Bildung einer Beziehung zu seiner Welt und seinem Schöpfer erlaubt werden. Andernfalls wird es sein Leben damit verbringen, sie in jeder zukünftigen Verbindung suchen.
Ich habe festgestellt, dass Kinder, die in einer Weise an ihre Mutter gebunden sind, die sie hindert, ihre Welt zu erforschen, Angst vor dem haben, was außer ihr liegt. Und ich habe beobachtet, dass jene Kinder, deren Mütter furchtlose Entdeckung erlauben, Selbstsicherheit besitzen, die zeigt, dass sie die Schöpfung nicht fürchten. Denn sie wissen, dass sie eins mit dieser sind.
Wird dem Kind die Differentiation erlaubt, wächst es zu einem Erwachsenen heran, der seinen essenziellen Zweck erfüllt. Dieser besteht nicht nur im Lieben, geliebt werden und Glücklichsein. Dies sind so unbedeutende Zustände angesichts des wahren Ziels des Menschen. Es ist, den Weg der Gotteserkenntnis einzuschlagen, um zu begreifen, dass seine Existenz der Anbetung seines Schöpfers dient. Wenn es seinen Zweck erkennt, muss dieser erfüllt werden. Nur dann kann eine Person sinnvolle Bindungen eingehen.
Viel von der heutigen Tragödie ist eine Ausprägung des Idealismus. Dieser stellt im Wesentlichen eine Ersetzung des Göttlichen ins Zentrum der Schöpfung durch den Menschen dar. Er ist die Leugnung, dass Allah als Schöpfer Macht über alle Dinge hat und dass wir nur Ihm Antwort schulden. Hier ist der Mensch nur sich rechenschaftspflichtig. Also glaubt er, dass er Kontrolle über alles hat, obwohl er das offenkundig nicht tut. Durch seine geschichtliche Entfaltung wird er hingegen entmenschlicht und der Fitra entrissen. Er wird zu einer Kreatur, die nur Ethik, Moral und anderen menschengemachten Gesetzen Antwort schuldet, während sie Ressourcen ausbeutet und verschwendet.
Gehen wir kurz zu Lawrences Zitat zurück: „Menschen sind frei, wenn sie einer tiefen, inneren Stimme des religiösen Glaubens gehorchen. Von innen heraus gehorchen. Der Mensch ist frei, wenn er zu einer lebendigen, organischen, gläubigen Gemeinschaft gehört, die aktiv an der Erfüllung eines unerfüllten, vielleicht unerreichten Ziels arbeitet.“ Die Ersetzung des Göttlichen als Zentrum der Schöpfung durch den Menschen zu einem energetisch unausgeglichenem Wesen führt dazu, dass nicht länger einer lebendigen, organischen und gläubigen Gemeinschaft angehören kann. „Der Mensch kann nicht lange ohne Glauben leben“, schrieb Lawrence.
Was ist gesunde Liebe in der kindlichen Entwicklung? Dabei muss ich an unsere alte jamaikanische Nachbarin Miss Avis denken, die zu sagen pflegte, wenn ich mich über meine Eltern beklagte: „Mädchen, da draußen gibt es Eltern, die immer sagen, dass sie ihr Kinder lieben. Aber sie stellen nicht sicher, dass sie die Besten in dem sind, was sie sein können. Willst Du diese Art Liebe? Eine, die nicht echt ist?“ Das führt mich zu Lawrence zurück: „Ein Baum wächst gerade, wenn er tiefe Wurzeln hat und nicht zu sehr unterdrückt wird. Die Liebe ist eine spontane Sache, die aus einer tüchtigen Seele kommt. Als absichtliches Prinzip ist sie ein unermessliches Übel.“
Ich würde gerne auf die Etymologie des lateinischen Wortes „educere“ (Erziehung) schauen. Es besteht aus „e“ (aus) und „ducere“ (ziehen). Es enthält einen Sinn des Führens von etwas Bestehendem. Deshalb muss sie es dem Kind ermöglichen, zu finden, auszudrücken und zu entfalten, was in ihm steckt. In „Harte Zeiten“, einem satirischen Roman von Charles Dickens, findet sich die Stelle: „Man kann den Verstand vernünftig denkender Tiere nur auf der Grundlage von Tatsachen formen: Nichts anderes wird ihnen jemals von Nutzen sein.“ Er ist eine Erkundung darüber, wie ein Kind sich selbst entfremdet wird. Sie abstrahieren, was im Inneren ist, denn moderne Erziehung projiziert, dass es leer ist und nur potenziell existiert. Der „allmächtige“ Bildungsprozess gewährt ihm ein Selbst und macht es zu jemanden. Das ist die Annahme, dass zuvor ein Niemand bestanden hat. So kann dieser missgebildete Jemand seinen gesellschaftlichen Platz als Rädchen im Getriebe einnehmen.
Unsere Art des Funktionierens ist in einem Sinne sehr autistisch, weil sie abstrakt von der Realität geschieht. Vieles, was passiert, ist, dass wir etwas vor uns haben, das die Realität verdeckt, sei es der Fernseher, der Computer, die Mutter… Energetisch sind wir nicht in der Lage, über unsere Erfahrung des Getrenntseins hinauszugehen. Wenn wir uns mit Bildschirmen austauschen, brauchen wir kein Gleichgewicht. Und müssen nichts von uns preisgeben, denn das eigentliche Selbst ist unzugänglich. Ayn Rands Objektivismus ist, trotz seiner extremen Form, ein perfektes Beispiel der autistischen und egozentrischen Natur unserer Gesellschaft. Was widerfährt der kommunikationsgestörten Familie? Wie einer ebensolchen Umgebung fehlt ihr ein echter Sinn für Gemeinsamkeit, obwohl sie eine idealistische Liebe ausdrückt, welche die Familienmitglieder eher erstickt als fördert.
Alles dreht sich um die Absicht, wenn wir frei sein wollen und lebendigen, organischen und gläubigen Gemeinschaften angehören möchten, wird Allah uns belohnen und Solidarität in unsere Herzen legen. Das ist Heilung in einer Zeit, in der das Miteinander der Leute selbst ein Kampf ist. Das ist nichtidealistische Liebe und Barmherzigkeit. Sie geht über das Individuum hinaus, heilt und gleicht aus. Es ist kein intellektuelles Ideal, wird gelebt und überwindet die Beschränkungen der engen Kleinfamilie.